Der Kolporteur

Der ICE "Parsifal" befördert mich von Berlin nach Stuttgart. Alle Plätze sind belegt. Wie immer. Weil ich nicht stehen will und weil ich jedesmal, wenn ich mehr aIs zwei Stunden im Zugrestaurant verbringe, einen belehrenden Vortrag darüber anhören muß, daß einer, der nur Bier trinken möchte, höchstens zwei Stunden und keine Minute länger im Lokal sich aufhalten dürfe, selbstverständlich aber im Bistro solange verweilen könne wie dies nötig sei, also weil das Reisen in den modernen Zügen höchst unmodern abläuft, habe ich mir einen Sitz reservieren lassen. Nummer 23, Wagen sieben. Mein Platz! Ich bin glücklich. Drei Sitzreihen vor mir sitzt ein Opa im Alter von schätzungsweise 50 Jahren im Trachtenanzug. Der will nach München. In Potsdam steigt ein noch älterer Opa hinzu, schätzungsweise 35 Jahre alt, Typ Verwaltungsbeamter im mittleren Dienst, eins neunzig lang. Das Monstrum marschiert mit hochrotem Kopf auf den Trachtenhuber zu und brüllt: "He, Sie da, Sie sitzen auf meinem Platz!" Der Trachtenopa sagt: "I bleib hogge!" Das war nicht schlecht geschwäbelt für einen Bayer, doch der Potsdamer gibt nicht auf: "Wenn Sie nicht sofort abhauen, hole ich den Schaffner!" Der Trachtenopa: "Hole Se doch, was Se wolle!" Jetzt geht's los. Dem Brandenburger drückt das Blut gegen die eh schon überstrapazierte Kopf- und Gesichtshaut, die Arme schleudert er unbeherrscht durch die Luft, aus seinem Maul kommt folgendes herausgepoltert: "Frechheit, Unverschämtheit, da fahre ich einmal im Jahr mit der Deutschen Bahn und dann klappt das noch nicht einmal mit der Reservierung, und wo soll ich überhaupt mein Gepäck hinstellen, hier ist ja gar kein Platz, Schweinerei, das ist doch mittlerweile ein privater Betrieb, wenn die so weitermachen, werden die schon sehen, wo sie hinkommen, ich fahre das nächste Mal wieder mit meinem Auto, und gegen den bekloppten Transrapid werde ich auch stimmen." Inzwischen ist der ICE-Kapitän aufgetaucht und hat den Trachtenopa verscheucht, der sich wieder auf einen reservierten, aber noch freien Platz setzt, nicht ohne den Kommentar abzugeben, daß er vom Transrapid ebenfalls nichts halte. "Na, immerhin", motzt der Riese, und die Großraumwagenharmonie ist wieder hergestellt. In Brandenburg, so lese ich in der Zeitung, dürfen derzeit die Bürger - kaum zu glauben, aber wahr - über die Zukunft der schönen und schnellen Magnetschwebebahn abstimmen. PDS und Grüne und all jene, die CSU wählen würden, wenn sie könnten, sind gegen das Projekt; die Mehrheit des brandenburgischen Parlamentes aber dafür. Wenn bei dem Volksbegehren mehr als 80 000 Stimmen zusammenkommen, muß im Landtag neu verhandelt werden. Ein weiterer negativer Volksentscheid, und der Transrapid läuft auf keinen Fall durch Brandenburg, also nirgendwo hin. Momentan arbeite ich fürs Radio, und zwar für den Staatsfunk. In einer Glosse zu diesem Thema müßte ich jetzt über die verruchte Koalition von CSU, PDS und alternativer Gruppe herziehen, obwohl ich eigentlich den Transrapid nur deshalb mag, weil ich bei den verkürzten Fahrtzeiten häufiger das Bordrestaurant aufsuchen könnte. Also enthalte ich mich in so einem Fall der Meinung und ersetze diesen Absatz durch ein prima Schlagerzuspiel, und eins, zwo, drei: "Es fährt ein Zug nach nirgendwo ... O Maria, ich hab dich Iieb ..." Das kann dann ironisch, affirmativ oder überhaupt nicht verstanden werden.