Der Wald ist ein Dschungel

Die Natur ist nicht nur zum Wandern da. In den Tiefen des Urwalds kann man sich gut verstecken. Über die Wildnis und das Dickicht als Rückzugsgebiete der Partisanen und Gesetzlosen. Teil eins einer Collage von helmut höge

Am Beispiel der Tupamaro-Guerilla in Uruguay wies Wolfgang Schöller 1970 auf zwei Formen von subversiver Maulwurfstätigkeit hin. Schöller unterschied bei der Stadtguerilla »militante Aktionen« und die »bewusste Arbeit im Apparat«. Diese Aktionsformen hatten bereits Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der SDS-Delegiertenkonferenz 1967 im Blick, als sie den linken Studenten im Zusammenhang mit ihrer bürgerlichen Perspektive zu bedenken gaben: »Das Sich-Verweigern in den eigenen Institutionsmilieus erfordert Guerilla-Mentalität, sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein.«

Wenig später wurde aus dem »verdeckten Einsatz« im Amt die Theorie des »Langen Marsches«, wobei dieser ursprünglich chinesische Kraftakt unter der Führung von Mao hier nun vertikal umgedacht wurde. Es ging darum, in die Institutionen einzusickern, dort voranzukommen und dabei kleine subversive Gruppen zu bilden – mithin als in der Öffentlichkeit agierende Linke zu verschwinden. Der SDSler Tillmann Fichter machte daraus erst eine Zeitung, Der lange Marsch, und ging dann selbst mit gutem Beispiel voran: Er durchlief die ganze SPD-Hierarchie. Inzwischen sind auch die meisten anderen Aktivisten der sechziger Jahre auf ähnliche Weise wie Fichter aus der Linken »verschwunden«. Komisch, meinte der SDSler Hans-Dieter Heilmann 2003, »wir waren am Anfang nur rund ein Dutzend Leute und sind es nun wieder – es sind fast dieselben Leute«.

Ähnlich der Schwund bei den Tupamaros, die laut Abrahàm Guillén den Fehler machten, ihre Kampfkolonnen aus der Stadt abzuziehen und sie aufs Land und in die Wälder zu schicken, wo sie sich in Tatuceras, einer Art von unterirdischen Kasernen, verbargen. Dadurch zersplitterte die Bewegung nicht nur, das Verschanzen in Tacuteras war auch die grundfalsche Taktik, da die Gewölbe leicht umstellt und eingenommen werden konnten.

Tupperparty & Regenwald

Die Guerilla muss beweglich bleiben. Mit ihrer Aufspaltung in Stadt- und Landgruppen und deren partieller Vernichtung setzte gleichfalls ein Verschwinden der Tupamaros ein. Die meist ländlichen Guerillabewegungen hat der Wald ansonsten aber eher vor dem Verschwinden geschützt. Von dort, also aus dem Unsichtbaren, griffen sie dann auch wieder an. Der Wald war immer ihr zuerst befreites Gebiet.

In Polen mussten sich die Aufständischen in ihrer Geschichte mehrmals in die Wälder zurückziehen. In Warschau verschwanden sie nach den letzten Aufständen 1943 und 1944 durch die Kanalisation – und versuchten, von dort ebenfalls in den Wald zu gelangen. In Burma, Sri Lanka und auf den Philippinen halten sich noch heute größere Partisanenverbände in Wäldern versteckt. Die mexikanischen Zapatisten haben ihre Basis im lakandonischen Regenwald – von dort schicken sie auch ihre Botschaften in die Welt.

