Tarn’ dich und werde Leopard

Wohin verschwinden, wenn kein Wald in der Nähe ist? Im zweiten Teil der Collage über das Partisanentum geht es um Wandlungen, Unsichtbarkeit, Trips und Suizid. von helmut höge

Vom »Untertauchen« als Projekt einer kleinen elitären, aber militanten Gruppe in Kalifornien handelt der Roman »Die Kunst des Verschwindens« von Jim Dodge. Einen Verschwörungsroman mit ähnlicher Thematik schrieb in Russland bereits der ehemalige Miliz-Untersuchungsführer Sergej Alexejew: »Der Schatz von Walkirij«. Er handelt von einer versteckt in alten Bergwerkskatakomben im Ural sich formierenden neuen Komintern: »Zu Alexejews Lesungen kommen immer wieder Fans, die sich persönlich für die Walkirij-Auserwählten (Adepten) halten oder sogar bereits im Untergrund leben«, berichtete Wladimir Kaminer.

»In Dodges ›Kunst des Verschwindens‹«, schreibt Thomas Pynchon im Vorwort, »wird man nicht nur eine Gabe für Prophetisches bemerken, sondern auch eine ständige Verherrlichung jener Lebensbereiche, wo noch bar bezahlt wird – und die sich daher dem digitalen Zugriff widersetzen.« Thomas Pynchon bezeichnet das Buch deswegen auch als erstes Beispiel »für einen bewusst analogen Roman«.

Das Gegenteil davon dürften die Essays von Paul Virilio sein, die auf Deutsch unter dem Titel »Die Ästhetik des Verschwindens« veröffentlicht wurden. Bei Virilio handelt niemand mehr analog, wenn überhaupt noch jemand handelt. Dodges Roman wurde 1987 bereits von Jean Baudrillard »vorgedacht« – in seiner Habilitationsschrift »Das Andere selbst«, in der es um die »Verführung als letzte Chance« geht: »Wie tarnt man sich? – Wie verstellt man sich? – Wie stellt man sich mit seiner Aufmachung, seinem Schweigen, seinem Zeichenspiel, seiner Indifferenz am besten zur Schau – in einer Strategie des Scheinhaften? Die Verführung also als Erfindung von Körperstrategemen, als Tarnverfahren zum Überleben, als beständiges Auslegen von Ködern, als Kunst des Verschwindens und der Abwesenheit, als Abschreckung, die an Wirksamkeit diejenige des Systems noch übertrifft.«

Das Buch von Jim Dodge ist eine Art Curriculum Vitae, in dem Initiation, Lehre und Ausbildung eines jungen Adepten geschildert werden, wobei ausgehend von den New-Age-Therapien in Kalifornien ein ganzes globales Set von alchemistisch-pharmazeutisch und indianisch-mystisch angereicherten Zen-Buddhismen ins Spiel kommt. Zudem ist bereits die Mutter dieses Auserwählten eine ausgewiesene Outlaw-Frau, so dass seine Erziehung zum Partisanen schon früh einsetzt. Das plötzliche Verschwinden thematisierte Rudi Stoert in einem Bericht in der Berliner Zeitschrift Gegner im Jahr 2004. Es ging darin um einige junge Hardcore-Junkies auf den Bahnhöfen der U-Bahnlinie 8, die auf einmal nicht mehr da waren. Auch der Autor verschwand dann – aus drogentherapeutischen Gründen – zuerst nach Chiang-Mai im Norden Thailands, von dort aus in ein nahes buddhistisches Kloster und dann nach Burma .

