Kein Nutella in der Kantine

Johannes Goebels und Christoph Clermonts loben "Die Tugend der Orientierungslosigkeit". Mark Siemons forscht "Jenseits des Aktenkoffers".

Manche Bücher läse man mit größerem Gewinn, wenn sie noch mehr Druckfehler hätten. "Planzenphysiologie" im Inhaltsverzeichnis ist zwar schon ziemlich gut, "Planzenphysiologie" in der Kapitelüberschrift ist noch besser, und am "Planzenphysiologischen Institut" möchte man sich am liebsten gleich immatrikulieren, ahnte man nicht, daß es dort wahrscheinlich doch nur um Grünzeug geht. Einen "muddling trough", einen Verwirrungstrog also, verspricht das Inhaltsverzeichnis; das entsprechende Kapitel handelt leider nur vom Durchwursteln. Was aber ist mit diesem Satz gemeint: "Skalierbare Lebenswelten lösen statische Existenzkonstrukte ab"? Skalpierbare Lesbenwelpen dösen ..., nein, man kommt nicht drauf.

Wer sich an der Front herumtreibt und nicht zur kämpfenden Truppe zählt, dem wird es die Stalinorgel hoffentlich besorgen. Trotzdem behaupten Johannes Goebel und Christoph Clermont, die Propagandisten der "Lebensästhetik", in "Die Tugend der Orientierungslosigkeit": "Der Reiz, als Teil eines Teams an vorderster Front Pionierarbeit zu leisten, bildet nur die Spitze eines gigantischen Eisbergs gewandelter Motivationsmuster." O gewiß. Wer aber schon in früher Jugend zu solchen Sätzen fähig ist, sollte uns doch seine weitere Karriere ersparen und besser gleich den Vorruhestand beantragen.

Was macht jedoch einer, der ohne Rentenanspruch früh vergreist? Und "mit beiden Beinen auf dem lebensästhetischen Boden der eigenen vier Wände steht", also ästhetisch ein Rad ab hat und nicht schreiben kann? Er gründet zunächst eine Werbeagentur, die er, von Roman Herzogs Adlon-Rede inspiriert, ohne weiteres "Werteagentur" nennt. Und zum Zweck der Akquise ansehnlicher Budgets schreibt er ein Buch des Inhalts, alle anderen Werbeagenturen hätten keine Ahnung, wie die Milliarden an Taschengeld und Bafög in die Kassen ihrer Auftraggeber zu leiten seien. Ein Verlag findet sich, und eine Wochenzeitung, die dem Schwund auf den Leim geht - also vorzugsweise die Zeit -, druckt es allemal. Dann kommt auch schon das Fernsehen, und alles scheint geritzt.

Es sei ein neuer Trend zu melden. Die "Lebensästhetik" nämlich. Und die geht so: Durch den Supermarkt des Lebens schiebt der gleichnamige Ästhet seinen Einkaufswagen und packt ihn mit Sachen voll. Nicht mit allen Sachen, die es gibt, versteht sich, sondern nur mit ganz bestimmten, sorgfältig ausgewählten Produkten. Also entweder Nutella oder Schimmelkäse, nicht beides. Und wenn einmal Nutella, dann immer Nutella. Was er am Ende auf dem Kassenzettel hat, nennt er sein "Ich". Er trägt die Sachen nach Hause und frühstückt erstmal drei Stunden lang. Den Boden der eigenen vier Wände nennt er sein Reich, in dem er autokratisch herrscht. Steht er auf Schokoladenpampe, läßt er Schimmelkäsefreaks nicht über die Schwelle. Schwierig wird's erst, wenn sich ein Schokoladenpampenmann in eine Schimmelkäsefrau verliebt. Zwar hat der Schokoladenpampenmann einen großen Freundeskreis bzw. ein "Netzwerk von Freunden", unter denen sich auch Schimmelkäsetypen finden mögen, aber im Bett seiner vier Wände kennt er keine ästhetische Nachsicht. Wenn er doch einmal schwach wird, gibt's garantiert "Moralkollisionen am Frühstückstisch". Während vernünftige Menschen, vor die Alternative Nutella oder Bavaria Blue gestellt, sich innert Minuten auf Parmaschinken einigen, beginnt der Lebensästhet ein nervenzehrendes "Bargaining", an dessen Ende er und sein Nutellaglas allein, aber moralisch ungebrochen zurückbleiben.