Auch in anderen Teilen Lateinamerikas spielte der Urwald eine wichtige Rolle im Befreiungskampf. So veröffentlichte der Sandinista Omar Cabezas seine Erinnerungen unter dem Titel »Der Wald ist etwas mehr als eine große grüne Hölle«. Der Wald ist für ihn nicht nur strategisches Rückzugsgebiet, sondern auch ein Ort der Klärung und Sammlung. In einer Botschaft der Zapatistas aus dem Regenwald von Chiapas heißt es: »Den ganzen Nachmittag haben wir im Komitee diskutiert. Wir haben das Wort für ›sich ergeben‹ gesucht. Es gibt keine Übersetzung, weder im Tzotzilischen noch im Tzeltalischen, niemand erinnert sich daran, dass dieses Wort auf Tojolabalisch oder Cholisch existiert. Draußen regnet es, und Genossin Wolke neigt sich zu uns herab. Der alte Antonio wartet, bis alle verstummt sind und nur noch das vielfache Trommeln des Regens auf das Wellblechdach zu hören ist. Schweigend nähert sich der alte Antonio mit Tuberkulosehusten und sagt mir ins Ohr: ›Dieses Wort gibt es in der wahrhaften Sprache nicht, deshalb ergeben sich die Unsrigen auch nicht und sterben lieber, denn unsere Toten bestimmen, dass die Worte, die es nicht gibt, nicht gelebt werden.‹«

Der Widerstandskämpfer und Ausch­witz-Überlebende Shmuel Ron schreibt in seiner biografischen Erzählung über den Zweiten Weltkrieg: »Vor allem aber brannten wir darauf, uns den Partisanen in den polnischen Wäldern und in Weißrussland anzuschließen.« Ähnlich äußerten sich 1995 auch die »Waldpartisanen« Jack und Rochelle Sutin, denen Ende 1942 die Flucht aus einem Ghetto in Polen gelang: »Wir teilten uns in kleine Gruppen auf und machten uns daran, in den Wäldern zu überleben. Wir hofften noch immer, uns russischen Partisanen anschließen zu können, aber wir hatten keine Ahnung, wo sie sich aufhielten (…) Tief im Wald begannen wir, einen Bunker für den Winter zu graben … Unser Zeitplan sah so aus, dass wir um zwei Uhr nachts zu kochen begannen, dann aßen und tagsüber schliefen.«

Da ist was im Busch

Der britische Soldat Stuart Hood, der aus einem italienischen Gefangenenlager floh und sich zusammen mit einem Kriegskameraden den toskanischen Partisanen anschloss, entschied unterwegs zunächst auf »magische Weise«, welches Versteck einigermaßen sicher zu sein schien und welcher Bauer sie wohl nicht verraten würde. Jack Sutin hatte eines Nachts im Waldbunker einen Traum – mit »magischer Wirkung«: Eine Stimme – sie klang wie die seiner Mutter – sagte ihm, dass er in den Wäldern seine Jugendfreundin Rochelle finden werde und dass sie zusammenbleiben würden. Drei Monate später besuchte sie ihn im Partisanenlager des Nalibocka-Waldes. Seitdem leben die beiden zusammen.

Ebenfalls vom Nalibocka-Wald aus operierte eine andere bewaffnete jüdische Gruppe: die »Bielski-Partisanen«. Nachama Tec schrieb ein Buch über das Kämpferkollektiv mit dem Titel »Bewaffneter Widerstand«.

Der Kulturhistoriker Simon Shama hat in einer Studie über »den Traum von der Wildnis« den polnischen »Urwald von Bialowieza« durchforstet. Der ausgedehnte Waldkomplex gilt als letzter Tiefland-Urwald Europas und ist die Heimat des Wisent, aber auch der polnischen Outlaws und Partisanen, außerdem Jagdgebiet der Könige und Revier der polnischen Forstwirtschaft, die oftmals Beziehungen zu den Partisanen in den Wäldern unterhielt. Zu den Partisanen, die sich nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Ende 1830 und der Auflösung Polens in die Wälder von Podlasien – der puszcza – zurückzogen, war auch Emilie Plater, »eine Soldatin, aus deren Familie zu Beginn des Jahrhunderts mehrere Forstbeamte gekommen waren«. 100 Jahre später erklärte die Regierung Jozef Pilsudskis den Urwald zum ersten polnischen Nationalpark.