Mit Drogen operierte bereits die jugoslawische Partisanin Jara Ribnika im Zweiten Weltkrieg, wie sie in ihren »Erinnerungen« schreibt: Als sie beim Gestapochef für den Balkan, einem Dr. Weinmann, vorsprechen muss, um ihren Mann aus dem Gefängnis frei zu bekommen, gibt ihr ein Belgrader Freund den Rat, »nicht als vergrämte und vernachlässigte Frau eines Gefängnisinsassen dort zu erscheinen: ›Sie müssen eine Dame sein.‹« Von einem Ehepaar aus der Nachbarschaft, er war ein Jude aus Odessa und sie eine Deutsche aus Berlin, die für ihren Mann erfolgreich gekämpft hatte, bekam sie eine »Zauberpille«, die sie kurz vorher einnahm – und tatsächlich: »Alle meine kleinen, kleinsten, mittleren und großen Erfolge waren mit mir, in mir. Niemand kam mir gleich.« Als sie das nächste Mal Dr. Weinmann besuchte, nahm sie vorher wieder diese Kriegsdroge ein – und wirklich: Sie bekam ihren Mann frei.

Alles Tarnung

Wie wichtig die optimale Verkleidung ist, um unerkannt agieren zu können, davon berichten viele Partisanen. So schützten sich die jüdischen Kuriere während des Zweiten Weltkriegs, indem sie sich äußerlich an die Deutschen anglichen. Shmuel Ron berichtet: »Ich war verantwortlich für eine Gruppe von Mädchen mit ›arischem‹ Aussehen, die dazu bestimmt waren, auf der ›arischen Seite‹ tätig zu sein, und ich begann, mich auch auf das Fälschen von ›arischen‹ Papieren zu spezialisieren.« Rochelle Sutin verkleidete nach der Befreiung ihren Mann Jack als Frau, damit er nicht noch zur Roten Armee musste: »Das hat ihm das Leben gerettet, ich weiß es.« Andere Partisanen schworen auf bestimmte Kleidungsstücke, einen Hut etwa, der so etwas wie eine »magische Schutzfunktion« für sie besaß. Die »Kriegsmedizin« von vielen dieser Kämpfer bestand aus einer Zyankalikapsel.

Auch Shmuel Ron besaß eine. Als er jedoch ein Bunkerversteck überstürzt verlassen musste, ließ er alles zurück: »Vor allem meine Kapsel mit Zyankali. Nur wenige von uns besaßen einen solchen Schatz.« Später im Gefängnis besorgte ihm jemand neues »Gift«, als er nach Au­schwitz deportiert wurde, stellte er jedoch fest, »dass es sich bei diesem ›Gift‹ nur um ein starkes Beruhigungsmittel handelte«. Die Ehefrau des Aufstandsführers im Warschauer Ghetto, Alina Margolis-Edelmann, berichtet, dass ihre Mutter, eine Ärztin, ein ihr anvertrautes krankes Kind mit einer Dosis Morphium tötete, die sie eigentlich für sich aufbewahrt hatte – was jedem, der eine solche Ampulle, die »damals den Wert von Gold besaßen, ein wunderbares Gefühl der Sicherheit gab«, denn damit konnte man den Zeitpunkt seines endgültigen Verschwindens selbst bestimmen.

Im Norden Ghanas kam es 1995/96 zu einem Aufstand. Er ging von einem Stamm aus, dessen Heiler ebenfalls ein Mittel verteilte, das Unverwundbarkeit über das Unwahrnehmbar-Werden bewirken sollte – und zwar dadurch, dass man damit ein Gras-Werden und ein Leopard-Werden schaffen könne. Allerdings nur, solange man sich vor der Berührung mit Wasser hütete – und sich z.B. nicht wusch. Bei den »Leopardmenschen« handelt es sich um einen alten schwarzafrikanischen Ritus, der immer wieder in Krieger-Bünden entsteht. Wenn diese vom (Kolonial-) Staat allzu hartnäckig bekämpft werden, verwandeln sie sich in »Verbrechensgesellschaften« (die hommes-léopards).

