Die Parallelwelt im Maßstab 1:87

Zwei Modelleisenbahner haben aus ihrem Jungstraum ein mittelständisches Unternehmen gemacht: Die Berliner Miniaturlandschaft Loxx ist ein Paradies für Hobbyschaffner und die vielen Lokomotivführer von morgen. von silke kettelhake

Andrea B.* strahlt: »Dit is’ mir rich­tich jut jelungen.« Behutsam streicht sie mit ihren frisch manikürten French­nailsfingern über den Aquarius und seine Gespielinnen – Format 1:87. Der Neptunbrunnen, eins der Wahrzeichen Ostberlins, ist nicht ihr einziger Stolz. »Manchmal ist Freddy Krueger auf dem Friedhof unterwegs, dann spielen wir hier Gruftie-Partys«, sagt sie und lacht. Die Ber­linerin arbeitet bei Loxx, einer der mit über 600 Quadratmetern größten digitalgesteuerten Modelleisenbahnanlagen. Nach einer Um­schulung zur Screendesignerin ging für die gelernte Grafikerin auf dem Arbeitsmarkt erst mal gar nichts. Bis sie von einem Projekt erfuhr, an dem Stefan und Henrik Göddeke arbeiteten. Die beiden Rechtsanwälte haben sich mit der gigantischen Modelleisenbahnanlage ihren Kindheitstraum in einer Seitenstraße des Ku’damms erfüllt – und den von einem Arbeitsplatz ohne staatliche Förderung für 35 An­gestellte gleich mit. Oben im Büro halten die beiden Anwälte ihre Sprechstunden ab, doch am liebsten legen sie ihre Krawatten ab und begeben sich nach unten ins Kinderzimmer für Erwachsene. Min­destens dreimal täglich nehmen sie den Fahrstuhl zur Anlage, um zu staunen und nach dem rechten zu sehen. Berlin wächst, die Abraumhalden verschwinden, und Loxx breitet sich in den riesigen Kellerräumen in der Meinekestraße 24 immer weiter aus. Motoren rasseln leise, Signal- und Bordlampen leuchten, über den Ostbahnhof geht es zum Ostkreuz, S- und U-Bahnen zischen aneinander vorbei, dampf­speiende Lokomotiven bremsen dezent quietschend, die Sinfonie der Großstadt wird hier nachgespielt. 560 Loks mit 1 150 Waggons sind im Einsatz. Umsteigebahnhöfe, die Morgendämmerung, Berlin! Subventionsgemästete Vergnügungsstätte der Steuerabschreiber, Hauptstadt der DDR, wie haste dir verändert! Die Stadt, ihre Straßen, Plätze, Häu­ser, ausgebreitet wie auf einem riesigen Tablett: Es wimmelt von Menschen, geschäftige kleine Szenen überraschen, ein Nacktfotoshooting im Orion-Schau­fenster, da sind die Minigolfer, hier die akribischen Kleingärtner, da flimmert der Beleuchtungszauber eines Rockkonzerts, eine Bank wird überfallen. So, wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen, der alles sieht, so schweifen die Blicke der Betrachter über lebensechte Szenerien, in alle Gegenden, in alle Bezirke, in alle Milieus: Radrennen, Riesenrad und Kettenkarussell, da wird die Ankunft des US-Präsidenten mit der Airforce One nachgestellt, im Tiergarten rufen berittene Polizisten auf scheuenden Pfer­den die türkischen Griller zur Ordnung, Nacktbadende, Biergärten, Land­schaftsmaler, Spielplätze, Drachenflieger, Bötchenfahrer schippern auf der Spree, ein Zirkus lädt ein, Autos flitzen um die Siegessäule, Staatsbesuch am Reichstag mit Hubschrauber­ein­satz, Wochenmärkte, eine Hausbesetzung samt Kampf zwischen Besetzern und Polizei, Greenpeace-Plakate kleben an einer Wiederaufbereitungsanlage. Im Rhythmus von zwanzig Minuten wird es Tag und Nacht. Der Donner grollt, die Blitze zucken, ein getroffener Baum fällt um. In einer hinteren Ecke des neonbeleuch­teten Universums starten und landen die Flugzeuge auf dem neuen Schönefelder Flug­hafen, hier ist schon längst fertig, was in der Realität nur in kleinen Planungsschritten langsam vorangeht. Die Welt hier ist in Ordnung. Wohin man schaut, wird aufgebaut: Realitätsflucht leicht gemacht, en miniature sieht alles ganz schnuckelig aus. Henrik Göddeke nestelt an seinem Hemd, der Knopf muss noch geöffnet werden, der Mann macht sich locker: »Vorbildliebe, das zeichnet den echten Modelleisenbahner aus. Eins zu eins die Rea­lität nachzubauen, koste es, was es wolle – und egal, wie es aussieht. Die meisten, die hier arbeiten, sind langjährige Hardcore-Eisenbahner, die wollen jeden Quadratzenti­meter präsentiert wissen. Beim echten Modellbauer gibt es keine Freiräume, die stellen sich auf die Hinterbeine.