»Plötzlich wird die Linke still«

Die linksradikale US-amerikanische Gruppe News & Letters kritisiert Islamismus und Kapitalismus. simon birnbaum sprach mit zwei Mitgliedern über den Zustand der US-Linken

Die in den USA und England bestehende Gruppe News & Letters fand sich anlässlich der wilden Streiks in der Automobilindustrie in Detroit und des Bus-Boykotts gegen die rassistische Segregation in Montgomery 1955 zusammen, um die gleichnamige Zeitung zu veröffentlichen. Diese »Nachrichten und Briefe« sind bis heute der zentrale Bestandteil ihres Engagements. Die Zahl der Mitglieder ist aber auf etwa 200 geschrumpft. Die treibende Kraft während der Gründung, Raya Dunayevskaya, hatte sich zuvor vom Trotzkismus abgewandt und richtete das Augenmerk auf Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, Minderheiten sowie vom Parteikommunismus und von Gewerkschaften unabhängige Arbeiterbewegungen. Sie hat die Gruppe zudem mit ihrer Anknüpfung an die emphatisch auf »den Menschen« setzende Tradition des marxistischen Humanismus geprägt. Trotz eines bisweilen nicht zu übersehenden Kults um die prägende Figur zeichnet News & Letters eine kritische Reflexion linksradikaler Bewegungen aus. Deshalb ist neben einer Analyse der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft vor allem der Zustand dieser Bewegungen Gegenstand eines Interviews mit zwei Mitgliedern der Gruppe. Kevin Anderson ist in seinem bürgerlichen Leben Universitätsdozent für Politikwissenschaft, Peter Hudis Collegedozent für Geschichte. Das hier auszugsweise abgedruckte Interview wird die Gruppe mit anderen Texten im Juli 2007 unter dem Titel »Eingriffe. Aktuelle linke Debatten in den USA über Fundamentalismus und Krieg« im Unrast-Verlag veröffentlichen.

Während der politischen Aktionen, die nach den Anschlägen vom 11. Sep­tember 2001 begonnen wurden, bekam News & Letters Ärger mit anderen Linken. Was war geschehen?

Peter Hudis: Die erste Reaktion der organisierten, traditionellen US-Linken auf die Ereignisse des 11. September war die These, dass die Anschläge von der US-Außenpolitik hervorgerufen worden seien und die Radikalen in den USA Nutzen aus den Ereignissen ziehen sollten, indem man die Menschen über die Sünden der US-Außenpolitik aufkläre, aber über den islamischen Fundamentalismus schweige.

Die Antwort der organisierten Linken war merklich anders als die von nicht organisierten. In Chicago war das an den 600 Leuten zu sehen, die wenige Tage nach dem 11. September zu einem Forum an der Universität von Chicago kamen. Zu dem Treffen war vom Netzwerk Direkte Aktion aufgerufen worden, das 1999 die Proteste in Seattle organisiert hatte. Das vorherrschende Gefühl auf dem Treffen war, dass man eine Stellungnahme brauche, die beides verurteile, die Täter des 11. September und die US-Außenpolitik.

Unglücklicherweise schlugen am Ende des Treffens diverse Mitglieder der traditionellen Linken, hauptsächlich Maoisten, Trotzkisten, aber auch einige Anarchisten, die die Situation nicht erfassten, ein Folgetreffen vor, das für die Bildung eines traditionellen Antikriegsbündnisses genutzt wurde. Als schließlich ein Grundsatzpapier des neuen Bündnisses entworfen werden sollte, wurden die Anschläge vom 11. September in keiner Weise verurteilt. Ich brachte einen Antrag ein, dass die Verurteilung der Anschläge und die Solidarität mit ihren Opfern zuerst und danach die Opposition gegen den reaktionären, islamischen Fundamentalismus und den US-Imperialismus angeführt werden sollten. Der Antrag wurde abgelehnt.

Gegen eine scharfe Verurteilung der Anschläge wurden die erwähnten Argumente der organisierten Linken vorgebracht. In der Linken war aber noch eine zweite Argumentationslinie verbreitet: Es sei eine eurozentrische Privilegierung des westlichen Rationalismus und Humanismus, wenn man die Anschläge als reaktionär verurteile. Viele unabhängige Linke, die den Parteikommunismus ablehnen, folgten dieser Linie. Auf diese Weise kam es zu einer Überschneidung der politischen Perspektiven von postmodern beeinflussten und traditionellen, vulgärmarxistischen Linken.

