Wie definiert sich ein linker Universalismus? 

Wem gehört der Universalismus?

In der deutschen Integrationsdebatte rufen die einen nach einer Leitkultur, der sich alle unterordnen sollen. Die anderen proklamieren einen Multikulturalismus, der noch die krasseste Unterdrückung rechtfertigt, solange sie nur irgendeiner angeblichen Kultur entspricht. Wie lässt sich jenseits dieser Positionen ein linker Universalismus formulieren, der nicht seinerseits in Verdacht gerät, doch nur partiku­lare Interessen als allgemeinverbindliche festschreiben zu wollen?

Mit dem Slogan »Alles für alle. Für uns nichts« machen die Zapatistas in Mexiko darauf aufmerksam, dass ihre Perspektive nicht identitär ist, weil es ihnen ums Ganze, um »alles für alle« geht. Auch die Intermittents du Spectacle in Frankreich proklamieren: »Was wir verteidigen, verteidigen wir für alle.« Queere Aktivistinnen und Aktivisten haben wiederum Kritik an klassischen Identitätspolitiken im Feminismus geübt und diesen radikal antiessentialistische Konzepte entgegengestellt, die über partikulare Forderungen von Frauen weit hinausgehen. Wieso also wird in der Universalismuskritik immer davon ausgegangen, dass der Universalismus eine Perspektive des hegemonialen Zentrums darstellt, die die Peripherie ausgrenzt? Und warum wird marginalisierten Positionen die Fähigkeit abgesprochen, ihre Perspektive auf das Ganze zu richten?
Schon die Forderungen sozialer Bewegungen zeigen, dass es Positionen gibt, die sich der falschen Alternative verweigern, die die deutsche Integrationsdebatte suggeriert: Die Alternative zwischen der Anpassung an eine Leitkultur und einem kulturrelativistischem Multikulturalismus. Hier soll jenseits dieser falschen Alternative ein Konzept eines Universalismus vorgeschlagen werden, das sowohl die Realität der Einwanderungsgesellschaft anerkennt als auch aktuelle soziale Bewegungen ernst nimmt, in deren gegenhegemonialen politischen Debatten Fragen nach gemeinsamen Kämpfen, nach theoretischen Positionen und politischen Strategien zwischen Solidarität, Inter- und Transnationalismus längst wieder auf der Tagesordnung stehen.

»Euer Kampf ist auch unser Kampf« ist die Parole, die den universalistischen Akt der Solidarisierung der Zapatistas in Mexiko mit anderen politischen und sozialen Kämpfen in der Welt ausdrückt. Mit ihr als Begründung verzichtete Subcomandante Marcos anlässlich eines Vortrages auf sein Honorar von 500 US-Dollar und spendete es den zu diesem Zeitpunkt in Italien streikenden Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeitern. Der kleine symbolpolitische Akt widersetzte sich immerhin deutlich gängigen paternalistischen Vorstellungen, nach denen Spenden stets von der »ersten Welt« in die »dritte Welt« geschickt werden. Die Zapatistas nehmen sich genau das Recht heraus, welches den Indigenas aus einer rassistischen Perspektive stets abgesprochen wird: das Recht, nicht bloß lokal und nicht bloß in eigener Sache Position zu beziehen, sondern sich über ihren eigenen Kampf hinaus mit anderen Kämpfen zu solidarisieren.
Auch Bini Adamczak, die als queere Theoretikerin über Antisemitismus schreibt, hat klargestellt, dass es noch lange nicht die Maximalforderung radikaler Politik darstellt, nur »für sich selbst zu sprechen« und sich selbst in das einzuklagen, was als normal und akzeptiert gilt. Vor diesem Hintergrund wurden in queeren Debatten nicht nur Heterosexismus und die Normierungslogik der Zweigeschlechtlichkeit bekämpft, sondern auch Ausbeutungsverhältnisse, Antisemitismus und Rassismus. Durch die Aneignung einer strategisch universalen Perspektive weisen sie alle es zurück, nur als Opfer und Objekt betrachtet zu werden, indem sie es sich selbstbewusst herausnehmen, im Sinne einer universalistischen Perspektive solidarisch zu handeln.

