Vaters Verdruss

Wie redet Ulla Schmidt, und wie wird über sie geredet? Ein Fernsehabend bei der Familie. von michael ringel

Einmal im Jahr besuche ich meinen Vater. Mein Vater lebt in einer westdeutschen Kleinstadt, ist zum zweiten Mal verheiratet, war Angestellter eines ­Energieunternehmens und ist inzwischen Rentner.

Mein Vater besitzt eine Doppelhaushälfte und einen BMW. Er ist nicht religiös, betätigt sich in einer karitativen Organisation und ist politisch sehr interessiert. Er würde sich dem politisch linken Spektrum zuordnen, vertritt allerdings auch viele konservative Positionen.

Mein Vater sieht über den Rand seines provinziellen Tellers hinaus, was sich auch in seiner Mediennutzung zeigt. Er hat zwei Tageszeitungen abonniert und liest den Spiegel. Mein Vater hört tagsüber im Auto und auch zuhause Radio. Er hat einen Internetanschluss, den er auch nutzt. Und er sieht fern, nicht allzu häufig, aber meistens Informationssendungen und Nachrichten. Kurz gesagt: Mein Vater ist ein Durchschnittsbürger und damit ein hervorragendes Studienobjekt.

Einmal im Jahr also besuche ich meinen Vater, und neulich war es wieder so weit. Diesmal allerdings ist etwas Verblüffendes geschehen. Das heißt, ich weiß nicht, ob es zum ersten Mal geschehen ist oder ob ich es nur zum ersten Mal wahrgenommen habe. Jedenfalls habe ich gemeinsam mit meinem Vater um 20 Uhr die »Tagesschau« angesehen.

Allerdings ohne seine Frau, die unter einem fadenscheinigen Vorwand aus dem Raum flüch­tete. Noch bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, ging das Schauspiel auch schon los: die »Tagesschau« und mein Vater.

Der Aufmacher war die Gesundheitsreform, ein Foto zeigte die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, und der Sprecher verlas im üblichen Nachrichtentonfall einen Text über die neuesten Entwicklungen im Fall der Gesundheitsreform. Kaum hatte er begonnen, ging mein Vater auch schon ab wie eine Rakete: »Wenn ich diese Ulla Schmidt schon sehe, dann wird mir schlecht!« schimpfte er los und fluchte und zeterte und hörte gar nicht mehr auf … Dann war die »Tagesschau« auch schon vorbei, und mein Vater verwandelte sich wieder in den netten, freundlichen Herrn, der er eigentlich ist. Und auch seine Frau kehrte lächelnd, ohne ein Wort zu dem Vorgang zu sagen, zu uns zurück, und es wurde noch ein beschaulicher Abend.

Ich war vollkommen fasziniert von diesem Ausbruch und drängte am nächsten Abend darauf, unbedingt wieder die »Tagesschau« zu sehen. Und tatsächlich wiederholte sich alles genauso wie am Vortag. Mit einer Ausnahme, denn ich versuchte, aus Forschungszwecken vorzudringen bis zum Grund dieser Schimpf­tirade. Ich stellte meinem Vater Fragen. Der war mittlerweile wieder zu Höchstform aufgelaufen und beschimpfte gerade wieder Ulla Schmidt, die wieder in der »Tagesschau« unterwegs war: »Ulla Schmidt, die ist doch das Aller­letzte … «.

Weil die Beschimpfung so persönlich und pauschal war, versuchte ich, meinen Vater zunächst von seinen Vorurteilen abzulenken und auf die mögliche Stärke der Ministerin hinzuweisen. Ulla Schmidt, unterbrach ich ihn, sei doch aber eine durchaus faszinierende Persönlichkeit. Bei so viel massivem Widerstand von Interessengruppen und Lobbys wie den Ärzten, den Apothekern, der Pharmaindustrie, den Krankenkassen und, und, und, das habe doch auch etwas Positives, wenn eine Politikerin endlich einmal gegen alle Widerstände eine Sache durchzusetzen versuche und nicht zurückschrecke vor all den Angriffen. Oder wie es letztens der Schwabe Harald Schmidt sagte: »Ulla Schmidt, die hat Nerven wie Nudeln!«

Mit einem souveränen »Ach was!« fegte mein Vater dieses Argument zur Seite, so dass ich einen zweiten Versuch startete und die Rolle der Medien ins Spiel brachte. Sein Bild von der Politik werde doch stark von den Medien geprägt, die ihm schließlich Politik vermittelten. Ob es da nicht sein könne, dass seine Wahrnehmung durch eine falsche Darstellung der Medien beeinflusst werde, versuchte ich mich in der Rolle des advocatus diaboli. Was an meinem Vater so abperlte wie sonst nur Kritik an Ulla Schmidt: »Politiker sind alles Lügner!« würgte er jeden Einspruch ab, und dann war die »Tagesschau« auch schon wieder vorbei, und es wurde noch ein beschaulicher Abend.

