Die Scheine trügen

Tom Sharpes Roman "Bloody Mary" ist unscharf.

Daß Dinge anders sind, als sie scheinen - wer hätte das gedacht? "Hinter der Fassade aus Konvention machten sich auf unheimliche Weise so viele finstere Komplexe bemerkbar. Nichts war so, wie es schien", heißt das Fazit nach 400 Romanseiten über merry old England und besonders über das "Porterhouse College" in Cambridge. Hier, wo Rektor, Obertutor, Schatzmeister, Kaplan, "Praelector", Dons und Fellows, Oberpförtner und Unterpförtner ihrem harten Tagewerk nachgehen, sich im Speisesaal mästen, durch den Wandelgang schreiten, sich im Gartenlabyrinth verlaufen und schön krause Gespräche führen: "Und wie geht es ihnen jetzt? Fühlen sie sich besser? Sie selbst in sich, meine ich"; hier, wo der Rektor auch in seiner Rektorenwohnung stets eine Melone trägt und nachts an der College- Mauer lauert, um die zu spät heimkehrenden Studenten abzufangen, hier scheint die Welt noch in Ordnung.

Doch, Überraschung, hinter den Kulissen sieht es anders aus. Ein schwerer Verdacht lastet auf den ehrwürdigen Herrschaften: Sir Godbert Evans, der Vorgänger des jetzigen Rektors, sei ermordet worden, behauptet seine Witwe, Lady Mary. Sie schickt Dr. Purefoy Osbert ans College, scheinbar, um eine Biographie des Verblichenen zu schreiben, tatsächlich um einen Mörder zu entlarven.

Noch schwerer als der Mordverdacht wiegt der Umstand, daß das College pleite ist, weil ein Rektor das Institutsvermögen im Casino verspielt hatte. Da kommt eine US-amerikanische Fernsehgesellschaft wie gerufen, die scheinbar aus purer Menschenliebe ins College investieren will. Natürlich trügen auch hier die Scheine. Angeblich macht die "Transworld Television Productions" ihr Geld mit Natur und religiösen Filmchen: "Wissen sie eigentlich, wieviel Geld man verdienen kann, wenn man den Leuten die Gewißheit gibt, daß sie niemals sterben werden, sondern einfach in den Himmel einrücken, ohne daß dumme Fragen gestellt werden?" Wer dumme Fragen stellt, kriegt aber heraus, daß die TTP mit Drogenschmuggel zu tun hat und für die Mafia Geld wäscht.

Steht Porterhouse College für Altengland, so steht die TTP als pars pro toto für die schöne neue Welt der USA. Sharpes Amerikaner sind unkultiviert, dumm, gewalttätig, ebenso ungebildet wie eingebildet: "Ich bin Bürger der größten Supermacht der ganzen gottverdammten Welt. Wir können es mit dem ganzen Kackrest von euch aufnehmen und euch erledigen, ohne Scheiß", tönt der bösesten Buben einer, der Vizepräsident der TTP, Mr. Kudzuvine, aber so kann man natürlich mit Engländern nicht reden. Vielmehr können Engländer so mit dem Amerikaner reden: "Amerikaner mögen sie sein, aber ein guter alter Knabe sind sie nicht. Sie sind bloß armer weißer Abschaum, vergessen sie das ja nicht." Am Abschaum darf man seine sadistischen Phantasien auslassen: Auf vielen Seiten walzt Tom Sharpe genüßlich aus, wie die feinen Herren des College dem gefangenen Mr. Kudzuvine Kochbrandy zu trinken geben wollen mittels eines Klistiers, das noch von Darmspülungen zugekrumpelt ist - aber Hauptsache kultiviert. (Der Schein trügt eben.)

Die Amerikaner haben unvorsichtigerweise die Engländer als Weltmacht abgelöst, nun verweist sie Tom Sharpe in ihre Schranken. Das hat freilich, wie alles in diesem Roman, zwei Seiten, denn zum Glück können die deutschen Leser dieser antiamerikanischen Haltung nicht beipflichten, ohne gegen sich selbst zu sein, weil nämlich die Amis auch ein bißchen deutsch sind: Zwei ihrer Anwälte tragen die Namen Schnabel und Feuchtwangler, Mr. Kudzuvine heißt mit Vornamen Karl, und der Oberschurke Edgar Hartang, Boß der TTP, ist ein "mitteleuropäischer Charmebolzen".

