»Wenn ich an Punkrock denke«

Was ist vorbei? Was ist geblieben? tony parsons spricht über Freundschaften, die wichtig waren, die Anfänge von Rock against Racism und die Lebenszeitrechnung von David Bowie

Die Geschichte, die Sie in Ihrem Buch erzählen, spielt am 16. August 1977, dem Todestag von Elvis Presley. Hat dieser Tag Symbolwert für Sie, und welche Songs fallen Ihnen noch ein, die für Sie damals eine besondere Bedeutung hatten?

»Viva Las Vegas« von Elvis ist ein wichtiger Song. Elvis verkaufte 1977 von allen Popkünst­lern die meisten Alben. Seine politische Bedeutung wird dabei oft unterschätzt, die Musik von Elvis war von Anfang an »schwarz« und »weiß«. Elvis war der erste, der diese Beschränkung aufgehoben hat. Außerdem wichtig war: »London’s Burning« von The Clash, das war der Soundtrack zu diesem langen hei­ßen Londoner Sommer 1977, außerdem »Pretty Vacant« von den Sex Pistols, weil es ein zynisches Punkrocklied ist. »Shame« von Evelyn »Champagne« King, ein geniales Stück Disco jener Ära, und »Redondo ­Beach«, ein lesbisches Liebeslied von Patti Smith.

Der Originaltitel Ihres Romans »Als wir unsterblich waren« ist »Stories we could tell«, nach einem gleichnamigen Everly-Brothers-Song. Was verbinden Sie damit?

Das ist ein wunderbarer Song über Freundschaft und über Popmusik. Ich mag den Ton, der in dem Text angeschlagen wird. Allein wie verheißungsvoll das klingt – »Stories we could tell«. Der Song handelt von Leuten, die zusammen Musik hören. Die Art von Freundschaft, in der man sich eher verschwistert und verbrüdert als miteinander befreundet fühlt. Ich kann den Impuls sehr gut nachvollziehen, sich noch mal zu treffen, bevor man stirbt, um zurückzublicken auf die gemeinsamen Erlebnisse und darüber zu lachen.

John B. Sebastian von der Sixties-Band The Lovin’ Spoonful hat »Stories we could tell« für die Everly Brothers komponiert. Als Jugendlicher war ich sehr beeindruckt von der Tatsache, dass Sebastian in Woodstock mit 13 Frauen geschlafen haben soll. Das war für mich der Inbegriff der sexuellen Befreiung. Ich habe mich dann mit der Idee angefreundet, einen Roman über meine Punkerlebnisse zu schreiben, der nach einem Song von einem Hippie benannt ist.

Was hat Ihre Ex-Frau, Julie Burchill, zu dem Buch gesagt?

Ist mir egal.

Wie haben Sie reagiert, als Sie herausgefunden haben, dass die Libertines einen Song spielen, der »The Boy Looked at Johnny« heißt, genau wie der Titel Ihres gemeinsamen Buches mit Julie Burchill?

Das hat mich sprachlos gemacht, ich fühlte mich ehrlich geehrt. Ich mochte die Libertines, schade, dass sie sich aufgelöst haben. Pete Doherty ist eine Persönlichkeit.

»Stories we could tell« berichtet über einen rassistischen Riot in Lewisham, einem Londoner Viertel. Ihr Protagonist Leon gerät da hinein. Basiert das auf realen Vorkommnissen, und was genau ist damals geschehen?

Die National Front, eine rechtsradika­le englische Gruppierung, ist im Som­mer 1977 tatsächlich durch Lewis­ham marschiert, um ihre so genannte wei­ße Überlegenheit zu demonstrieren. Lewisham war damals ein mehrheitlich von Schwarzen und pakistanischen Engländern bewohntes Viertel. Es gab viele solche Provokationen, aber Lewisham hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die An­wohner haben sich nach Kräften gewehrt. Viele Leute von außerhalb kamen, um ihnen zu helfen. Ich auch. Warum es genau in diesem Sommer geschah und wieso ich da hineingeraten bin, kann ich nicht sagen. Jedenfalls sind erst danach Initiativen wie »Rock Against Racism« entstanden. Man macht sich gerne darüber lustig, insgeheim glaube ich aber, dass »R.A.R.« und ähnliche Aktionen etwas bewirkt haben müssen, denn die meisten Leute haben damals kapiert, wie wichtig es ist, antirassistisch zu sein. Auch durch jene Ereignisse wurde un­ser Land später multikulturell.

In den letzten Jahren sind drei Millionen Menschen aus Osteuropa nach England eingewandert, ohne dass irgendjemand dagegen Einspruch erhoben hätte. Ende der Sieb­ziger wäre das undenkbar gewesen. Damals fingen die multikulturellen Freundschaften überhaupt erst an. »There ain’t no black in the Union Jack« hieß es seinerzeit, und Schwarze, die in die falsche Gegend geraten waren, mussten um ihr Leben fürchten. Das hat sich zum Glück geändert. Wir haben uns besser kennengelernt. Engländer hassen Leute, bis zu dem Moment, wo sie sie näher kennen lernen. Als Margaret That­cher an die Macht kam, filterte sie die fremdenfeindlichen Ressentiments heraus und zog sie zu den Tories in den politischen Mainstream. Thatcher war keine Faschistin, sie hat sich nur die Stimmung zunutze gemacht. Das war Angst einflößend.

