Mein Leben im Denkmal

Als das Berliner Hansaviertel 1957 entstand, sollte die Architektur wegweisend für die moderne Stadtplanung sein. Bis heute wird über die Siedlung debattiert. Wie man in dem Quartier wohnt, schildert grit thönnissen. Mit Fotos von manuel liebeskind

Eigentlich wollte ich gar nicht umziehen. Die Besichtigung war an einem Sonntagmorgen, und anstatt ins Museum zu gehen, sah ich mir eben eine Wohnung im Haus des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer an. Ich hatte Glück. Mein Vorgänger hat hier seit 1957 gelebt, es war alles noch da: der hellbraune Linoleumboden, die filigranen Lichtschalter, die hellgelben Kacheln in der Küche, die dunklen Einbauschränke in den Fluren und das runde Guckloch in der Badezimmertür. Das sind zwar Details – aber genau davon lebt die Archi­tektur der fünfziger Jahre. Und von der ergrei­fenden Klarheit. Die Zimmer haben zum Osten hin durchgehende Fensterbänder, die bis zur Decke reichen. Wenn man die Haustür öffnet, kann man nach draußen in die Baumwipfel des Tiergartens schauen.

Die Wohnung liegt im fünften Stock, da kann man seinen Besuch mit dem Fahrstuhl abholen, der hält nämlich nur hier und in der achten Etage, weil er als Turm frei neben dem lang gestreck­ten Gebäude steht. In der fünften ­Etage hat Oscar Niemeyer, ein idea­listischer Kommunist, die Freietage bauen lassen, bra­sili­anisch »Conjunto«. Vom Fahrstuhl kommt man auf einen breiten Gang, der sich zu einem Flur in den Ausmaßen eines Tanzsaals mit durchgehendem Fensterband öffnet. Hier sollten sich die Bewohner versammeln, Theater spielen, Filme schauen und feiern. Niemeyer wollte nicht nur für den sozialen Wohnungsbau entwerfen. Das Haus sollte ein kleines Gemeinwesen an sich werden. Denn das Hansaviertel war nicht einfach als Siedlung gedacht, um die Woh­nungsnot nach dem Krieg zu beseitigen. Es sollte beispielhaft dafür sein, wie der moderne Mensch leben kann, und zwar im freien West-Berlin. Deshalb beschloss der Berliner Senat, hier die Internationale Bau­aus­stel­lung 1957 auszurichten. Im Hansaviertel gibt es keine Spur von Blockrandbebauung. Schaut man von der Siegessäule auf die verstreuten Gebäude, die sich bis zur Trasse der Stadtbahn und den Rand des Tiergartens erstrecken, sehen sie aus wie Legosteine, die jemand mit viel Liebe über das Gelände verteilt hat.

Heute ist das Hansaviertel ein Denk­mal der fünfziger Jahre, geplant von 53 Architekten aus 14 Ländern, darunter Walter Gropius, Alvar Aalto, Arne Jacobsen und Le Corbusier. Sie bauten Hoch- und Einzelhäuser, Kirchen und Supermärkte, Schulen und Kindergär­ten. Dazu kamen zehn Gartenarchitek­ten, die das Grün ganz dicht an die Häuser heranholen sollten.

Sie bauten nicht auf freies Land – hier hatte rund 50 Jahre das alte Hansa­viertel gestanden. Von den 161 Gebäuden waren nach dem Krieg noch 21 bewohnbare Häuser übrig. Vergessen sein sollte die Vergangenheit, die Zukunft sollte Einzug halten. Auf ­verschwenderische Weise wurde das ursprüngliche Verhältnis von Grün zum Gebäude um mehr als das Vierfache von 1,5 zu eins auf 5,5 zu eins erhöht.

