Landeier in der Metropole

In Istanbul wurden Fälle von Vogelgrippe entdeckt. Alles unter Kontrolle, sagt die Politik. Die Medien warnen, und die Stadtverwaltung richtet eine Hotline ein. Viele Geflügelhalter sind ratlos und überfordert. von constanze letsch

Es ist Dienstag, der 10. Januar und der erste Tag des Kurban Bayrami, des islamischen Opferfestes. Der erste Feiertag präsentiert sich grau, verregnet und kalt, und überhaupt beginnen die Feiertage dieses Jahr mit einer medialen und po­litischen Katerstimmung: Nachdem die im Oktober 2005 vom Landwirtschaftsminister Mehmet Mehdi Eker bereits für beendet erklärte Vogelgrippenepidemie in der ersten Januarwoche in Dogubeyazit die ersten drei Todesopfer gefordert hatte und in der zweiten Woche des Monats, trotz der Versicherungen des Gesundheitsministers Recep Akdag, dass es keine weiteren Fälle von Infektionen außerhalb des Bezirks Van geben werde, Fälle von Vogelgrippe in Ankara, Istanbul und anderen Bezirken aufgetaucht waren, sank die Festtagsstimmung in der Türkei in den Keller.

Während Premierminister Tayyip Recep Erdogan mahnt, nicht in Panik zu verfallen, daran erinnert, dass man alles unter Kontrolle habe und allen ein frohes Fest wünscht, beschuldigen Medien, Ärzte und Politiker der Opposition die Regierung, nicht die erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung der Epidemie getroffen zu haben und das Problem zu verharmlosen.

Nach den Fällen von infiziertem Geflügel im Osten des Landes waren nun auch in drei Bezirken von Istanbul, in Kücükcekmece, Gaziosmanpasa und Esenler, tote Hühner auf den besonders gefährlichen Vogelgrippevirus H5N1 positiv getestet worden. Gouverneur Muammer Güler stellte die betroffenen Gebiete sofort unter die gesetzlich vorgeschriebenen 21 Tage Quarantäne.

Gaziosmanpasa ist ein belebtes Vier­tel im Westen der 14 Millionen-Metro­pole Istanbul. Die meisten Menschen, die hier wohnen, sind Zuwanderer aus Anatolien, viele von ihnen sind Kurden. Dort treffen wir Mahmut Ercan.

Mahmut führt uns zum »Vogelcafé«, einem Treffpunkt für passionierte Tau­benzüchter. In einer Ecke des karg eingerichteten Lokals stehen Plastiktonnen mit Taubenfutter, in der hinteren Ecke des Raumes hat man einen großen Taubenschlag zusammengezimmert, in dem mehrere Tauben untergebracht sind. Ein verblichenes Poster, auf dem die Taubenarten der Türkei kaum noch zu erkennen sind, hängt an einer Wand. Der Besitzer des Cafés hat keine Angst vor der Vogelgrippe: »Wir impfen unsere Vögel selbst gegen Krankheiten. Vor allem damit ihnen die Federn nicht ausfallen.« Seine Freun­de nicken. »Unsere Tauben sind gesund. Das wird doch alles übertrieben in den Medien. Ich weiß nichts von einer Quarantäne.«

Die nächste Station ist der Tierhändler an der Ecke. Die großen Käfige, die in seinem Schaufenster stehen, sind leer. Federn und Vogelkot liegen darin. Ismet Berber empfängt uns lächelnd in seinem Laden. Ob er Hühner, Enten, Gänse oder Truthähne verkaufe? Er schüttelt den Kopf. »Das ist verboten.« Nach kurzem Zögern lässt er sich von Mahmut jedoch überzeugen, uns seine geheimen Vorräte zu zeigen: In der Garage neben seinem Laden versteckt Ismet mindestens 30 Hühner und einen Hahn. »Das sind meine eigenen. Die lasse ich mir nicht wegnehmen.« Die Frage, ob er wisse, dass Teile von Gaziosmanpasa unter Quarantäne stünden, bejaht er. »Männer von der Bezirksverwaltung waren in den Supermärkten und bei den Lebensmittelhändlern, damit dort keine Landeier oder -hühner mehr verkauft werden. Zu mir ist bis jetzt keiner gekommen.«

