Deutsche Schlüpfer für Pakistan

Warum der Markt für Altkleider gerade zusammenbricht. von oliver numrich

Altkleidersammler werden so misstrauisch ­beäugt wie ansonsten nur Immobilienmakler oder Hütchenspieler. Die ganze Branche leidet unter einem anrüchigen Image. Zurzeit fragen sich engagierte JournalistInnen, ob deutsche Altkleider nicht Arbeitsplätze in der dritten Welt vernichten. Als ob das nicht genug wäre, stecken die Pioniere des weltweiten Handels zudem in einer schweren strukturellen Krise: Die Qualität der Textilien wird immer schlech­ter, so dass sich die gesammelte Ware kaum noch weiterverkaufen lässt. Unser Autor hat u.a. einen Altkleiderverwerter in Brandenburg besucht.

Horst Lammert winkt mich durchs Fenster in sein Büro. Der 61jährige trägt eine Schiebermütze und eine abgesteppte Reiterweste mit einem Ferrari-Emblem. Er ist hier der Chef. Seine »Gesellschaft für Rohstoff-Aufwertung mit beschränkter Haftung« (GRA) sortiert seit über 25 Jahren Alttextilien und verkauft sie weiter. Nach der Wende hat er seinen Betrieb von Kreuzberg nach Grödisch im Spreewald verlegt, in eine leer stehende LPG. Sein Büro ist verkramt, es wird viel geraucht. »Die Weste kommt auch aus dem Container«, sagt er und freut sich. »Die schönsten Stücke fischen die Damen für mich raus.«

Auch alles, was mit Reiterei und Pferden zu tun hat, wandert ins Büro des Pferdenarren: Reiterkappen liegen auf der Heizung – alles falsche Größen – und ein Stoffbeutel mit einem aufgedruckten Pferdemotiv hängt am Stuhl. Eine Zeit lang habe er auch Plaids gesammelt, aber damit sei es vorbei. Man merkt, dass Lam­mert ein Schatzsucher ist. Kein Hardcore-Mes­sie, aber einer, der gerne Dinge findet und aufhebt. Was er schon alles in den Kleidersäcken gefunden habe, will ich als erstes wissen. »Ach herrje«, stöhnt er mit großer Geste, »was durch die Klappe am Container passt.«

Das klingt viel versprechend. Doch jetzt steckt ein Lkw-Fahrer, der gerade aus Italien gekommen ist, den Kopf ins Büro und grüßt mit freundlichen Brocken Deutsch. Lammert hat selbst zwei Lastwagen, die seine Waren in Süd- und Westeuropa verteilen. Gleich­zeitig mit dem Italiener hat sich ein frecher Hund ins Zimmer geschlichen und springt um meine Beine. Vor 30 Jahren, erzählt Lammert gemütlich bei Kaffee und Zigarette, habe er auf dem Trödelmarkt angefangen. Das habe noch viel Spaß gemacht damals, schwärmt er. Dann betrieb er in Berlin zwei Second-Hand-Shops: einen gegenüber der Nationalgalerie und einen in der Sonnenallee, in dem pro Kilo bezahlt wurde. Bis heute verkauft er die besten Stücke aus seinem Sortierbetrieb in einem Second-Hand-Shop in Weimar. Das Haus, in dem sich das dortige Ladengeschäft befindet, gehört ihm mittlerweile. Es ist sein Geburtshaus. »Ich führ’ Sie mal rum«, sagt er dann, bevor ich mehr über all die Dinge erfahre, die er schon gefunden hat.

Fürs Sortieren braucht man erstens ein System und zweitens viel Platz. Hier in den ehemaligen Scheunen, Stäl­len und Lagerräumen gibt es mehr als genug Platz. Gearbeitet wird auf zwei Ebenen in der alten Kartoffelsortieranlage. Nebenan presst eine moderne Maschine Stoffe zu unhandlichen Ballen, dahinter – das war eine Scheune oder die Garage für den Fuhrpark – ist jetzt das Zwischenlager für Tausen­de bunter Matratzen, Decken und Stoff­ballen.

Lammert steigt mit mir zum oberen Stock­werk der Kartoffelanlage. In grellkaltem Neon­licht stehen Sortiererinnen in einer Landschaft von Bergen aus Mänteln und Mützen, Haufen von Socken und Schürzen, Türmen aus Plastiktonnen und Paletten. Es müffelt wie in einem lange nicht belüfteten Kleiderschrank.

