Der Kläger von drüben

von regina stötzel

Er ist 69 Jahre alt. Seit 63 Jahren lebt er mit den Folgen schwerster Verletzungen, die er als Sechsjähriger erlitt. Winicjusz Natoniewski ist gezeichnet davon, dass er ein Massaker überlebte, das die Deutschen im Februar 1944 in einem kleinen Dorf in Polen anrichteten. Weil die Bewohner angeblich Untergrundkämpfern geholfen hatten – eine Begründung, die gern zur Eliminierung ganzer Ortschaften herangezogen wurde –, schossen deutsche Polizeieinheiten sie nieder und zündeten ihre Häuser an. 360 Menschen starben, viele von ihnen, weil sie in die brennenden Gebäude flüchteten. Natoniewski konnte gerettet werden. Der Rentner, der bei Wejherowo in Pommern wohnt, hat bis heute keine Entschädigung bekommen. Vorige Woche verklagte er Deutschland vor dem Danziger Bezirksgericht auf umgerechnet rund 260 000 Euro Schadensersatz. »Das Leid, das mein Mandant erfahren hat, hatte keinen Zusammenhang mit militärischen Handlungen«, erklärte sein Anwalt Nowosielski. Es handele sich um ein unverjährbares Verbrechen gegen die Menschheit.

Zum ersten Mal wird eine solche Klage jenseits der Oder verhandelt. Juristen schätzen die Chancen auf Erfolg nicht schlecht ein. Sein Anwalt verwies auf den ähnlichen Fall eines Griechen, der entschädigt wurde. Wie die polnische Anwaltskammer rechnet er damit, dass Tausende Kriegsversehrte dem Vorbild Natoniewskis folgen könnten. Die Anwaltskammer hat zugesichert, ihnen geeignete Juristen zur Seite zu stellen, und ihre Mitglieder aufgefordert, bis auf weiteres keine Honorare zu verlangen.

Die Reaktionen aus Deutschland, sofern sie in der Presse zu lesen waren, sind folgende: Hinter der Klage stecke eine vom polnischen Staat gelenkte Kampagne, um den friedlichen Nachbarn eins auszuwischen. Es handele sich um eine billige Retourkutsche dafür, dass die »Preußische Treuhand« – eine Organisation von Vertriebenen – vor dem Europäischen Gerichtshof die Rückgabe von Häusern und Grundstücken an die früheren deutschen Besitzer verlange.