« Als sie im Jahr 2003 begannen, ihre Idee der Öffentlichkeit vorstellten, waren die beiden Brüder überrascht, wie viele Männer aus allen Berufen und Schichten dieses große Hobby haben: die Modelleisenbahn. Stefan Göddeke verbringt viel Zeit in seinem künstlichen Reich. Dass er Anwalt ist, nimmt man ihm nicht unbedingt ab, er ist eher einer, der von Modelleisenbahnermessen schwärmt und vom Gefühl, eins zu sein mit dem Spielzeug für Männer: »Runtergehen in den Keller oder den Hobbyraum, Tür zumachen. Dann wird die Eisenbahn gestartet, man kuckt, wie es läuft, und überlegt, was noch verbessert werden könnte. Das ist ein Parallel­universum.« Viele ihrer Mandanten haben selbst eine Anlage. Doch darüber spricht man nicht, die Modelleisenbahn ist kein Hobby zum Vorzeigen wie Golf oder der elitäre Segelclub, es gilt Geheimhaltungspflicht. »Viele fürchten den Ruf des Sonderbaren. Man geht damit eigentlich nicht hausieren. Für mich war es wie ein Outing«, erzählt Henrik. Immerhin haben sich in jüngster Zeit einige Prominente zu ihrer Leidenschaft bekannt. Rod Stewart gewährte man eine Privataudienz bei Loxx, Kurt Biedenkopf ist begeisterter Modelleisenbahner, Jens Riewa, Hans Meiser und Ludger Volmer bewunderten die Anlage stundenlang. Zu neunzig Prozent, so die Erfahrung der Brüder, ist der Modellbau ein reines Männerhobby. Henrik Göddeke, Vater eines zweijährigen Sohnes, meint, das sei reine Erziehungs­sache, der Junge bekommt den Ball und das Mädchen die Puppe. Traditionell werde die Liebe zur Modelleisenbahn vom Vater an den Sohn weitergegeben. Aber, so die Brüder einhellig, die Frauen entdecken dafür die vielen klei­nen Alltagsszenen: »Frauen wollen gut unterhal­ten werden. Sie lassen lieber die Augen übers Gelände fliegen.« Für die meisten Männer ist ein Besuch bei Loxx die Gelegenheit, sich Anregungen für die eigene Bahn zu holen. Der klas­sische, männliche Besucher hat eine eher unsportliche Figur und trägt ein­e praktische Umhängetasche mit Kamera und Schreibzeug. Er steht und kuckt und kuckt. Seine Aufenthaltsdauer beträgt mindestens zwei­einhalb Stunden. Manche kommen in Reichsbahnuniform, doch die Trillerpfeife muss in der Tasche bleiben. Vielleicht fing alles 1974 an. Mit einem Geschenk. Eine Fleischmann-HO-Anlage mit zwei Zügen auf stolzen zwei mal zwei Metern. »Wir haben auseinandergebaut, bis wir nicht mehr wussten, wie wir sie wieder zusammenkriegen. Fertig sind wir nie geworden.« Die beiden Brüder studierten Jura, gründeten ihre Kanzlei, doch in Bahn­höfen blieben sie oft so lange sehn­suchts­voll vor den Schaukästen der Miniaturbahnen stehen, dass sie den Anschlusszug verpassten. Henrik erzählt: »Als wir die Idee, selbst eine Anlage aufzuziehen, unserer Familie unterbreiteten, tippten sich alle an die Stirn.« Doch die Brüder gründeten mit Hilfe der Familie ein Unternehmen, das ohne Bankkredite auskommt. Henrik meint: »Einem Banker konnten wir schlecht die Idee mit einer rentablen Modelleisenbahnanlage plausibel machen.« Das Vorhaben sah so aus: Die Anlage sollte einen großen zusammenhängenden Komplex bilden, in der Mitte der Alexanderplatz. Acht Monate Aufbauzeit folgten. Zusammen mit 70 Mitarbeitern, von denen die Hälfte blieb, verbauten sie 45 000 Bäume, 50 000 Figuren, 18 000 Lichtquellen, davon 5 900 Laternen, 1 350 Häuser aus drei Tonnen Gips und vier Tonnen Holz, 179 000 Meter Stromleitung, 46 000 Meter Daten- und Video­leitung. 