Findet jetzt eine Debatte innerhalb der Linken darüber statt, wie dem islamischen Fundamentalismus als auch dem Antisemitismus und dem Antiamerikanismus begegnet werden sollte, sowie über frühere und gegenwärtige Fehler der Linken in diesem Kontext?

Kevin Anderson: Die Linke hat sich noch immer nicht von einer unkritischen Unterstützung antiimperialistischer, antiwestlicher Bewegungen gelöst. Ein großer Teil der Linken ist schnell dabei, die christliche Rechte in Texas, hinduistische Anhänger der Erweckungsbewegung oder zionistische Extremisten als autoritär und sogar neofaschistisch zu bezeichnen und auf ihre reaktionären Einstellungen zu Frauen, ethnischen Minderheiten etc. hinzuweisen. Wenn hingegen Bewegungen wie die Hamas oder die Hizbollah eine ähnliche Politik innerhalb eines islamischen Zusammenhangs verfolgen, wird die Linke plötzlich still.

Neben News & Letters gibt es aber noch einige Gruppen innerhalb der jüdischen und iranischen US-Linken, die die notwendige Kritik an der Neigung vieler Linker, die Kritik am radikalen Islamismus zu vermeiden, liefern. Aber das birgt manchmal die Gefahr, solchen linken Autoritarismus und Dogmatismus in einer Art und Weise zu attackieren, in der es nicht gelingt, zugleich die liberale Demokratie zu kritisieren. Wir müssen immer daran erinnern, dass es die liberal-demokratischen USA waren, die die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki warfen.

Trotzdem wurde die liberale Demokratie der USA von der Kritischen Theo­rie für ihre Bewahrung von bürgerlichen Ansprüchen wie der individuellen Freiheit gelobt, die über den Kapitalismus hinausweisen könnten und einen bürgerlichen Antifaschismus gewährleisten, natürlich im Unterschied zu Europa, vor allem zu Deutschland …

Hudis: Während sich die USA der Welt lange als der Inbegriff der Demokratie präsentiert haben, sind Afro-Amerikanerinnen und Amerikaner lange ihrer totalitären, repressiven Seite unterworfen gewesen. Der Rassismus ist nicht ein akzidentieller oder untergeordneter Widerspruch, sondern deckt die inneren Widersprüche der liberalen Demokratie auf: Die Spaltung in Bürger und Mensch, Privates und Öffentliches, die die bürgerliche Gesellschaft bestimmt, basiert auf der kapitalistischen Umformung von menschlichen Verhältnissen in Verhältnisse zwischen Dingen.

Ich denke auch, dass das Maß, in dem die liberale Demokratie als ein effektives Gegengewicht gegen den Faschismus dienen kann, stark überschätzt worden ist. Sicherlich würden auch diejenigen beipflichten, die die neofaschistischen Regime in Chile unter Pinochet, in Indonesien unter Suharto oder Mobutus brutale Herrschaft in Zaire überstanden haben. All diese Regime wurden sowohl von republikanischen als auch demokratischen Strömungen in den USA aktiv unterstützt. Und sogar im Fall des deutschen Faschismus ist die Sache kom­plexer. Ein Großteil des US-Establishments war vollends gewillt, Hitler Spielraum für seine expansionistische Politik zu lassen, bis er die geopolitischen Interessen der USA direkt gefährdete. Und nach dem Krieg zogen liberale Demokraten der Truman-Regierung aus, um viele frühere Nazis zu schützen und einzustellen.

Denken Sie, dass US-Amerikanerinnen und Amerikaner heute trotzdem, vor allem im Vergleich zu Europäerinnen und Europäern, skeptischer sind, was den Staat betrifft?