Denn, man merkt es bald, die Autoren können nicht denken und verwechseln ständig Ästhetik und Moral. Sie reden auf 200 Seiten vom "guten Leben" und merken nicht, daß sie das schöne Leben meinen. Doch "das Resultat dieses gesellschaftlichen Umbruchs (des lebensästhetischen nämlich), der weithin im Verborgenen stattfand, ist eine neue Ethik". Irgendwie. Von ihren Inhalten erfährt man nichts. Der höchste moralische Grundsatz eines Lebensästheten, so muß man spekulieren, könnte wohl lauten: Mit diesem Hut ist Kaffee gut. Oder: Verpasse niemals eine Folge der "Lindenstraße" (notfalls Videorecorder programmieren!). Der Lebensästhet tut nur, was ihm guttut, und manchmal tut das halt zufällig auch anderen gut. Sein Güteoutput, vermuten die Autoren, weiche deshalb im statistischen Durchschnitt kaum von demjenigen eines Menschen ab, der einen moralischen Imperativ anerkennt, um ihn im Zweifelsfall doch nicht zu befolgen.

Die sogenannte Lebensästhetik ist beileibe kein neues Phänomen. Zu allen Zeiten gab es Leute, aus denen nichts herauszubringen war als "Find ich gut" oder "Find ich schlecht"; im Verlauf der siebziger Jahre entwickelten sie noch eine dritte Möglichkeit der verbalen Äußerung: "Find ich so schlecht, daß ich's schon wieder gut finde". Die apodiktischen Urteile dieser Ästheten aus mangelnder Denklust sind einfach nicht kommunikabel; deshalb läßt man sich ihre Abba-Platten nur solange vorspielen, wie noch Bier im Kühlschrank ist.

Der Lebensästhet sei - vermutlich aus Angst vor gentechnisch manipulierter Nutella - ökologisch gut drauf und liberal. Denn nur Guido Westerwelle gibt ihm die Garantie, daß die Regale auch morgen noch voll sind. Doch ist hier dem Mißverständnis zu wehren, er führe ein besonders ausschweifendes oder kostspieliges Leben. Im Gegenteil findet er, wenn er sich zufällig auf Blech, Plastik und Plunder kapriziert, auch als Fahrradbote oder Abräumer bei McDonald's sein Auskommen. So taugt die Lebensästhetik zur Selbstbeschwichtigung aller, deren Humankapital chronisch unterbewertet wird.

Eine Angestelltenexistenz gilt dem Lebensästheten, da es in den meisten Kantinen keine Nutella gibt, als zutiefst verächtlich. Alles kann er sein und werden, nur kein Angestellter. Goebel und Clermont haben also noch nicht gemerkt, daß der Angestellte inzwischen nicht nur der Herr der Welt und das Salz der Erde ist, sondern zugleich der letzte Künstler und Bohemien. In jedem Hugo-Boss-Anzug steckt ein Demiurg und Proteus, der "etwas bewegen" und die Welt verändern will. Daß er das wollen soll, reden ihm seit Jahren seine Vorgesetzten und notfalls die Kollegen von McKinsey, Gerd Gerken oder ehemalige Jesuitenpatres, Erich Lejeune oder zur Nebentätigkeit berechtigte Philosophieprofessoren ein.

Mark Siemons kompiliert in "Jenseits des Aktenkoffers" das einschlägige Geschwätz, ohne ihm doch mit Entschiedenheit die Luft rauszulassen. In seinem Buch gibt es kaum einen Unterschied zwischen der Realität des Angestelltendaseins, seinem Selbstbild und dem Selbstbild, das die Ingenieure der Angestelltenseele ihm für viel Geld verkaufen wollen. Wenn er im Landrover durch die Großstadt brummt, treibt den Angestellten die Sehnsucht nach dem ganz anderen, das er doch, er ahnt es selbst, auch in Neuguinea niemals finden wird. Wunderbar - aber nicht eben neu oder sonderlich tiefbohrend. Siemons spricht vom Angestellten, meint aber durchweg den führenden Manager. Für den Mann - d.h. meistens: die Frau - am Bankschalter reduziert sich etwa die vielbesungene "Mobilität" auf die Bereitschaft, eine Versetzung von der Filiale 101 in die Filiale 132 jederzeit ohne Murren hinzunehmen. Wenn er sich nur lange genug einredet, seine privaten Zwecke seien mit den Kapitalverwertungszwecken seiner Firma vollständig kongruent, und wenn er auch noch sein Familienglück freiwillig nach dem Konzerninteresse managt, gebe es keine Entfremdung mehr. Wunderbar - nur liegt das Problem inzwischen woanders. 30 Prozent aller Bänker werden, wie man weiß, inzwischen nicht mehr benötigt und deshalb demnächst hinwegrationalisiert. Wie es ihnen dann ergeht, hätte man gern gewußt. Siemons aber brauchte, um sein Buch zu schreiben, sein Büro nicht zu verlassen; deshalb erfährt man darüber nichts.

Johannes Goebel, Christoph Clermont: Die Tugend der Orientierungslosigkeit. Verlag Volk und Welt. Berlin 1997, 208 S., DM 32

Mark Siemons: Jenseits des Aktenkoffers. Vom Wesen des neuen Angestellten. Hanser Verlag. München 1997. 160 S., DM 29,80