Allerdings ist auch nicht alles Gold, was englisch glänzt. (Schon auf dem Buchumschlag prangert ja nicht ein Engländer mit Schirmmütze, sondern ironischerweise eine Bulldogge mit Wärmflasche auf dem Kopf.) Vielmehr sieht Tom Sharpe die Dinge relativ und zeigt, daß die Vergangenheit nur scheinbar besser war: Was heute zum Beispiel für das College das Geld aus dem Drogenhandel ist, war im 18. Jahrhundert der Profit aus dem Sklavenhandel. Tom Sharpe weiß auch dialektisch zu denken: "Als ich jung war und wir so tun mußten, als wären wir Ehrenmänner, mußten wir uns ernsthaft benehmen, um diese Fassade aufrechtzuerhalten. Das war die größte Tugend, zu der uns die Heuchelei verpflichtete." Tom Sharpe ist sehr wohl distanziert: "Und Heuchelei war schon immer eine sehr englische Eigenschaft." Auch das Buch hat also entgegen dem flachen Anschein stellenweise höhere Qualität.

Der Ami Hartang steht auf kleine Jungs, die er sich in Bangkok holt. Worauf steht der konservative Tom Sharpe? Daß Sex in seinem Roman nur als Abweichung von der Norm vorkommt, bräuchte einen nicht zu jucken, wenn Tom Sharpe dabei nicht ständig klarmachte, daß er das alles für krank, dekadent und abscheulich hält.

Um den Arsch pro toto auszuwählen: Ein Anwärter auf das von Lady Mary gestiftete Sir-Evans-Godbert-Fellowship forscht auf dem Feld der - shocking! - "psychoerotischen analen Phantasien" und nähert sich - oh, my dear! - beim Vorstellungsgespräch Lady Mary (kriegt aber seinen Hosenlatz nicht auf, weil er schon betrunken ist); Osbert Purefoy muß, um seine Peilung prüfen zu lassen, sich in einer - o tempora, o mores! - "Schwulenbar voller Transvestiten und in Leder gekleideter Männer" behaupten. Überhaupt ist Tom Sharpes liebstes Schimpfwort "Schwuchtel". Er selbst ist, scheint er signalisieren zu wollen, eine demonstrative Unschwuchtel. Allerdings wüßte man dann gern, was er unter "den weniger appetitlichen Qualitäten des anderen Geschlechts" versteht.

Apropos verstehen: Über weite Strecken beruht die Sprachkomik von "Bloody Mary" auf Mißverständnissen und Verhörern. Mr. Kudzuvine verwechselt, weil er dumm ist, den Berg Ararat mit Arafat, Hormone mit Mormonen und hält - Mensch, halt dir feste! - Philantropie für Schürzenjägerei; der Kaplan des College - weil er Engländer und deshalb nicht dumm, sondern nur schwerhörig ist - verwechselt die Melone, die man trägt, mit der, die man ißt (hahaha). Daß das falsche Verstehen zum Thema paßt - etwas ist anders, als man glaubt -, ist gebongt. Aber Witz lebt auch von der Abwechslung. Daß man ohne auskommt, ist auch ein Mißverständnis.

Ein Mißverständnis in dem Roman besagt, jemand der "penibel" ist, habe eine Vorliebe für Penisse. Wirklich penibel sein dürfte die Übersetzung. Manches, was englischen Lesern einleuchtet, müßte deutschen erklärt werden: Wer ist "Dege" (ein Schneider)? Was ist "die Zeit vor Beveridge"? Was oder wo ist "Grantchester"? Und manche englischen Wortspiele funktionieren nicht 1:1 im Deutschen: Beispielsweise, wenn der Rektor "sitzen und denken" will und der Dekan das als "sitzen und trinken" mißversteht, so ist das nur englisch möglich - trinke ich jedenfalls.

Tom Sharp: Bloody Mary. Goldmann, München 1997, 439 S., DM 39,90