Oberhalb von Gazi Mahale liegt ein kleines Viertel von illegal errichteten Gecekondus, in denen hauptsächlich Kurden wohnen. Dort ist auch das Haus von Mahmuts Eltern. Die Nachbarin lässt sich von ihm versichern, dass wir nicht von der Stadtverwaltung sind. Als sie überzeugt ist, öffnet sie die Tür eines kleinen Verschlags, in den sie ihren Hahn und die Henne gesperrt hat. »Damit sie nicht so frieren«, sagt sie. Der Boden des Schuppens ist mit Kalk bestreut. »Sie sind krank«, fügt sie traurig hinzu. »Ich habe es noch nicht über mich bringen können, sie zu töten.« Ihr Mann kommt dazu und nickt. Auf den Hinweis, dass es gefährlich sei, die Tiere selbst umzubringen, antwortet er: »Wir haben auch Angst. Aber wir wissen nicht, was wir tun sollen. Vielleicht stecken wir sie auch in einen Plastiksack und überlassen sie den Hunden.«

Die beiden wissen anscheinend nichts von der Vogelgrippe-Hotline, die die Stadtverwaltung eingerichtet hat. »An wen sollen wir uns denn wenden?« fragt sie. »Von der Stadtverwaltung war noch niemand bei uns.«

Desillusioniert machen wir uns auf den Weg nach Kücükcekmece, im Westen der Stadt. Dort wurde im Slumvier­tel Ziya Gökalp am 6. Januar bei drei toten Hühnern das Vogelgrippevirus H5N1 festgestellt.

Ali Riza Altunel, der stellvertretende Bezirksbürgermeister von Kücükcekmece, fast der einzige Beamte, der über die Feiertage im Dienst ist, sitzt steif lächelnd hinter seinem riesigen Schreibtisch. Der Fernseher läuft. Premierminister Erdogan empfängt seinen japanischen Kollegen. Als die Vogelgrippe angesprochen wird, lächelt er mit festem Blick in die Fernsehkameras: »Wir haben die Situation vollkommen unter Kontrolle.«

Altunel nickt bestätigend. Es werde alles getan, was in ihrer Macht stehe, sagt er. Eine Mannschaft von 35 Spezialisten, davon zehn vom Veterinärsamt, seien seit Beginn der Quarantäne unter­wegs, um sämtliches Geflügel einzusam­meln. Der Chef der Veterinärsabteilung von Kücükcekmece, Kadir Bulut, sei bereit, uns alle unsere Fragen zu beant­worten. Altunel versichert uns, dass wir am Kontrollpunkt von Ziya Gökalp, dem Quarantänegebiet, Gummistiefel, Masken und Schutzanzüge bekämen.

In Kücükcekmece scheint alles nach Plan zu laufen: transparente, effektive und organisierte Arbeit, wie in den offiziellen Pressemitteilungen versprochen. Am nächsten Morgen brechen wir auf, um dem unter Quarantäne stehenden Viertel Ziya Gökalp einen Besuch abzustatten.

Es dauert eine Weile, bis wir das Vier­tel finden. Die von Schlaglöchern zerfressene Hauptstraße, die zum Zentrum des Slums führt, ist weder abgesperrt, noch gibt es einen Kontrollpunkt. Nicht einmal ein Schild kennzeichnet die mit windschiefen Hütten übersäten Hügel von Ziya Gökalp als Quarantänegebiet.

Altunel scheint nicht über die Lage vor Ort informiert zu sein. Also versuchen wir, einen offenen Laden zu finden, der uns zumindest Gummistiefel und Regenmäntel verkauft. Atemschutz­masken und Handschuhe wir glücklicherweise dabei. Wieder können wir die Hauptstraße nach Ziya Gökalp problemlos und ohne jede Kontrolle oder gar Desinfektion unseres Kleinbusses passieren.

Ziya Gökalp ist ein vor zehn Jahren illegal errichtetes Slumviertel, eine Ansammlung von ärmlichen und ärmlichs­ten Behausungen, wie es sie in den Außenbezirken der Metropole Istanbul zahlreich gibt. Es sind die Auffangbecken der in der Hoffnung auf Arbeit und ein wenig mehr Geld nach Istanbul kommenden Migranten aus dem Osten und dem Südosten der Türkei, meistens aus den kurdischen Gebieten.

Auch in Ziya Gökalp sind über 95 Prozent der Einwohner Kurden. Die Tristesse der schiefen Häuserwände und halb zerfallenen Mauern wird durch Graffiti wie »Lang lebe Apo!« auf illustrative Weise aufgelockert. Viele der Häuser versinken halb im Schlamm.

Auf den umliegenden Hügeln, nur wenige hundert Meter vom Quarantänegebiet entfernt, streben moderne Wolkenkratzer und schicke Apartmenthäuser in den Himmel. Spätestens im Juni soll auch die ärmliche Siedlung von Ziya Gökalp, die der dynamischen Bezirksverwaltung von Kücükcekmece seit längerem ein Dorn im Auge ist, den vorstoßenden Baufahrzeugen weichen.