Wie haben Sie die Zeit des Thatcherismus überstanden?

Meine journalistischen Ambitionen blieben damals weitgehend erfolglos, ich konnte die laufenden Rechnungen immer schlechter zahlen und bin in der Folge verarmt. Als ich 1980 den New Musical Express verließ, dachte ich allen Ernstes, jeder würde mich kennen und mir winkten tolle Jobs. Niemand in der Medienlandschaft hatte damals von mir Notiz genommen. Mei­ne ersten Bücher waren Nieten. Dann ging meine Ehe mit Julie Burchill in die Brüche, und ich wurde alleinerziehender Vater.

Erst in der zweiten Hälfte der Achtziger ging es bergauf. Journalisten, die als Jugendliche meine NME-Texte gelesen hatten, kamen auf Redakteursposten und wollten meine Meinung hören, zu diesem und jenem. Dann habe ich festgestellt, dass ich gerne über das Thema Ehe oder über den weiblichen Orgasmus schreibe. Also wurde ich Ko­lumnist für Frauen­magazine und Tages­zeitungen, kam dann zur BBC und habe sechs Jahre mit Mark Lawson, Tom Pau­lin und Germaine Greer in der Talkshow »The Late Review« getalkt.

Punk hat die Medien damals heftig angegriffen. Finden Sie das nicht paradox, dass Sie dann ausgerechnet auf dem Bildschirm gelandet sind?

Finde ich lustig, dass Punkrock das Fernsehen so angegriffen hat, denn ganz wenige Punks hatten damals über­haupt Fernsehgeräte. Wenn ich heute einen Ausschnitt aus einer Sendung aus den Sieb­zigern sehe, denke ich, wir haben überhaupt keine Gedanken ans Fernsehen verschwendet, wir waren auf einem anderen Stern. Ich habe meine Fernsehkarriere übrigens an den Nagel gehängt, nachdem »Als wir unsterblich waren« erschienen war. Die Arbeit beim Fernsehen ist aufreibend. Das Fernsehen hält sich ohnehin für zu wichtig. Meine Mitwirkung beschränkte sich immer auf Livesendungen. Die werden bald aussterben, live kann man die Talkgäste nicht so gut zensieren.

Wieso übten 1977 die Medien überhaupt so eine große Faszination aus? Warum nannten sich die Punk- und New-Wave-Bands »Magazine«, »Television« oder »Talking Heads«?

Wenn heute eine Bombe in Bagdad explodiert oder ein Flugzeug in New York zerschellt, kriegen es alle mit. Unser medialer Alltag ist heute dennoch viel fragmentierter als 1977. Die Kultur war damals vereinheitlichter, alle haben die gleichen Platten gehört. Heute gibt es tausend kleine Medienpuzzleteilchen, deshalb erscheint auch kein Ereignis monumental wichtig. Keine Ahnung, wie hoch die Auflage vom NME inzwischen ist. Aber er verkauft sicher nicht mehr 250 000 Exemplare, wie damals, als ich für ihn geschrieben habe. Außerdem ist die Konkurrenz inzwischen ver­schwunden.

Wie fühlt sich eigentlich Ihr Alltag als medien­gerechter Autor an?

Alles dreht sich meistens um 1 000 Wörter. Die möchte ich gerne schreiben. Aber vorher denke ich lange darüber nach und versuche, in meinem Kopf ein Gerüst auszuformen. Im Moment sitze ich an einer Liebesgeschichte, die in Shanghai spielt, sie heißt »My favourite Wife«. Ich war dieses Jahr mehrmals in China, um zu recherchie­ren. Wenn ich zuhause bin, bringe ich meine Tochter zum Kindergarten und fange danach so früh wie möglich an zu schreiben. 1 000 Wörter, das klappt immer irgend­wie. Nicht mehr und nicht weniger. Nach jedem Kapitel nehme ich eine schöpferische Pause. Im Moment gebe ich Interviews.

Interessieren Sie sich noch für aktuel­le Popmusik?

Ja, ich bin immer noch Fan. Ich kaufe mir nach wie vor Platten und hoffe, dass sie mich umhauen. Ich werde leider nicht mehr so oft umgehauen wie früher. Hard Fi aus London finde ich eine tolle Band, und ihr Album »Stars of the CCTV« klingt für mich wie das Update von The Clash. Die Arctic Monkeys halte ich dagegen für überschätzt. Die sollten erst mal 1 000 Gigs auf der Reeperbahn spielen müssen, wie damals die Beatles, als sie sich die Sporen vor einem Matrosen- und Hurenpublikum verdient haben. Aufs Cover vom NME gehören die Arctic Monkeys jedenfalls noch nicht. Das ging irgendwie viel zu schnell mit denen, in dieser Hochgeschwindkeitskultur. Immer schneller kommen immer mehr Schriftsteller, Künstler und Bands ins Rampenlicht. Die Öffentlichkeit erfährt von ihnen sofort, wohingegen früher Jahre ins Land gegangen sind, bevor irgendetwas geschah.