Trotzdem ist es recht kühl, und das hat einen einfachen Grund: »Wenn ich die Heizung etwas runterdrossel’, dann arbeiten sie schneller«, steckt mir der Hausherr in verschwörerischem Ton. Völlig arglos ob der Vorurteile gegen sein Gewerbe, führt er mich in alle Winkel seines Recycling-Reichs. Er erinnert mich an den Trigema-Chef aus der Fernsehwerbung, wenn der durch die Reihen seiner Näherinnen schreitet: »Wir produzieren ausschließlich in Deutschland ...«

Im ersten Sortiergang werden 70 Arten von Bekleidungsstücken unterschieden: Ho­sen, Mäntel, Jacken, Unterwäsche, Schuhe, Gürtel, Unbrauchbares und so weiter. Im nächsten Schritt wird feiner und nach Qualität unterschieden; 200 verschiedene Tonnen und Paletten stehen dafür bereit. Dabei wird auch überprüft, ob alle Knöpfe an der Jeans sind, der Reißverschluss am Abendkleid funktioniert und ob Fettflecken sichtbar sind. Reparatur oder Reinigung sind nicht drin. Alles zu waschen und zu trocknen, wäre mit zusätzlichen Kosten von 40 Cent pro Kilo viel zu teuer.

Auf eine Mitarbeiterin ist Lammert besonders gut zu sprechen: »Die hat einfach einen Sinn für Hübsches, denn das kann man nicht lernen. Die weiß, was ein bisschen schick ist und modern.« Ihr gutes Gespür für modische Artikel sei so ausgeprägt, dass einzelne Second-Hand-Läden nur noch die Ballen kaufen wollen, die sie sortiert hat. Denn das modische Know-how der angelernten Sortiererinnen ist von größter Bedeutung. Sie entscheiden, was in die Shops kommt und was zu Putzlappen für die Autoindustrie zerrissen wird oder gar zu Fasern aufgeweicht und zu neuen Stoffen oder Papier verarbeitet. So manche Rarität kann da schon mal durchrutschen und zersäbelt werden.

»Ihr solltet alle einmal die Woche zum Ku’damm fahren und euch die Mode in den Schaufenstern angucken«, empfiehlt Lammert den angelernten brandenburgischen Damen, »damit ihr wisst, was in ist.« Dabei vollzieht sich die modische Entwicklung beim Alttextil naturgemäß zehn bis 20 Jahre verspätet. Oft finden sich auch noch ältere Klamot­ten in den Ladungen, mitunter original verpackte Stofftaschentücher aus den Sechzigern oder Strumpfhosen aus den Siebzigern, auf denen wollüstige Blondinen abgebildet sind.

Weil die GRA auch regelmäßig vom Deutschen Roten Kreuz in Frankfurt/Oder beliefert wird, stecken viele DDR-typische Artikel in den Säcken: ärmellose Haushaltskittel burschikoser So­zialistinnen, Einkaufsbeutel in allen Braun- und Grautönen aus Dederon, Vollplastiktischdecken.

»Nylonstrümp­fe werd’ ich neuerdings nicht mehr los«, stöhnt Lammert und zeigt auf einen Ballen an der Hallenwand, an dessen Seiten bizarr verrenkte Strumpfbeine kleben. Überhaupt wird das Geschäft mit alten Kleidern immer schwieriger. 1999 waren es noch 66 Mit­arbeiter, die in drei Schichten sortiert und verpackt haben, heute sind noch 14 übrig.

»Ein großes Problem für unsere Branche ist die Zusammensetzung der Originalsammel­ware«, erklärt Alexander Gläser, Geschäftsfüh­rer des Fachverbandes Textilrecycling, der rund 70 Mitgliedsunternehmen vertritt. »Origi­nalsammelware« – so heißt unsortierte Altkleidung im Fachjargon, den sich der Jurist an­ge­eignet hat. »Früher, so vor zehn Jahren, waren zwei Drittel des Containerinhalts hochwertige Textilien, die wieder getragen werden konnten, und nur ein Drittel musste recycelt werden«, sagt er, mittlerweile habe sich das Verhältnis umgekehrt. Das Problem sei, dass Recycling kein Geld bringt, sondern im schlimmsten Fall welches kostet.

Aus den Textilfasern werde in aufwändigen Verfahren Dachpappe oder Dämmmaterial für Autos gewonnen. Wer hätte gedacht, dass im Boden, in den Türen und der Hutablage jedes Autos zwölf bis 15 Kilo Altkleider stecken? Sor­tierbetriebe subventionierten bislang »quer« und bezahlten mit den Gewinnen aus dem Ver­kauf der Second-Hand-Kleidung das Recycling. Zum Vorteil der Verbraucher, die so pro Jahr durchschnittlich zwölf Kilo abgelegte Mode bequem und kostenlos entsorgen. Und zum Vorteil der deutschen Kommunen, die durch das segensreiche Wirken der Verwerter jährlich von rund 1,2 Millionen Tonnen Abfall aus alten Kleidern und Haustextilien entlastet würden.