Kadir Bulut, der Altunel zufolge zu einem Interview bereit war, ist noch nicht vor Ort. Dafür eine Gruppe von Männern, die sich um einen Lastwagen drängen, um eine der weißen Plastiksäcke zu bekommen, die für das Geflügel von Ziya Gökalp bestimmt sind. Es ist kalt, und einige der Männer kauen an Broten, andere trinken Tee: Die Spezialisten, die alles Geflügel aus den Gärten und Ställen entfernen sollen, sind Reinigungskräfte des Bezirks Kücükcekmece. Sie tragen auch nicht die weißen Anzüge, die wir aus dem Fernsehen kennen, sondern ihre gewohnte Arbeitskleidung: knall­orange Jacken und Hosen, Wollmützen, Gummistiefel. Die meisten tragen dünne Gesichtsmasken, manche haben sich einfach Schals oder Tücher vor Mund und Nase gebunden. Die Handschuhe, die sie tragen, sind zum Teil verschlissen.

Gegen 9.30 Uhr beginnen sie, jetzt bereits am dritten Tag ihres Arbeitseinsatzes und im kalten Schneeregen etwas unmotiviert, durch die Straßen zu gehen, um Hühner, Enten, Gän­se, Truthähne und Tauben einzusammeln. Eine Traube Kinder begleitet sie, endlich passiert einmal etwas in Ziya Gökalp. Ein Arbeiter fordert ein paar Jungen auf, ihnen zu helfen. Lachend rennen sie los, um das aufgeregte Feder­vieh von Bäumen und Dächern zu pflücken und sie dann in die weißen Plastiksäcke zu stopfen. Dabei tragen sie weder Handschuhe noch Mas­ken. Ein paar andere Kinder stehen neugierig herum und bohren in der Nase. Anscheinend hat man die Spezialmannschaft vor ihrem Ar­beits­einsatz nur unzureichend über An­ste­ckungs­gefahren informiert.

Einer der Männer, der bereit ist, mit uns zu reden, sagt uns, dass er selber auch Angst vor Ansteckung habe. Aber seine Arbeit ist immer noch besser als Arbeitslosigkeit, eine bessere Alternative hat er nicht.

Mit unseren Baustaubmasken und Schutzbrillen kommen wir uns hier, in der Quarantänezone von Kücük­cek­mece, irgendwie lächerlich vor. Lächer­lich und unangenehm privilegiert. Während uns die Kinder neugierig begleiten, beäugt man uns aus den Häusern mit Misstrauen. »Wir haben alle unsere Hühner weggegeben!« ruft uns eine Frau zu. »Hier findet ihr nichts mehr!« Gülzar, ein neunjähriges Mädchen, klärt uns auf: »Viele hier verstecken ihre Hühner vor den Leuten, die kommen um sie einzusammeln. Die haben Angst. Manche werden auch wütend.« Stolz fügt sie hinzu: »Wir haben unsere Hüh­ner schon vor einem Monat gegessen, weil sie krank waren. Aber wenn wir noch Hühner hätten, würden wir sie den Männern von der Stadt geben. Bestimmt.«

Andere Einwohner von Ziya Gökalp erzählen ähnliches: Schon vor Monaten habe es immer wieder kranke und tote Hühner, Gänse und Enten gegeben. Doch niemand wäre auf die Idee gekommen, einen Veterinär oder die Stadtverwaltung anzurufen. Manche hätten die kranken Hühner noch schnell geschlachtet und gegessen, bevor sie gestorben seien.

Wer arm ist, kann nicht wählerisch sein. Was den Leuten hier fehlt, ist Information. Auch hier weiß keiner von einer Hotline. Sie wissen zwar, dass eine gefährliche Krankheit umgeht, doch die Umstände, unter denen man sich mit dem Vogelgrippevirus anstecken kann, kennen sie nicht.

Viele hier können weder lesen noch schreiben, einige, vor allem die Älteren, sprechen nur Kurdisch. Gesundheits-und Landwirtschaftsministerien sind dabei, Flugblätter, Fernsehspots und Broschüren zur Information über die Vogelgrippe herauszubringen. Auf den Hinweis, diese doch auch auf Kur­disch zu veröffentlichen, hat der Gesundheitsminister Recep Akdag erwidert, dass es wohl genug Menschen gebe, die denen, die der türkischen Sprache nicht mächtig wären, die Worte übersetzen könnten.