Am Anfang dachte ich, dass ich meine Begeisterung für das Haus mit allen teilen könnte. Ich erwartete also von meinen Besuchern beim Verlassen des Fahrstuhls Ahhs und Ohs der Bewunderung – stattdessen durfte ich mir oft Kommentare anhören wie: »Sieht aus wie ein Krankenhausflur und riecht auch so.«

Es scheint, dass es einfacher ist, sich für eine Altbauwohnung aus der Gründerzeit zu begeistern als für einen Neubau aus den fünfziger Jahren. In den vergangenen zwei Jahren habe ich einige Bewohner des Hansaviertels kennen gelernt. Wir unterhalten uns immer ein wenig wie verschworene Inselbewohner. Wie lebt es sich bei dir? Ist es im Sommer auch so heiß? Und der ge­mein­same Feind: die Love Parade, die in Sichtweite abgehalten wird, von Hörweite ganz zu schweigen. Im ­Bürgerverein des Hansaviertels gab es sogar eine eigene Arbeitsgruppe, die versuchte, die Veranstaltung verbieten zu lassen. Das Problem mit der Love Parade hat sich ja inzwischen von selbst erledigt – die Organisatoren suchen gerade eine neue Stadt, die sie mit offenen Armen empfängt.

Die meisten Bewohner sind überzeugte Anhänger des Hansaviertels. Mit vier Familien habe ich mich schon oft darüber unterhalten, warum es sich lohnt, hier zu leben. Hannelore und Karl Schargan und ihre Toch­ter Constanze mit Ehemann Christian wohnen im Oscar-Niemeyer-Haus, Barbara und Klaus Hendel sowie Ulrike Dorn und Jürgen Frisch auf der anderen Straßenseite im Schwe­denhaus, das so heißt, weil es von den schwe­dischen Architekten Fritz Jaenecke und Stan Samuelson entworfen wurde. Zusammen mit dem Oscar-Niemeyer-Haus bildet das lang gestreckte, quer zu Altonaer Straße stehende Gebäude ein Tor zum Hansaviertel, wenn man von der Siegessäule aus schaut.

Bei einer Eigentümer- und Mieter­versammlung im Conjunto hörte ich zum ersten Mal von den Schargans. Der Vorsitzende be­klagte sich darüber, dass die gesamte Familie ständig über die denkmalgeschützten Geländer und dann durch die Blumenbeete steigt, um sich den Umweg über die zwei frisch sanierten Rampen zu sparen – von der Großmutter bis zum Enkel. Es folgte ein strenger Blick in Richtung einer zierlichen, weißhaarigen Dame, die auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte. »Das mit der Gemeinschaft hat nie funktioniert«, sagt Hannelore Schargan. Sie ist die älteste Bewohnerin des Hauses.

Als das Hansa­viertel gebaut wurde, kam sie jeden Morgen auf dem Weg zur Hochschule der Künste hier vorbei. Und dachte: »Da drin würdest du gern wohnen.« Schließlich war das der Grund für sie, Architektur zu studieren: was Neues bauen nach dem Krieg. »Ich habe 1949 Abitur gemacht, da war es en vogue, an so was zu denken. Wir waren diejenigen, die für die Zukunft bauen durften.«

Hannelore Schargan hatte Glück. Ein ehemaliger Kommilitone, der im Auswahlkomitee saß, erinnerte sich an die junge Architektin und sie bekam die ein­zige Ein-Zimmer-Wohnung im Haus. Auf ­ihrem ­Kinderbett, einer besseren Pritsche, die sie aus ihrem Eltern­haus im Ostberliner Friedrichsfelde mitgebracht hatte, schlief sie, das Radio stand auf einer Apfel­sinen­kiste. Als ihr Mann Karl bei ihr ­einzog, legten sie auf die Pritsche eine Matratze und benutzten das Ganze tagsüber als Sofa. Nach der Geburt der ersten Tochter Claudia ­bekamen sie eine Drei-Zimmer-­Wohnung. Zwei ­Jahre später, 1963, wurde Constanze ­geboren, die beiden Schwestern teilten sich die nächs­ten