Ich aber verstand zwei Dinge. Erstens: Mit sachlichen und vernünftigen Argumenten war diesem Vorgang nicht beizukommen. Denn es handelte sich um reine Emotion, ja um einen Glaubenszustand. Ich war Zeuge eines Gottesdienstes geworden. Das, was sich dort zwischen meinem Vater, der Politik und dem Medium abgespielt hatte, war eindeutig eine Art Reli­gion. Es war die Kirche des Politverdrusses.

Das Fernsehen hat ja längst eine solch religiöse Ersatzfunktion übernommen. Die fast stündliche Fanfare der »Tagesschau« ersetzt die Kirchenglocken. Und die Präsentationsform mit einem überaus seriösen Sprecher, der formelhafte Texte rezitiert, hat sakrale Züge.

Mein Vater aber ist ein Mitglied dieser Gemeinde, ein Gläubiger dieser Kirche, die wie alle religiösen Gemein­schaften ein großes Heilsversprechen liefert. Die Kirche des Politverdrusses ist wie viele Religionen eine Kirche der Enttäuschten. Enttäuschung aber hat immer etwas mit Täuschung zu tun. Und so glauben sich die Mitglieder dieser Kirche getäuscht von den Politikern. Der Gottesdienst um 20 Uhr hat dabei eine besondere Funktion: Er ist ein kathartischer Akt. Die 15 Minuten des Schimpfens dienen der Seelenreinigung. Der Gläubige befreit sich durch die Katharsis von all den Lügen und Täuschungen, die seines Glaubens nach durch die Politik in die Welt gebracht werden.

Und noch ein Zweites verstand ich plötzlich. Mein Vater sprach immer von »sehen«: »Wenn ich die schon sehe« oder »Guck sie dir nur an«. Das war jedoch eine Form von Sinnesverschiebung. Das Fernsehen und die Macht der Bilder überlagerten die eigentliche Sinneswahrnehmung. Es ging nämlich gar nicht ums Sehen, sondern ums Hören. Denn so interessant sieht eine Ulla Schmidt nun auch wieder nicht aus, dass man sich allein wegen ihres Äußeren über sie aufregen müsste.

Nein, die Basis dieses Glaubens ist das Hören, die Sprache der Politik. Dazu ein Beispiel:

Ein Tages hörte ich sozusagen aus dem Ohrenwinkel, es lief irgendwo ein Radio oder ein Fernseher, also ich hörte ein Interview mit Andrea Nahles, der ehemaligen Bundesvorsitzenden der Jusos. Sie sagte in dem Interview: »ein Stück weit«, »ich sag mal«, »macht das Sinn«. Drei Sozi-Granaten auf einmal feuerte Frau Nahles auf die Hörer ab: »Ein Stück weit«, »ich sag mal«, »macht das Sinn«. Diese drei Granaten müssen wir uns genauer ansehen, denn damit dringen wir zum Kern des Problems vor.

»Ein Stück weit«

Erfunden hat es, oder besser: eingeführt in die politische Sprache wurde »ein Stück weit« von dem damaligen SPD-Vorsitzenden Björn Engholm. Und das passte schon sehr gut zu ihm. Aber wie »weit« ist »ein Stück«? Weit wie ein Stück Torte? Oder meint es, weit wie ein Stück des Weges? Also vielleicht 300 Meter weit? Ganz sicher reicht »ein Stück weit« nicht bis zum Horizont. Dorthin, wo Utopien entstehen. Damit haben wir das erste Element der politischen Sprache von heute entschlüsselt: das verzagte Versagen.