Sie wollen mir doch jetzt nicht sagen, dass früher alles besser gewesen sei?

Nein. Man merkt nur, dass die Zeit immer schneller vergeht, wenn man älter wird. Jedes Jahr ist für mich jetzt ein Jahr, das von meiner Gesamt­lebenszeit abgeht. Als David Bowie 50 wurde, hat er mir mal eine Le­bens­alterrechnung erstellt, die ich sehr ein­leuchtend finde. Meine kleine Tochter ist vier, wobei ein Jahr nach Bowie 25 Prozent ihres bishe­rigen gesamten Lebens ausmacht. Bowie ist nun 60 geworden, wobei ein Jahr weniger als zwei Prozent seines Lebens ist.

Meine mathematischen Fähigkeiten sind nicht sehr ausgeprägt. Aber immerhin hatten Sie Zeit, um für »Stories we could tell« über Ihre eigene Jugend nachzudenken und daraus einen Roman zu machen. Wie viel Prozent Zeit …

Ich habe sogar ziemlich lange darüber gebrütet, wie es sich anfühlt, jung zu sein. Nicht nur, wie es 1977 gewesen sein könnte, damit hätte genauso gut 1957 gemeint sein können oder 2007. Ich habe »Als wir unsterblich waren« auf einen einzigen Tag konzentriert, um die Hochs und Tiefs des Jungseins stärker herauszuarbeiten. Was ist schon ein Tag und eine Nacht in einem Menschenleben? Wenn man jung ist, kann das eine dramatisch lange Zeitspanne sein. Mein Buch ist nicht unbedingt für den Main­stream gedacht, um das auch mal loszuwer­den. Musik hat im Mainstream entscheidend an Bedeutung verloren. Als Jugend­licher drehte sich bei mir und bei den anderen, die ich kannte, alles um Musik. 1967 waren Jimi Hendrix und Dean Martin die meistgekauften Popkünstler des Jahres. Das zeigt doch nur, dass Mainstream und Hippiekultur Popmusik damals gleichermaßen liebten. Das ist heute nicht mehr der Fall.

Ist »Als wir unsterblich waren« ein sentimentaler Roman?

Klar. Alle meine Romane sind sentimental. Ein Kritiker hat sie mal mit Countrymusik verglichen. Ich wusste damals nicht, ob es als Beleidigung oder als Lob gemeint war.

Ich hätte es als Lob aufgefasst.

Na gut, in diesem Fall fasse ich Country­musik, als musikalisches Äquivalent meiner Romane, als Lob auf. Meiner Meinung nach ist in moderner Literatur die Angst vor Gefühlen sehr ausgeprägt. Überhaupt nur zu beschreiben, was ein Gefühl ist, ist absolut verboten. Als mein Roman »Man and Boy« erschien, wurde er mit dem Label »sentimentale Literatur« versehen. »Was will dieser großkotzige Punk­rocker denn?« hieß es damals dazu, und es war abwertend gemeint. Dabei ging es mir bei dem Buch nur um das Thema Eltern, und um Freund­schaft und um Liebe. Wenn man über diese Themen nichts Sentimentales schreiben darf, wie kann man dann noch sentimental sein?

Wie würden Sie Sentimentalität überhaupt definieren?

Für mich bedeutet Sentimentalität emo­tionale Verbindungen, sich zu kümmern. Eine Empfindung ist wie ein be­bendes menschliches Herz.

Und was hat das wiederum mit Punkrock zu tun?

Wenn ich an Punkrock denke, werde ich sentimental, weil ich damals Menschen getroffen habe, die mir sehr viel bedeutet haben. Die beiden Musiker, mit denen ich am engsten befreun­det war, Joe Strummer von The Clash und Johnny Thunders von den Heartbreakers, sind tot. Strummer erlitt einen Herzinfarkt, und Thunders ist an einer Überdosis gestorben. Wenn ich daran denke, kriege ich stechende Schmerzen. Dann entsteht Melancholie, weil etwas unwiderbringlich verloren ist und nicht wieder zurückkommt. Aus und vorbei.

Gleichzeitig hoffe ich aber, dass ich mit »Als wir unsterblich waren« die Freude zurückgeholt habe. Punkrock hat Spaß gemacht, auch wenn wir viele Fehler begangen haben. Wenn man jung ist, macht man eben Fehler, na und? Der Spaß ist stärker in Erinnerung geblieben, und die guten Zeiten sowieso. Obwohl uns die Leute damals erzählt haben, die guten Zeiten seien für immer vorbei.

interview: julian weber