In Ghana ermordete man schließlich den Kriegsmedizin-Mann. Um seinen anhaltenden Zauber zu brechen, schlug man ihm anschließend auch noch den Kopf ab und tunkte diesen in Wasser. So wurde er dann fotografiert und das Foto hernach als Postkarte auf allen Märkten verkauft. In Kinshasa sind die »Leoparden« heute ein Fußballverein, in Serbien wandelte sich umgekehrt der Fanclub des Fußballvereins »Partisan Belgrad« jüngst in eine kriminelle Bande. In Polen und Russland nannte man diese auf eine günstige Gelegenheit wartenden Gangs »Men in Sportswear« – nach ihrer Lieblingskleidung. Aber ebenso wie sie mit der Zeit ihre Tätigkeiten wenigstens scheinbar »legalisierten«, wechselten sie auch ihr Aussehen – d.h. mehrheitlich tragen sie heute alle dunkle Anzüge. Die Sportswear wird höchstens noch von den Mitgliedern von Schlepperbanden getragen, die nun – landsmannschaftlich organisiert – die alten Partisanenwege durch die Wälder Weißrusslands, Litauens, Polens und der Ukraine benutzen, die ursprünglich einmal Wolfspfade waren.

Deleuze/Guattari-Werden

Auch Deleuze und Guattari bezeichnen sich – noch oder schon wieder – als »Zauberer« – da, wo sie davon sprechen, wie das Unwahrnehmbar-Werden geschieht: Es funktioniert nicht über »eine Analogie von Beziehungen«, sondern »man muss Elemente oder Materialien in eine Beziehung bringen, die das Organ seiner Besonderheit entreißt, um es ›mit‹ dem anderen werden zu lassen«. Dabei geht es den Autoren konkret um ein »Tier-Werden«. Über das Werden generell wird an anderer Stelle gesagt: Es gehöre »immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Es kommt durch Bündnisse zustande (…) Werden besteht gewiss nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es lässt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ›zu schei­nen‹ noch dahin, ›zu sein‹.« Das Werden ist also eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt. Für Deleuze/Guattari »gibt es ebenso viele Geschlechter wie Terme in der Symbiose, ebenso viele Differenzen wie Elemente, die bei einem Ansteckungsprozess mitwirken«. In diesem Zusammenhang betonen sie, dass es sich beim Tier-Werden immer um viele handelt – also um Schwärme, Meuten, Banden … Und diese bilden sich eben durch Ansteckung. Das gilt auch für Wälder.

Solcherart Werden ist nicht unabhängig von der Umwelt – dem »Milieu« oder »Medium«, wie es früher hieß. Deleuze/Guattari unterscheiden das »Tier-Werden in der nomadischen Kriegsmaschine« (die wilden Männer); das »Tier-Werden in der Verbrechensgesellschaft« (die Leoparden-Männer); das »Tier-Werden in aufständischen Gruppen« (bei Bauernrevolten, wo Hexen und Heiler eine kriegswichtige Funktion haben); das »Tier-Werden in asketischen Gruppen« (die gelungenen Termitenhügel-Werdungen) und das »Tier-Werden in Gesellschaften mit sexueller Initiation vom Typus ›Heiliger Deflorator‹, Wolfsmänner, Bocks-Männer etc.« (die sich auf ein höheres Bündnis berufen, das der Familienordnung überlegen und äußerlich ist).