Will man sich positiv auf den Begriff Universalismus beziehen, darf jedoch nicht vergessen werden, dass Universalismus von Linken in den vergangenen 50 Jahren oft auch zurecht in Grund und Boden kritisiert wurde – besonders in Hinsicht auf zwei Aspekte: Der erste betrifft ein wissenschaftstheoretisches bzw. erkenntnistheore­tisches Problem. Hier ging es darum, die Vorstellung einer universellen Geltung von Wahrheit aufzubrechen: ihren enthistorisierenden Charakter, der jegliche Spezifität aus dem Blickfeld verdrängt. Michel Foucault schreibt in seinem gesamten Werk gegen diesen Universalismus an. Der Vorstellung eines oder einer »universellen« stellt er deshalb jene des oder der »spezifischen Intellektuellen« gegenüber. Während der »universelle Intellektuelle« noch beanspruchte, als »Gewissen aller« für alle sprechen zu können, mischt sich der »spezifische Intellektuelle« in konkrete Kämpfe ein, um andere zum Sprechen zu bringen.
Vor dem Hintergrund eines solchen, bewusst spezifischen, operativen und pragmatischen Blicks auf den Universalismus lässt sich nun der zweite oft kritisierte Aspekt des Universalismus verfolgen: Dieser ist eher praktisch-politischer Natur und betrifft die universelle Geltung von Rechten. Mit der Erklärung der Menschenrechte gibt das ausgehende 18. Jahrhundert wesentlich vor, was wir heute unter Universalismus verstehen. Doch wer war gleich, und wer blieb und bleibt bis heute von der Gleichheit ausgeschlossen? Von postkolonialer und feministischer Seite wurde der »Universalismus« als weißer, westlicher Partikularismus entlarvt, in dem eben nur manche »alle« waren (und noch heute sind), in dem zwar von »universellen Rechten« die Rede ist, der tatsächlich aber oft genug noch heute eine weiße, westliche und männliche Perspektive als universell setzt.
Zweitens wurde der Universalismus als Form einer missionarischen und kolonialen Gewaltherrschaft kritisiert, dessen Verallgemeinerungen nichts anderes als polizeiliche Unterdrückungs- und Anpassungstechniken seien. Ein dritter Kritikpunkt galt der paternalistischen Funktion des Universalismus: Seine Logik der politischen Repräsentation produziere ohnmächtige Objekte und verhindere nicht selten die Sichtbarkeit politischer Kämpfe. Viertens wurde dem Konzept des Universalismus vorgeworfen, reale Ungleichheiten durch seine Rhetorik zu verbergen, wie sie sich etwa im Phantasma der Chancengleichheit bis heute ausdrückt.

Aus all diesen Gründen galt der Universalismus als diskreditiert. Gerade gegen die Herrschaftstechniken eines verkürzten, vereinnahmenden und ausschließenden Universalismus schien es notwendig, sich aus marginalisierten Perspektiven der Strategie der Identitätspolitik zu bedienen. Die Ausschlüsse und Ungleichheiten erforderten es, Bewusstsein für Ungleichheiten zu bilden und damit auch partikulare, identitäre Positionen zu beziehen, etwa partikulare Positionen von Frauen, Schwarzen, Arbeitern und Arbeiterinnen, deren Gleichheit der Universalismus nicht von vornherein vorsah, sondern die erst durch soziale Kämpfe in den Universalismus hinein reklamiert werden musste und teils heute noch muss.
Auch vor dem Hintergrund der Hegemonietheorie Ernesto Laclaus wird deutlich, dass Universalismus historisch gedacht werden muss. Laclau formuliert die Differenz zwischen Universalismus und Partikularismus als eine Spannung, die zu keiner der beiden Seiten hin aufgelöst werden kann. So stellt er fest, dass »das Universelle nichts anderes ist als ein zu einem bestimmten Zeitpunkt dominant gewordenes Par­tikulares«. Dabei ist es das Konzept der »Gleichheit«, in dessen Namen und vor dessen Horizont marginalisierte Positionen immer wieder ihre Rechte einfordern, eben: »Gleiche Rechte für alle!« Mit dem Ruf nach »Gleichheit« beginnt aber natürlich nicht die Gleichheit. Der Anfang, der hier markiert wird, ist vielmehr ein Anfang der Kämpfe um Gleichheit: ein Reklamierungsmodell gegen die produzierte Ungleichheit.
Mitte der achtziger Jahre entwickelte die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak das Konzept eines »strategischen Essentialismus«. Ihr ging es dabei darum, trotz und in Anbetracht der Kritik der poststrukturalistischen Theorie an jeglichem Essentialismus Möglichkeiten für eine aktuelle und konkrete politische Praxis offen zu halten. Der Begriff »strategisch« stand bei Spivak für eine Handlungsoption: die Eröffnung einer Möglichkeit eines Handelns, das weder hinter die dekonstruktive Kritik des Essentialismus zurückfällt noch in Anbetracht all dessen, was es grundsätzlich aufzulösen, zu dekonstruieren und zu bedenken gäbe, in Ohnmacht verfällt.

Spivaks Begriff des Strategischen als Handlungsraum könnte nun auch bei einer Neudefinition des Universalismus dienlich sein. Wurde dieser nämlich zurecht sowohl in seiner enthistorisierenden, wissenschaftstheoretisch-philosophischen als auch in seiner verkürzten, vereinnahmenden und ausschließenden politisch-recht­lichen Dimension diskreditiert, so stellt sich trotzdem, gerade angesichts des Zusammenbruchs der großen Universalismen, die Frage nach der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Solidarität – nach gemeinsamen Kämpfen und Allianzen. Vor diesem Hintergrund kann ein »strategischer Universalismus« vielleicht weiterführen – und zwar nicht als Selbstzweck, sondern im Hinblick auf eine politische Praxis.
Nicht als erkenntnistheoretisches Modell und auch nicht als abstrakter politischer Rechtsbegriff, sondern in konkreten Kämpfen und Diskursen wurde der Universalismus in den vergangenen Jahren wieder neu thematisiert. Zapatistas, queere Zusammenhänge und die Prekariatsbewegung diskutieren über Möglichkeiten und Gefahren gemeinsamer politischer Horizonte und gemeinsamen politischen Handelns. Die Frage nach dem Universalismus stellt sich ihnen im Spezifischen. Und genau dort wird deutlich, dass es gute Gründe geben kann, mehr zu wollen, als bloß »für sich selbst zu sprechen«, nämlich Teilhabe an der Definitionsmacht darüber, was als universal gelten, was Allgemeingültigkeit beanspruchen kann.