»Ich sag mal«

Das kennen wir alle von Fußballern, die direkt nach dem Spiel vor ein Mikrofon ge­zerrt werden, um Spielszenen zu kommen­tieren. Einer der größten »Ich sag mal«-Sager aller Zeiten ist immer noch Otto Reh­hagel, dem es einmal als Co-Kommentator einer Spielübertragung im Fernsehen gelang, mindestens 30 Mal in einer Halbzeit »Ich sag mal« zu sagen.

Der »Ich sag mal«-Sager ist im Grunde ge­nommen stark verunsichert und versucht zu überspielen, dass er sich mit der für ihn fremden Situation nicht auskennt. Das »Ich sag mal« ist rhetorisch ein Element der Abtönung.

Im Deutschen gibt es so genannte Abtönungspartikel. Die werden meines Wissens in keiner anderen Sprache der Welt derart exzessiv benutzt. Das sind Worte wie »eben« oder »halt« oder »doch« in Sätzen wie »Das ist halt so« oder »Das macht man eben so«.

Abtönungspartikel sind grammatikalisch nicht notwendig, sie sind unveränderbar und stilistisch eine Art Schmiere. Dadurch erscheinen Sätze »runder« und »glatter«. Man könnte genauso gut sagen: »Das ist so« oder »Das macht man so«. Sätze abzutönen aber klingt »eben« für deutsche Ohren angenehmer. Übrigens sprechen Ausländer dann erst gut Deutsch, wenn sie die Abtönungspartikel beherrschen.

In der politischen Rhetorik gehört das »Ich sag mal« mit all seinen Varianten zum Jargon der abtönenden Ungewissheit. Ein Politiker, der »Ich sag mal« sagt, zeigt, dass er nichts von der Materie versteht, von der er gerade redet. Das angeblich so bescheidene Abtönen erweist sich als Missachtung des Zuhörers und schlichte Dialogverweigerung, da den Worten vom Beginn an ihr inhaltlicher Aussagewert genommen wird. Und damit haben wir das zweite Element der politischen Sprache von heute entschlüsselt: die abtönende Verweigerung.

»Sinn machen«

Das klingt modern, kraftvoll, aktionsreich. Nicht umsonst war »Sinn machen« die Lieblingsvokabel des Kanzlers Gerhard Schröder. Der ein Meister der vorgespiegelten Tat war. Schröder tat immer gern so, als wenn er etwas »machen« würde, und verkaufte seine Erfolg- und Tatenlosig­keit dann auch noch offensiv als »Politik der ruhigen Hand«. Und damit haben wir das dritte Element der politischen Sprache von heute entschlüsselt: die selbstbewusste Täuschung.

Es mag aufgefallen sein, dass bisher nur sozialdemokratische Politiker zitiert wurden. Tatsächlich hat das Sozialdemokratisch die politische Sprache der vergangenen Jahr­zehnte dominiert und geprägt, bis weit ins konservative Lager hinein. Angela Merkel zum Beispiel musste sich diesen Jargon erst mühsam aneignen, um Bundeskanzlerin werden zu können. Ihre Meisterprüfung legte sie dann am 11. September 2001 ab, als sie die Ereignisse in den USA mit einem glänzenden Satz kommentierte: »Jeder von uns ist ein Stück weit fassungslos.« Das qualifizierte sie endgültig als Führerin einer Großen Koalition aus Sozial- und Christ­demokraten. Zumindest sprachlich. Ein Stück weit.

Inzwischen ist Angela Merkel Bundeskanzlerin. Die Große Koalition regiert seit rund einem Jahr. Und die wichtigste Aufgabe der Legislaturperiode ist die Gesundheits­reform. Damit sind wir wieder bei der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die ein exzellentes Beispiel für eine Politikerin unserer Zeit liefert. Sie ist die Präsentatorin, die Verkäuferin, die Frontkämpferin der Reform. Und in dieser Funk­tion ist Ulla Schmidt auch eine Weiterentwicklung des bisherigen sozial­demo­kratischen Typus. Ulla Schmidt ist eine Art Automat.

Jeder Politiker, der ein Thema besetzt und damit in die Öffentlichkeit tritt, muss sich eine Art Sprachpanzer zulegen. Man muss sich nur vorstellen, schon morgens um sechs Uhr in den Frühstückssendungen von Radio und Fernsehen ein Interview geben zu müssen. Und im Laufe des Tages kommen noch ein paar hinzu. Zwangsläufig entwickelt sich ein Automatismus aus einstudierten Argumenten und bekannten Formeln. Es ist die Repetition der Repetition. Alles wiederholt sich wie in einer Endlosschlaufe und führt zu deutlichen Deformationen.