Doch der Anteil der minderwertigen Billigklamotten aus Südost, die kein zweites Mal zu tragen sind und weder in Europa noch sonst­wo auf der Welt als Second-Hand-Ware loszuschlagen sind, werde immer höher. »Ich schätze jetzt mal, dass allein in der Bundesrepublik 20 Prozent der Verwerter in den letzten zwei bis drei Jahren aufgegeben haben«, beschließt der Verbandssprecher unser Telefonat, »das waren alles Mittelständler.«

Auch Horst Lammerts Aufwertungsgesellschaft ist Mitglied im Fachverband. Und auch er kann ein Lied davon singen, wie schwer es geworden ist, deutsche Altkleider zu vermarkten. Gerade konnte er eine Lkw-Ladung kaputter Jeans loswerden. »Jeans sind ganz schwer zu verkaufen«, sagt er, »für heile bekomme ich höchstens 50 Cent das Kilo.« Jetzt hat eine Firma die Baumwoll­hosen übernommen, um die Fasern zur Papierherstellung zu verwenden. Bezahlen muss sie nichts, dafür spart Lammert die Kosten für die Entsorgung. Es soll in Porto bei Florenz – früher Europas Umschlagplatz Nummer eins für gebrauchte Textilien – eine chinesische Firma geben, die aus 4-Pocket-Jeans Handtaschen schneidert. Aber seine Jeans­ladung war gemischt. Keine italienisch-chinesischen Handtaschen also. »Mit Italien machen wir vor allem Tauschgeschäfte«, sagt er mit einem Anflug von Bitterkeit.

Ein Lkw bringt eine frische Charge Altkleider auf den Hof. Die meisten Alttexti­lien erreichen Lammert aus Nord- und Ostdeutschland. Diese Ladung kommt aus Weimar, von einem Familienunternehmen, das jede Woche einmal Sammelware bringt. Vor dem Büro ist Lammerts wichtigstes Arbeitsinstrument, die Anhängerwaage, in den Boden eingelassen. Alle Fahrzeuge, die Textilien bringen, werden vor und nach der Ablieferung gewogen, und die Differenz wird stantepede in bar ausgezahlt. Pro 1,5 Tonnen unsortierte Altkleider frisch aus dem Container gibt es 150 Euro.

Für den Sortierer wird es jetzt interessant, denn jede Lieferung ist eine kleine Wunder­tüte. Was werden die Damen darin finden? ­De­signer­klamotten, halbwegs verwertbare Sachen oder Müll? Manchmal sind Essensreste, Batterien und Weinflaschen, sogar volle Windeln darunter, das kann schnell eine ganze Ladung vernichten.

Besonders freut man sich hier über gut erhaltene Schuhe, Tischdecken, Unterwäsche, Büstenhalter, Gardinen, Federbetten und Nerz­kragen von teuren Mänteln, denn all diese Sachen können gut verkauft werden. Schuhe gehen in die Ukraine, Unterwäsche nach Pakistan, Nerzkragen für 1,75 Euro pro Stück nach Italien, dort werden sie zu neuen Mänteln zusammengesetzt. »Das sind Künstler, die Italiener«, sagt Lammert voll Bewunderung, »alte deutsche Gar­dinen nähen die da an Brautkleider an.«

Auch Geld hat er schon mal gefunden: Einmal 3 000 und einmal 4 000 Mark innerhalb einer Woche. In einer anderen Fuhre war ein alter Zylinder, ein Chapeau Claque, den man zusammenpressen kann. Sogar Dildos und Seemannsbräute fand er schon. Und einmal, er senkt die Stimme, auch einen menschlichen Embryo.

Nur rund zwei Prozent der verwend­baren Alttextilien werden als gebrauch­te Kleidung in Second-Hand-Läden verkauft. Nicht nur in Weimar, auch in Berlin. Zum Beispiel bei »Trau Dich, Verzier Dich« in der Riemannstraße 4 in Kreuzberg. Die Inhaberin Elke Bre­mer mag alte und ausgefallene Sachen: »Ich bin kein Sammler, der Dinge aus bestimmten Jahrzehnten hortet nach dem Motto: Boah, das ist jetzt wunder was wert, weil das jetzt pipapo ist, sondern ich mag einfach das Styling: phantasievoll, typgerecht und wenig uniformiert.« Second-Hand-Klamotten sind ihr zufolge einfach individueller als die Sachen von H&M, die millionenfach in den Filialen hängen.