Anderson: In den USA haben sich Intoleranz und Rassismus immer in ein Gewand von Anti-Zentralstaatlichkeit gekleidet. Das trifft für das Sezessionsziel des Südens zu, die Sklaverei während des 19. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten, das trifft für die fünfziger und sechziger Jahre zu, wenn man die rassistische Segregation und die Rechte der Einzelstaaten im Verhältnis zu dem Zentralstaat der USA betrachtet. Bis heute zielen rassistische und Neonazi-Gruppen auf das, was sie die »zionistische Besatzungsregierung« nennen und womit sie nicht Israels Besetzung der palästinensischen Gebiete, sondern die US-Regierung meinen, die für sie eine Marionette zionistischer Interessen ist. Man schaue sich auch die gegenwärtigen Angriffe auf die Bundesgerichtsbarkeit an, die der autoritären Usurpation der Demokratie bezichtigt wird. Aufschlussreich ist zudem, wie die Rechte oder die extreme Rechte eifrig das Recht der Bürgerinnen und Bürger verteidigt, Waffen zu führen, sogar Maschinengewehre, gegen die vermeintlich gefährliche Staatsmacht.

Während ich die übertriebenen Behauptungen einiger in der Linken ablehne, dass die Bush-Regierung faschistisch sei, so hat diese doch sicherlich eine autoritäre Schlagseite, vielleicht vergleichbar mit dem Gaullismus in Frankreich. Nixon vertrat eine ähnliche Politik, indem er nicht nur versuchte, die zu jener Zeit ziemlich starke Neue Linke einzuschüchtern, sondern sogar seine »loyale« Opposition, die Demokratische Partei. Angesichts unserer Traditionen würde der Faschismus oder etwas dieser Art, so es denn hier entstehen würde, starke dezentrale Elemente haben, texanischer Faschismus wäre deutlich verschieden von kalifornischem etc. Und der repressive Apparat einer solchen neuen Ordnung würde wahrscheinlich Milizen und Bürgerwehren genauso wie Einheiten der zentralen Staatsmacht einbeziehen. Wir können heute Hinweise auf diese mögliche Entwicklung in den Bürgerwehren erkennen, die an der Grenze zwischen Arizona und Mexiko zum »Schutz« vor illegalen Immigrantinnen und Immigranten auf Streife gehen.

Was hat die radikale Linke dem entgegenzusetzen?

Anderson: Seit den späten Neunzigern hat eine Wende hin zur Kritik des Kapitalismus selbst begonnen, großenteils bedingt durch den Aufstieg der so genannten Antiglobalisierungsbewegung. Plötzlich konzen­trierten sich linke Intellektuelle auf die Klassenfrage und politische Ökonomie. Doch durch den fortwirkenden Einfluss der poststrukturalistischen Phase blieb eine Kritik an zu schnellen Verallgemeinerungen, was bedeutete, dass ein älterer Typ des Klassenreduktionismus schwerer zu vertreten ist. Wichtiger noch ist, dass es schwieriger wurde, den klassischen, leninistischen Parteikommunismus zu vertreten. Das führte zu einigen interessanten Debatten, insbesondere in der Zeit nach den Seattle-Protesten.

Leider war diese Debatte mit der leichtsinnigen Invasion des Irak unter der Bush-Regierung und dem Krieg gegen den Terrorismus plötzlich zu Ende, als sich die Linke in der Opposition gegen Bushs imperiale Pläne zusammenschloss. Seitdem herrscht in der Linken wieder ein Trend zu einer kulturalistischen oder auch poststrukturalistischen Kritik vor, die sich gegen negative Bilder von Musliminnen und Muslimen sowie Araberinnen und Arabern in der Politik und den Medien richtet. Einige verteidigen im Anschluss an Baudrillard das »Andere«, selbst wenn das eine Vorlage für den radikalen Islamismus bedeutet. Ein zweiter Trend, vor allem unter älteren marxistisch orientierten Linken, besteht darin, die Situation seit 2001 als eine Schlacht zwischen dem Imperialismus und der »Dritten Welt« zu interpretieren. Ein dritter Trend entwickelte sich in der Antiglobalisierungsbewegung selbst. Hier werden die USA zunehmend eher als Feind angesehen als das entnationalisierte, globale System, wie es Negri und Hardt in ihrem Buch »Empire« darstellen.