Auch bei Ulla Schmidt. Ihre Lieblingsvokabel heißt: »neuer Weg«. Die findet sich in jedem Interview. Denn:

»Ich bin überzeugt, dass der Weg, den wir gehen, der richtige ist. Das gibt Kraft«, sagt Ulla Schmidt am 30. Oktober 2006 in einem Interview der Mittelbayerischen Zeitung.

»Es geht bei dieser Reform darum, dass wir auch einen neuen Weg anfangen«, sagt sie im Deutschlandfunk am 4. Juli 2006.

»Wenn ich überzeugt bin, dass ein Weg richtig ist, scheue ich den Konflikt nicht. Dann kann ich auch zubeißen«, sagt sie dem Tagesspiegel am 8. Oktober 2006.

Der Weg ist zum Ziel geworden. Ulla Schmidt will ihr Vorhaben, koste es, was es wolle, zu Ende bringen. Auch wenn zwischendurch ein rhetorischer Unfall passiert.

Die ARD hat kürzlich eine neue Sendeform entwickelt. Man möchte gern attraktivere politische Diskussionsforen ins Programm heben. Die »Chris­tian­sen-Isierung« des Fernsehens hat zu einem Politbrei geführt, den die Zuschauer nicht mehr sehen wollen. Deshalb gilt die WDR-Sendung »Hart, aber fair« plötzlich als mediale Verheißung, und es wird mit ähnlichen Sendungen experimentiert. In der ARD gibt es jetzt die Sendung »Ich stelle mich«. Was wie die Antwort auf »Aktenzeichen XY« klingt, ist jedoch keine Verbrecherjagd, sondern ein Forum, in dem ein Politiker Rede und Antwort stehen soll.

In der ersten Sendung am 26. Oktober, also einen Tag nach dem Kabinetts­beschluss zur Gesundheitsreform, heißt der Gast Ulla Schmidt. Die Minis­terin muss dort nicht etwa einem Journalisten, sondern einem hervorragend vorbereiteten Arzt eine konkrete Frage zu einem konkreten Problem beantworten. Zum ersten Mal an diesem Abend und wahrscheinlich seit ihrem Amtsantritt ist Ulla Schmidt verunsichert. Also greift sie zu ihrer Lieblingsmetapher, die ihr allerdings vollkommen verunglückt. Wörtlich sagt sie: »Es ist ein neuer Weg, der nach vorne geht, und lassen Sie uns den weiterentwickeln.« Ein Weg, der nach vorne geht? Gibt es einen Weg, der nach hinten geht? Nach hinten los geht eher Ulla Schmidts Rede. »Lassen Sie uns den Weg weiterentwickeln«, sagt die Ministerin. Das wäre jedoch der erste Weg, der »weiterentwickelt« wird. Dabei geht es doch gar nicht um einen diffusen Weg, sondern um ein konkretes Problem, um ein Gesetz, um eine Reform.

Hier haben wir wieder alles vereint: die Verzagtheit, die Ungewissheit, die Karikatur des Machens. Ausgerechnet bei einer Ulla Schmidt, die für das genaue Gegenteil steht: Sie setzt gegen jeden Widerstand ihre Politik durch, an ihr scheint jede Kritik abzuperlen, sie hat Nerven aus Nudeln. Bis die routinierte Fassade zusammenbricht und die wahre Rede zum Vorschein kommt. Durchschnittsbürger aber haben ein feines Gespür für diese Scheinsprache. Dafür müssen sie keine Linguisten sein.

Damit stellt sich eine große Frage: Sollte man diese Kirche nicht abschaffen? Religion ist schließlich immer noch Opium fürs Volk. Aber will man Menschen wie meinem Vater tatsächlich ihre Möglichkeit zur seelischen Reinigung nehmen? Nein, meinetwegen soll jeder nach seiner eigenen Sprach-Fasson glücklich werden. Ja, selbst Politiker sollen das dürfen. Denn was würde das bringen, wenn Politiker rhetorisch besser geschult würden? Doch nur eins: Wir alle hätten weniger zu lachen.

Gekürzte Fassung eines Vortrags für einen Kongress des Grimme-Instituts