Dass sich die Qualität der Textilien verschlechtert, ist auch ihr aufgefallen: »Am besten sind noch die Sachen aus den fünfziger Jahren, so qualitätsvolle Stoffe kriegt man heute gar nicht mehr.« Und trotzdem seien gerade die Berliner kaum bereit, für ausgewählte Kleidungsstücke einen angemessenen Preis zu bezahlen. Ihr Hauptgeschäft macht sie deshalb mit Touristen aus Italien, Frankreich und Skandinavien. Die seien so begeistert von den Kleidern und Accessoires, dass ihre Retro-Boutique danach leergekauft sei. Überhaupt sei Second-Hand eine gute Alternative zu Designerlabels: »Man hat was Schönes an, ohne einen Haufen Geld ausgeben zu müssen«, sagt Elke Bremer.

Im Nachbarland Polen findet ge­rade eine Emanzipation in die entgegengesetzte Richtung statt. Dort hat man genug von zweiter Wahl und zweiter Hand. Was Altkleider angeht, bekommt Polen jetzt nur noch erste Qualität. »Die sind gerade von der zweiten in die erste Liga aufgestiegen«, erklärt der Großhändler Lammert, »was anderes läuft da nicht mehr.« Der Rest geht in den Export in die armen Länder in Afrika, Süd­amerika und Osteuropa. In der Regel zu unterschiedlich großen Ballen gepresst. 22,5 Kilo schwere Pakete gehen von Gröditsch nach Chile, dort übernehmen Kleinhändler die verschnürten Ballen mit unbekanntem Inhalt und verkaufen sie in ihrem Dorf. Schwerere Ballen werden an Zwischenhändler in Afrika verkauft. Der gezahlte Preis variiert dabei nach Region und Aufkäufer, und er steigt oder sinkt in starker Abhängigkeit vom Dollarkurs, denn der Alt­textilmarkt ist längst globalisiert.

Und auch darin steckt für die deutschen Verwerter gegenwärtig ein Problem: Die Hauptabnehmerländer Afrikas und des Nahen Ostens ordern im Moment vorrangig amerikanische Second-Hand-Ware, die wegen des niedrigen Dollarkurses deutlich güns­tiger zu haben ist als die abgelegten Textilien der Europäer.

Doch gerade dieser Handel mit den ärmsten Ländern der Welt wird zuweilen kritisiert, weil dadurch die einheimische Textilproduktion geschwächt würde. Befürworter des Han­dels mit Altkleidern wie der Fachverband Textilrecycling oder der Dachverband FairWertung, den Altkleider sammelnde, katholische Organisationen 1994 gründeten, gehen dagegen davon aus, dass Second-Hand-Ware Nischenmärkte für Menschen bedient, die sich keine Neuware leisten können. Zudem würden Arbeitsplätze im Importland beim Zwischen- und Einzelhandel sowie bei der Aufarbeitung geschaf­fen.

In der Studie »Dialogprogramm Ge­braucht­­kleidung in Afrika«, die FairWertung mit Förderung des evangelischen Entwicklungs­dienstes erstellt hat, heißt es: »Immer wieder wiesen afrikanische Partner auch auf die gro­ße Rolle hin, die der Gebrauchtkleiderhandel inzwischen für die Beschäftigung spielt. Gerade Jugendliche und Frauen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt keine ­Chan­ce hätten, finden hier eine Verdienstmöglichkeit.« Die Entwicklungspolitik solle den Gebrauchtkleiderhandel als Teil des informellen Wirtschaftskreislaufes im Rahmen von Entwicklungsstrategien zur Armuts­bekämpfung anerkennen und gerade die Kleinhändler gezielt fördern. Ohnehin stamme das Gros der Neukleidung in vielen Ländern inzwischen aus Asien, nicht aber aus einheimischer Produktion. Für Hilfsorganisationen, deren Namen auf Sammelcontainern prangen, bleibt die Altkleiderfrage dennoch heikel, weil sie etwas tricksen. Weil die Leute, die ihre alten Klamotten loswerden wollen, eben auch noch ein gutes Gefühl bekommen sollen.

Und das geht so: Der Sammler, der die Container an den Straßen aufstellt (wofür er den Kommunen in der Regel eine Gebühr bezahlt), mietet von einer Hilfsorganisation deren Logo und zahlt ihr dafür monatlich eine Entschädigung, die nach Region und Anzahl der Container, Größe der Hilfsorganisation usw. stark variiert. Die Höhe der Entschä­digung beträgt 200 bis 300 Euro. »Die wurde in der letzten Zeit stark gedrückt«, gibt Lammert zu. Trotzdem können die Hilfsorganisationen mit den Einnahmen aus dem Etikettenschwindel mehr anfangen als mit dem Inhalt der Container, denn der Aufwand für das Sortieren, Lagern und Verteilen von Kleidung an Hilfsbedürftige wäre viel zu groß.