15 Jahre ein zehn ­Quadratmeter großes Zimmer.

Derzeit wohnen zehn Schargans im Oscar-­Niemeyer-Haus. Claudia ­Schargan ist nie ausgezogen, Constan­ze hat ein halbes Jahr mit ihrem Mann Christian auf der ­anderen Seite der Spree gelebt, in Sichtweite. Dann wurde sie schwanger. »Als wir hörten, dass eine Drei-Zimmer-Wohnung frei wird, sind wir zurück.« Wir sitzen im Wohn­zimmer der inzwischen vierköpfigen Familie. Christian Schargan schaut sich missmutig um. Jede Fläche ist vollgestellt mit selbstgetöpferten Figuren, Windlichtern, einer Stein­samm­lung in der Regalwand. Bei ihm passen Theorie und Praxis nicht wirklich zusammen: Ja, er weiß es zu schätzen, dass er in einem Bau­ensemble wohnt, das in jedem Architekturführer steht. Dass die Grund­risse interessant sind und jedes Gebäude hier anders aussieht. Schließlich ist er selbst Architekt. »Was mir fehlt, ist Platz«, sagt der 42jährige.

Seine 75jährige Schwiegermutter dagegen hatte 50 Jahre Zeit, sich anzupassen: »Das ergab sich, dass man sich beschränkte und nichts anschaffte, was Platz wegnimmt«, sagt Hanne­lore Schargan. Ihre Wohnung wäre jetzt zur 50-Jahr-Feier das perfekte Anschauungsobjekt dafür, wie man im Fünfziger-Jahre-Design wohnen sollte. Mit klaren Möbeln, jetzt Klassikern, »durch die man durchschauen kann«. Deshalb musste der »Klotz«, wie Familie Schar­gan das massive Ledersofa von Hannelore und Karl nannte, drei Sesseln von Charles Eames und ­einem ­Barcelona-Zweisitzer von Mies van der Rohe weichen. »Ich kann gerade bei jungen Leuten den Run auf Altbauten nicht nachempfinden. Der Gedanke auf einen Hinterhof, auf den ich gucken muss, ist mir unerträglich.« Da stimmt Christian uneingeschränkt zu: »In meiner ersten Wohnung in Berlin hatte ich eine ­Brandmauer vor der Nase und ein winziges Stück Himmel. Das war eine Anleitung zum Depressiv-werden.« Seine Sehnsucht nach einer Altbauwohnung hat er also überwunden: »Wir bleiben hier.«

Was ich auch im Hansaviertel gelernt habe: Man trifft ständig Menschen wie Klaus Hendel, die gerne von ihrem Leben hier erzählen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Klaus Hendel seine Karriere vor 50 Jahren im Hansa­viertel begann. Gar nicht nos­tal­gisch wirkt er mit seinen 80 Jahren, wie er da in seinem Wassiliy-Sessel von Marcel Breuer sitzt und ­zusammen mit seiner Frau ­Barbara von früher erzählt. An den Wänden Kunst aus verschiede­nen Jahrzehnten – eine Straßenbahn­szene in Öl aus den zwanziger Jahren neben einem Gemälde von Markus Lüpertz.

Die Familie Hendel zog gleich nach der Internationalen Bauausstellung mit ihren beiden Söhnen ein. Sie wollten sich auf das Experiment des Neuen Wohnens einlassen. Acht Wohnungen wurden während der Interbau von schwedischen Architekten eingerichtet, um zu zeigen, wie verschiedene Familien in diesem Haus wohnen kön­nen. Klaus Hendel zeigt auf den großen Esstisch. »Der Tisch ist noch aus der Ausstellung. Das ist so ein ­intelligentes Möbel, das können Sie auf 15 Zentimeter zusammenklappen oder mit 16 Personen daran sitzen.« Vorgaben, denen nicht viele der neuen Mieter folgten: »Wenn Fremde in unsere Wohnung reinschauten, rümpf­ten sie die Nase: ›Guckt mal, die haben ja nur Kisten.‹ Die Leu­te fanden das ärmlich.«

Die Hendels haben es immer genossen, mitten in der Stadt zu sein und so viel Grün um sich zu haben. Aber dann regt sich doch Klaus Hendels Architekten­gewissen. Wenn er aus dem Fenster schaut, denkt er: »Mein Gott, wie viele Häuser hätte man hier noch bauen können.« Er zweifelt, ob die Platzverschwendung innerstädtisch in Ordnung ist: »Städte funktionieren anders als hier.«