Im Wald beginnen die Gefechte zwischen Nationalökonomie und -ökologie. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen flüchteten auch viele Juden als Partisanen in die Wälder; sie kamen »in eine neue Welt«, schreibt Simon Shama. »Die Veteranen, die sich als ›Wölfe‹ bezeichneten, waren von allen Generationen der ›Puszcza‹-Kämpfer die verzweifeltste.« Der polnische Dichter Jan Himilsbach schrieb über seine Mutter, die während des Krieges mit Deutschen Umgang hatte: Die Nachbarn sagten ihr, wenn sie einen Kerl haben wolle, dann »solle sie sich als Patriotin und Antifaschistin jemanden aus dem Wald holen, wo in letzter Zeit Partisanen wie Pilze aus dem Boden schossen«.

Im Französischen ist das Wort für Buschwald Maquis. Da sich im undurchdringlichen Buschwald traditionell die Gesetzlosen versteckt halten, wurde der Begriff zu einem Synonym für Untergrundbewegungen. Insbesondere die Partisanen der Résistance, die sich in Bergen und Wäldern versteckt hielten, werden heute als Maquisards bezeichnet. Der deutsche Journalist Gerhard Leo, der sich ihnen 1942 angeschlossen hat, schreibt in seinen Erinnerungen: »Über uns breiten sich die Kronen der Eichen, Buchen, Kastanien und Kiefern wie ein schützendes Dach.« Von dort aus greifen die Partisanen zusammen mit anderen eine deutsche Garnison an. Als die Deutschen Verstärkung bekommen, müssen sie sich jedoch wieder zurückziehen: »Wir rennen zu den schützenden Bäumen des Waldes rechts von der Straße. Über uns zerbrechen Äste unter den Salven (…) Der Wald wird dichter (…) Wir sind noch mal davongekommen (…) In die Wälder, die gepanzerte Fahrzeuge schwer durchqueren können, wagen sie sich nicht (…) Die Wälder beherrschen wir noch, aber nicht mehr die Ortschaften und die Straßen.«

Gegen Ende des Krieges drehte sich diese »unsichtbare Front« um: Da flüchteten die letzten deutschen Soldaten in die Wälder. Manche schafften es, sich dort wieder zu organisieren. In Litauen nannte man diese Partisanen »Waldmenschen«, erst 1956 gelang es der Roten Armee, die letzten zu liquidieren, ihre herumirrenden Kinder wurden »Wolfs­kinder« genannt.

In seiner Rede anlässlich der Überführung der Asche des toten Widerstandshelden Jean Moulin ins Pariser Panthéon der großen Männer Frankreichs sagte der Kulturminister André Malraux, der zuvor selber Partisan gewesen war: »Sieh die zerlumpten Kämpfer aus den Eichenwäldern hervorkommen (…)« Konkret dachte er dabei an die südfranzösische Kampfgruppe von Gerhard Leo.

Unsichtbar werden

Der deutsche Arzt Erich Wulff, der zu Zeiten des Krieges in Hué arbeitete, schreibt in seinem Buch »Lehrjahre in Vietnam«: Am Anfang war der »Vietkong fast ein Phantom«, aber nach und nach nahmen immer mehr Leute aus seiner Umgebung in Hué »Kontakt mit der Befreiungsfront« auf, die irgendwo »da draußen auf dem Land bzw. im Dschungel« war. Aber bald rückte die »befreite Zone« näher: »Das Maquis war nicht mehr, wie 1964, ein Kuriosum, wo man seine Neugierde befriedigte. Es wurde immer mehr zum geistigen, politischen und organisatorischen Zentrum für die Orientierung der Menschen in der Stadt.« Auf dem internationalen Vietnamkongress in Berlin 1968 riet Peter Weiss zur Schaffung von »zwei, drei vielen Vietnam«, wie es Ché Guevara gefordert hatte: »Unsere Ansichten müssen prak­tisch werden, unser Handeln wirksam. Dieses Handeln muss zur Sabotage führen, wo immer sie möglich ist. Dies fordert persönliche Entscheidungen. Dies verändert unser privates, individuelles ­Leben.« Bis schließlich »eine gemeinsame Front« entstehe.