Das zähe Ringen um die Anerkennung der kurdischen Minderheit ist längst noch nicht ausgestanden. Neben dem starren bürokratischen Staatsapparat, der ein schnelles und effizientes Handeln erschwert und zum Teil verhindert, sind es auch immer noch die nationalistischen Grundsätze und die antikurdischen Ressentiments, die eine Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Behörden behindern, nicht nur im Osten der Türkei, sondern, wie in Ziya Gökalp, auch mitten in Istanbul.

Damit bleiben die Menschen in Vierteln wie Ziya Gökalp sich selbst überlassen. Die Frage, ob außer den Männern, die das Geflügel einsammeln, andere Beamte gekommen wären, um die Leute zu informieren, wird verneint. Eine Frau schimpft: »Nicht einmal ein Schild gibt es! Wir wissen ja nicht, was wir tun dürfen und was nicht! Und warum gibt man uns keine Masken?«

Ein Jugendlicher kommt auf uns zu. »Die haben gerade alle meine Tauben mitgenommen. 50 Stück! Dabei waren die alles, was ich hatte.« Salih Önalp ist traurig, aber auch wütend: »Ich weiß nicht, wie man sich mit der Vogelgrippe ansteckt. Jetzt traue ich mich nicht einmal mehr, die Tür zum Taubenschlag wieder zu schließen. Warum sagt uns hier keiner, was eigentlich passiert und wie wir uns schützen können?«

Auf einem großen, schlammigen und von schmutzigem Gras bewachsenen Platz sind einige Nachzügler noch dabei, ihre Opfertiere, Schafe und eine Kuh, auszunehmen. Eingeweide liegen herum, der abgeschnittene Kopf eines Rindes. In einer Quelle waschen ein paar Frauen Innereien. Quarantäne? Ach ja. Aber erst am Vorabend des ersten Feiertags hat man, den Warnungen zahl­reicher Ärzte und Veterinäre zum Trotz, von Seiten der AKP ja bestätigt, dass zwischen dem Schächten und Schlachten von Tieren und dem Vogelgrippevirus kein Zusammen­hang bestehe. Auf der Wiese, auf der noch bis vor zwei Tagen Hühner, Gänse und Enten im Müll nach etwas Verwertbaren gepickt haben und auf der halb wilde Vögel immer noch zu Hause sind, schneiden Männer mit großen Küchenmessern Fleisch. Nur einige wenige haben behelfsmäßig schwarze Plastikplanen untergelegt. In Ziya Gökalp ist kein öffent­licher von der Stadtverwaltung bereitgestellter Platz für das Opfern der Tiere vorgesehen wie in anderen Teilen von Kücükcekmece.

Ein älterer Mann erzählt, dass alle seine Enten, Hühner und Gänse von den Männern der Stadtverwaltung mitgenommen worden seien. Auf die Frage , ob er davon sein Leben bestritten habe, nickt er und lacht. Mehmet Köksal ist ein Bauer, war es vorher in seinem Herkunftsort in der Nähe von Van und ist es jetzt wieder in Kücükcekmece: »Jetzt bleiben mir nur noch meine Scha­fe und ein paar Kühe. Allah wird uns schon helfen.Was sollen wir denn auch anderes machen, als auf unser Schicksal vertrauen?«

Endlich finden wir den Chef des Veterinärsamtes. Kadir Bulut wirkt gestresst, er hat keine Zeit für ein längeres Gespräch. Er bestätigt uns, was wir bereits wussten: Die Lage sei unter Kon­trolle, und fast das gesamte Geflügel des Viertels sei beseitigt worden. Auf die Frage, warum man den Bewohnern nicht wenigstens für die Zeit der Quarantäne Atemmasken austeilt, will er nicht antworten.

Selim Baldur, Dekan der Fakultät für Mikrobiologie und Virologie sowie Chef des Laboratoriums für Virologie an der Universität Istanbul, ist ein von der WHO anerkannter Fachmann für die Vogelgrippe-Epidemie in der Türkei: Die Tests auf das H5N1-Virus bei den unter Verdacht stehenden Menschen gehen unter anderem durch sein Labor. Er ist besorgt wegen der Unvorsichtigkeit, mit der bei der Beseitigung des Geflügels in den Quarantänegebieten vorgegangen wird.

Auf die Frage, ob man der Regierung Glauben schenken kann, wenn sie sagt, die Epidemie im Griff zu haben, antwor­tet er: »Ich kann bestätigen, dass die Situation im Moment un­ter Kontrolle ist, aber das ist sicher nicht dasVerdienst der Regierung. Wir hatten einfach Glück.«