Am Anfang gab es im Schwedenhaus Geschäfte, um das Hansaviertel zu ver­sorgen: eine ­Drogerie, eine Flei­scherei, ein Lebensmittelgeschäft. »Unsere Kinder sind morgens zum Brötchen- und Milchholen einfach mit dem Aufzug ’runtergefahren«, erzählt Barbara Hendel. Nach den ersten fünf Jahren verschwanden die Geschäfte nach und nach. Für nicht mal 4 000 Einwohner war das Angebot einfach zu groß. Butter-Lindner am Hansaplatz gab auf, weil die vielen alten Damen immer nur von allem eine ­Scheibe wollten – ­inzwischen hat das Hansa­viertel den höchsten Altersschnitt. ­We­gen der Aussicht auf einen lebendigen Kiez ist noch niemand hierhergezogen.

Auch nicht Ulrike Dorn und Jürgen Frisch. Sie wussten genau, worauf sie sich einließen – mit den beiden kann man sich stundenlang über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Häuser unterhalten, sie waren schon fast überall drin. Sie wissen, dass der Maler Andreas Gursky gerade in einen der Bungalows gezogen ist und wie man Linoleum verlegt. Die beiden wohnen mit ihren zwei Kindern Anton und Willy seit vier Jahren ein paar Etagen über den Hendels. Sie ist Architektin, er Modedesigner, zusammen machen sie Kleidung unter dem Namen »Frisch«.

Vorher hat die Familie Dorn-Frisch mitten im Kiez, im Prenzlauer Berg in der Star­gar­der Straße, in einem Altbau gewohnt. »Wir glaubten, es sei aussichtslos, eine Wohnung im Hansaviertel zu finden – damals war das schon im Prenzlauer Berg schwierig«, sagt Jürgen Frisch. Aber sie hätten gleich die ers­te haben können, eine Maisonettewohnung im Hochhaus von Van den Broek und Bakema. »Die war traumhaft, sehr reduziert. Da waren ältere Ehepaare um die 50 bei der Besichtigung – typische Westberliner Klien­tel, ganz bieder. Da habe ich gedacht: ›Oh je, die müssen erst mal alles ’rausreißen, die weiß getünchten Wände tapezieren und Laminat verlegen.‹«

Die Wahl fiel dann auf das Schweden­haus. Erst mal haben sie die Einbau­küche heraus­gerissen und sich eine Rolle Korklinoleum aus einer leer stehen­den Wohnung besorgt. Sie schätzen die Leere, die Ruhe. Und die Menschen, die einfach da sind. Ulrike Dorn sagt: »Das finde ich extrem ­beruhi­gend.« Wenn sie manchmal in die Stargarder fährt, ist sie über­rascht über die ­vielen Leute dort. Für Jürgen Frisch funktioniert das Hansaviertel sogar als Jungbrunnen: »Im Prenzlauer Berg habe ich mich ­immer alt gefühlt. Hier gibt es eine natür­liche Mischung aus Jung und Alt, was fehlt, ist die Mitte. Aber das ist halt so, wenn alle gleichzeitig ein­ziehen.« Für die beiden ist das Hansa­viertel auf jeden Fall die Stadt der Zukunft: »Es gibt einfach keinen Nachteil. S-Bahn, U‑Bahn, Park­plätze, Grün, tolle Grundrisse, Qualität, wohin man schaut – man kann sich freuen am Regendächle von Arne Jacob­sen – wo hat man das schon.«

Und dann erzählen sie, dass sie auf einer Sperrmüllaktion auf dem Hansaplatz ein Gestell für ­einen Fledermausstuhl, einen Designklassiker, gefunden haben. Da ist mir mal wieder klar geworden, dass ästhetische Vorlieben oft eine Generation überspringen müssen. Den Stuhl hatte Clau­dia Schargan nämlich aus dem Keller ih­rer Eltern geholt. Er hatte in der ersten Wohnung von Hannelore Schargan gestanden. Vielleicht verstehen sich deshalb die jungen und die alten Bewohner des Hansaviertels so gut, weil die fünfziger Jahre für die einen ein Neubeginn waren und weil sie für die anderen weit genug weg sind.