Nach dem »Deutschen Herbst« 1978 wurde auf dem Berliner »Tunix-Kongress« das Abhauen aus diesem Land propagiert: sich entfernen als subversive Strategie. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari, die zum Tunix-Kongress eingeladen worden waren, nannten in ihrem Buch »Anti-Ödipus« das Verschwinden oder Untertauchen ein »Klein-Werden schaffen«. In in ihrem Buch »1 000 Plateaus« sprachen sie in Anspielung auf Kafkas »Verwandlung« von einem Frau-Werden und Tier-Werden und einem Molekular- bzw. Bakterie-Werden und schließlich von einem gänzlich »Unwahrnehmbar-Werden«.

Wie sieht es mit der Möglichkeit des Untertauchens heute aus? Bereits der bei den italienischen Partisanen mitkämpfende Stuart Hood kam in seinem im Jahr 2002 veröffentlichten Buch zu dem Ergebnis: Nunmehr könne wegen der Zerstörung der Wälder und der bäuerlichen Kultur »auf dem Land kaum mehr ein Maquis aufgezogen werden«. Deswegen sei nur noch, wenn überhaupt, eine Stadtguerilla möglich. Kann man aber in der Großstadt auch ein Art von »Dschungel-Werden« schaffen? Der französische Soziologe Michel de Certeau vertraut dabei auf die Instinkte des kleinen Mannes, mit denen dieser die Gesetze, Zwänge und Zumutungen der modernen Ökonomie besonders in den technisierten Großstädten immer wieder zugunsten seiner eigenen Interessen und Neigungen »umfrisiert«, wobei solche Akte nahezu spurlos seien. Dennoch würden sich diese operationalen Leistungen auf sehr alte Kenntnisse zurückführen lassen: »Die Griechen stellten sie in der Gestalt der ›metis‹ dar. Aber sie reichen noch viel weiter zurück, zu den uralten Intelligenzien, zu den Finten und Verstellungskünsten von Pflanzen und Fischen, Jägern und Landleuten. Vom Grunde der Ozeane bis zu den Straßen der Megapolen sind die Taktiken von großer Kontinuität und Beständigkeit. In unseren Gesellschaften vermehren sie sich mit dem Zerfall von Ortsbeständigkeit.«

In Wiktor Pelewins Erzählung »Werwölfe in der mittelrussischen Ebene« erfährt man, dass sich heute auf den Waldlichtungen in Weißrussland nächtens kriminelle Banden in Wölfe verwandeln, wobei sie nach alter Partisanenart die Angewohnheit beibehalten, sich Kommandeure und Kommissare zu wählen. Und diese Wölfe wiederum wandern dann als Schlepperbanden über die Oder und Neiße nach Ostdeutschland ein, wo sie ganzjährig geschützt sind, umhegt von vier vollbezahlten so genannten »Wolfsfrauen« (Biologinnen), denen gegenüber sie allerdings »unsichtbar« geblieben sind: zur Sicherheit. Den umgekehrten Fall schildert Thomas Pynchon in seinem Roman »Mason & Dixon«. Dort verwandelt sich ein Werwolf namens Ludewik, der in einem unterirdischen Tunnellabyrinth überlebt hat, regelmäßig und zum Schrecken seiner Mitmenschen in einen »glatt rasierten, etwas schmalen Jüngling« – einen »Durham-Dandy in Silberbrokat«. Damit sind zwei Arten des Unwahrnehmbar-Werdens in der Postmoderne beschrieben. Die letztere erinnert an Picasso, der einmal dem französischen Verteidigungsministerium, das ihn nach einem Tarnanzugentwurf für Fallschirmspringer gefragt hatte, riet: »Verkleidet sie einfach als Harlekine!«