Ansteckungsgefahren

Dabei können die Meuten, Banden, Schwärme nacheinander mehrere Werdungen durchlaufen, mindestens es versuchen – und sie tun das in der Regel auch: im Angriff das Unverwundbar-Werden (mittels Maji); im Rückzug das Wald-Werden; nach der Niederlage das Leopard-Werden; nach erneutem Untertauchen das Wolf-Werden … Ein weiteres Werden wird durch die Integration einer »nomadischen Kriegsmaschine« in die des Staats möglich bzw. nötig. So veränderte sich z.B. bei den partisanischen Kosaken nach ihrer Eingliederung und Einreihung in die Rote Armee ihr »ganzer Eros des Krieges«, wie Deleuze/Guattari das nennen: »Der auf das Tier orientierte Eros des Reiters« (über den z.B. Isaak Babel sich nicht genug verwundern konnte) wird dabei durch einen »homosexuellen Gruppeneros ersetzt«. Ähnliches geschieht nach dem Sieg im Volkskrieg. Rochelle Sutin meint, dass etwa 80 Prozent der Paare, die im Wald bzw. im Kampf zusammengefunden hatten, danach wieder auseinander gingen: »Die Überlebens- und Nützlichkeitsaspekte waren in Friedenszeiten nicht mehr tragfähig.« Sie selbst trennte sich nicht von ihrem Mann, dennoch musste auch sie »umdenken«: »Ich war inzwischen wie ein Waldtier – ich hatte mich an das Leben in frischer, freier Luft gewöhnt.«

Weltweit wirkten linke Bewegung in den sechziger Jahren ansteckend, bis die Ansteckungsgefahr irgendwann buchstäblich im Keim erstickte – das war dann das Ende der Bewegung. Und vielleicht der Anfang einer anderen: Die Diözese von San Christobal, in der die meisten Indigenen von Chiapas leben, stellte kürzlich fest, dass es »unter den Jugendlichen eine neue ansteckende Krankheit gibt: die Migration«. In den 20 Landkreisen des Bundesstaats existieren mittlerweile 380 Reisebüros, die nichts anderes verkaufen als Busfahrkarten an die Grenze zu den USA. Schon auf dem Weg dahin verschwinden viele – wie die Drogenabhängigen in der Berliner U-Bahnlinie 8 – auf Nimmerwiedersehen: Indymedia Chiapas spricht von »25 000, die sich zwischen 1997 und 2000 auf den Weg in die USA machten und über deren Schicksal nichts bekannt ist«.

Eine Migrationsbewegung kann ebenso ansteckend wirken wie eine Befreiungsbewegung. Dabei passiert das, was man auch ein Ummodeln oder Umpolen von »Affekten« nennen könnte, denn bei allen An- und Verwandlungen geht es um Affekte. Nicht im, sondern über den Affekt handeln – Bündnisse mit ihnen schließen. »Es geht nicht mehr um Organisation, sondern um Zusammensetzung; nicht mehr um Entwicklung und Differenzierung, sondern um Bewegung und Ruhe, um Geschwindigkeit und Langsamkeit. Es geht um Elemente und Partikel, die schnell genug zur Stelle sind oder nicht, um einen Übergang zu bewerkstelligen, ein Werden oder einen Sprung – auf ein und derselben reinen Immanenzebene.« Das Werden ist »das Überschreiten einer Schwelle«.

So oder so ähnlich also kann man – zur Not – ein Unwahrnehmbar-Werden schaffen. Ich hab’s geahnt.

Felicitas Becker / Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika. Chr. Links-Verlag, Berlin 2006

Félix Guattari, Gilles Deleuze: Tausend Plateaus. Merve-Verlag, Berlin 1992

Simon Shama: Der Traum von der Wildnis - Natur als Imagination. Kindler, München 1996

Roland Barthes: Das Neutrum. Suhrkamp, Frankfurt 2005

Victor Pelewin: Das Heilige Buch der Werwölfe. Luchterhand, München 2006

Helmut Höge: WPP – Wölfe Partisanen Prostituierte. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2006

Jacques Lin: Das Leben mit dem Floß. In der Gesellschaft autistischer Kinder. Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 2004

Gerhard Leo: Frühzug nach Toulouse. MV-Taschenbuch, Rostock 2006

Stuart Hood: Carlino – eine Geschichte aus dem Widerstand. Edition 8, Zürich 2002

Shmuel Ron: Die Erinnerungen lassen mich nicht los. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1998

Lawrence Sutin: Eine Liebe im Schatten des Krieges. Piper, München 1996

Nachama Tec: Bewaffneter Widerstand. Jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Gerlingen, Gütersloh 1994