Insgesamt befindet sich die Linke seit 2001 im Niedergang, nicht nur, weil uns die Bush-Regierung mit ihrer reaktionären Agenda und Kriegspolitik erdrückt hat, nicht nur, weil die Demokratische Partei eine grundlegende Kritik des Irak-Kriegs ablehnte, sondern auch, weil die Linke selbst ernsthafte Fehler gemacht hat. Ihr größtes Problem besteht in der Tendenz, sich an die Opposition gegen Bush als letzten Strohhalm zu klammern.

Wie sieht es mit der Arbeiterbewegung aus: Haben die Arbeiterorganisationen heute ein Bewusstsein der Arbeiterkämpfe im 20. Jahrhundert? Und wichtiger: Sehen Sie zurzeit irgendeine radikale Arbeiterorganisation und irgendeinen radikalen Arbeiterkampf?

Hudis: Eines der größten Probleme radikaler Bewegungen in den USA ist ihre Geschichtsvergessenheit. Viele Radikale der Sechziger wussten wenig über frühere Anstrengungen, und auch in der derzeitigen Antiglobalisierungsbewegung besteht kaum ein Bewusstsein über historische Versuche, die internationale Arbeitersolidarität zu entwickeln. Der größte Teil der offiziellen Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen hat seine Mitglieder auch nicht über frühere Arbeiterkämpfe in den USA informiert. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte haben aber einige Teile der Arbeiterbewegung wieder an Traditionen der US-amerikanischen Arbeiterbewegung angeknüpft. Ein Ausdruck dessen sind die fortgesetzten Bemühungen, grenzüberschreitende Organisationen von Arbeitenden in den USA und Mexiko zu gründen.

Was radikale Arbeiterorganisationen und -kämpfe in den USA seit dem 11. September 2001 angeht, ist zunächst festzustellen, dass es in den neunziger Jahren und Anfang 2000 zu einer Art von Radikalisierung in der Arbeiterbewegung kam, insbesondere im Anschluss an die Proteste in Seattle 1999. Seit dem 11. September ist dieser Aktivismus jedoch aus verschiedenen Gründen zurückgegangen. Zum einen befürchten die offiziellen Gewerkschaften, dass es erneut zu Protesten wie 1999 in Seattle kommt, obwohl sie damals selbst an ihnen teilgenommen haben. Zugleich hat sich in den vergangenen Jahren die Verlagerung von Industrie­unternehmen nach Übersee beschleunigt, es handelt sich bereits um eine immense Zahl an Unternehmen.

Und was ist von der schwarzen Befreiungsbewegung heute noch übrig?

Hudis: Seit zehn Jahren ist die schwarze Linke im Niedergang begriffen. Dagegen gibt es klare Zeichen, dass die politische Landschaft durch das soziale Desaster verändert worden ist, das durch das Versagen der Regierung entstand, auf irgendeine ernstzunehmende Weise auf die Not der schwarzen Bewohner von New Orleans nach dem Hurrikan Katrina zu reagieren. Der Ärger in der schwarzen Community im gesamten Land sitzt tief, und eine wirklich radikale Kritik des Rassismus, die sich auf die Kapitalismuskritik gründet, gewinnt wichtiges Terrain zurück. Obwohl man angesichts dieser Entwicklung noch nicht von einer Renaissance schwarzer Radikalität sprechen kann, wäre es wenig überraschend, wenn sie jetzt anbricht.

Antisemitismus ist ein großes Problem in der afro-amerikanischen Community. Die Gründe dafür sind vielfältig. Schwarzer Antisemitismus hat seine Wurzeln in Gefühlen der Ohnmacht und im ökonomischen Niedergang. Viele Schwarze sind von antisemitischen Thesen angezogen, weil sie nicht den Kapitalismus als Ursache ihrer Misere erkennen oder weil sie denken, dass ihnen eine Art schwarzer Kapitalismus aus ihr heraushelfen werde. Sie suchen nach einem Sündenbock, um ihre schwierigen sozialen Verhältnisse zu erklären.

Es sollte aber erwähnt werden, dass offener Antisemitismus relativ selten in der schwarzen Community vorkommt. Im Übrigen sind anti-arabische Gefühle in der schwarzen Community weitaus stärker, weil viele Läden arabischen Immigranten und Immigrantinnen gehören, von denen sich Afro-Amerikanerinnen und ‑Amerikaner herablassend behandelt und übervorteilt fühlen.