100 Videokameras, 70 Monitore und 35 Computer sind im Einsatz. Gekostet hat die Anlage zweieinhalb Millionen Euro. Im September 2004 nahmen sie den Betrieb auf – und expandieren. Zu Loxx gehört auch ein eigener Shop, hier gibt es die »Digital-Startpackung Schweiz« von Märklin für 299 Euro. Bäumchen kosten zwischen acht und 40 Euro. Ein teurer Spaß. Stefan und Henrik Göddeke kennen kein Limit, sie bauen nach Lust und Laune, doch so mancher Hobbybastler gerät schnell an seine finanziellen Grenzen. Anfangs hatten die beiden Brüder, die aus Nordrhein-Westfalen stammen, so ihre Schwie­rigkeiten mit der Berliner Schnauze. Henrik meint: »Die Berliner sind eigenwillige Men­schen mit einem Ton am Leibe, der einen zusammenzucken lässt. Aber sie sind Feuer und Flamme für die gemeinsame Sache. Uneingeschränkt. Berliner Schnauze hat einen großen Vorteil: Es wird nicht diplomatisch um den heißen Brei herumgeredet. Man weiß, woran man ist. Wir kommen klar.« Mitarbeiterin Andrea kann das nur bestätigen, sie schwärmt geradezu vom Betriebsklima: »Ich bekomme hier nicht zu spüren, dass ich die einzige Frau bin, wir sind in erster Linie Kollegen. Sicher, ich kann manches besser als die Jungs, z.B. die Pom­mes bei der Fifa-Pokal-Szene filigran anordnen und auch noch Ket­chup drauftun. Aber ich kann auch löten.« Das freie Gestalten liegt ihr, es gibt keine Vorgaben, der beste Vorschlag setzt sich durch. »Ich konnte endlich das machen, was ich wollte: Das Rock­konzert mit Publikum ist von mir, die Motocrossstrecke mit den beweglichen Rädern, der belebte Tiergarten, die Burg, ein Spielplatz, viele kleine Alltagsszenen eben.« Im Eisenbahnerparadies zu arbeiten, ist für viele ein Traum. Allein in der Anfangszeit gingen 5 000 Bewerbungen ein, täglich treffen noch neue ein. Doch es reicht nicht, als Hobbymodelleisenbahner anzugeben. »Jeder kann bei uns nicht mitmachen. Unsere Mitarbeiter und unsere Mitarbeiterinnen sind spezialisiert. Wir haben mehrere hunderttausend Meter Kabel liegen, da muss alles richtig angeschlossen sein.« Dennoch, bei Loxx arbeiten viele, die glaubten, sie würden niemals mehr eine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt bekommen; darunter sind ein Architekt, ein Stadtplaner, Handwerker wie Elektro­techniker oder Software­entwickler – immer mit Bezug zur Modelleisenbahn. Der Jüngste ist 19, der Älteste feierte seinen 75. Geburtstag bei Loxx. Henrik, der sich als Anwalt auf Arbeitsrecht spezialisiert hat, mag ein lockeres Betriebsklima: »Die Hälfte der Leute kommt zu spät. Wir haben hier eine sehr ungewöhnliche und lockere Arbeitsstruktur, wir lassen den Leuten Zeit und Raum, damit sie nicht die Lust verlieren und ihre Ideen umsetzen wollen. Viele bleiben abends häufig länger. Wenn ihnen wäh­rend der regulären Arbeitszeit eine Idee kommt, dann setzen die meisten alles daran, sie sofort auszuprobieren, bis in die Nacht, ohne Vergütung. Einen Dienst­plan gibt es dennoch: Die Teams, die die Verkabelung erweitern, sind eingeteilt, es gibt reguläre Nacht­schichten bis zwei Uhr.« Peter Focke, EDV-Fachmann und tech­nischer Betriebsleiter von Loxx, war von Anfang an dabei. Mit deutscher Gründlichkeit untersucht er täglich die Züge auf Verschleißerscheinungen im Schattenbahnhof, hier ruhen die Spielzeugzüge. Seinem wach­samen Auge entgeht nichts, die Begeisterung blitzt durch die Brille: »Wer kann denn schon wie ich sein Hobby zum Beruf machen!« sagt er. Und Lokchef Winfried Etzrodt fügt hinzu: »Spielzeug geht nun mal kaputt; wir fahren hier auf vier Kilometern Strecke, pro Tag legen alle Züge zusammen 1 200 Kilometer zurück.« Er sitzt in der Werkstatt und fummelt mit einer Pinzette am Unterbauch eines Waggons herum. Hier ist immer etwas zu tun, damit draußen an der Publikumsfront alles reibungslos läuft. Achsbuchsen, die zu warm werden, das Fahrgestell, das leiert, das sind die Probleme, die hier gelöst werden. Hartz IV, der Ehestreit, das gute und das schöne Wetter, das kann alles draußen bleiben. Gerne erinnert sich Peter Focke an die Anfänge der Anlage: »Als endlich die ersten Züge fuhren, als endlich Leben in die Anlage kam, war das einer der schönsten Momente für mich im Leben.«

* Name von der Redaktion geändert