Der Kolporteur

Auf dem Ladenschild steht "Wohnungsauflösungen" geschrieben, das Geschäft ist vollgestopft mit alten Silberlöffeln, Töpfen, Gemälden, Schränken, Betten, Hosen, Mützen, Büchern, Teppichen, Lampen, Münzen, Briefmarken und Objekten, die keinen Namen haben. Krimskrams der schönen und der schrecklichen Art. In Berlin gibt es Straßen, in denen es mehr solcher Entrümpelungsläden als es Dönerien gibt. Ich habe mich bislang nicht getraut, einen dieser verwunschenen Verkaufsräume zu betreten, weil ich befürchtete, ich sähe Dinge, die mich nichts angingen. Der Schlüpfer von Oma Ursel aus Wedding auf dem Zweite-Hand-Wühltisch macht mich fertig. Komische Sache für einen Reporter, der über alles schreibt, sofern die Kohle stimmt. Jeder hat eine Macke, und ich wollte eben mit den Wohnungsresten jener Menschen nichts zu tun haben, die keine Freunde, Bekannte oder Leute mehr kannten, die sich nach dem Tod um eine würdevolle Verwendung des Nachlasses hätten kümmern können.

Eine Freundin, die sich grundsätzlich ihre Wohnungsausstattung mit den Gerätschaften aus besagten Geschäften zusammenklaubt, präsentierte mir wieder mal ihre Beute. Foto, lauter Fotos. Es waren Bilder aus einem Familienalbum. Die Hauptfigur ist Helmut. Schwarzweißabzüge mit gezacktem Rand. Aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren. Helmut war in Moskau, Helmut hat auch Spanien bereist, man sieht ihn vor den Pyramiden und vor dem Big Ben. In Helmuts Leben war etwas los, Helmut hat nette Feste gefeiert. Eine Bilderserie über seinen Geburtstag verrät dies. Von dem Geburtstagskuchen für Helmut hätte ich gerne auch einmal probiert. Die zwölf anwesenden Freunde und Freundinnen haben freundliche Gesichter, gut bürgerlich sehen sie aus, aber nicht spießig, die Männer tragen Anzüge mit und ohne Krawatte, die Frauen Kleider oder die klassische Bluse-Rock-Kombi. Das Geburtstagskind wird umarmt und geküßt, nicht von einer Dame, sondern von jeder, die anwesend ist. Es wird im Wohnzimmer getanzt, es werden Texte vorgelesen, es wird gelacht. Vielleicht ist es dumpfes Zeug, was damals am Geburtstagstisch von Helmut gesagt wurde, doch das mag ich nicht glauben. Helmut wird längst tot sein, ich schätze, er war Mitte vierzig, als die Fotos gemacht worden sind. In schöner Handschrift ist "2. Februar 1957" auf die Rückseite eines Bildes notiert, auf dem Helmuts Ehefrau zu sehen ist. Ich erinnere mich an meine Oma, die ähnliche Bilder auf die Kommode in ihrem Schlafzimmer gestellt hatte. Irgendwann, als sie starb, haben meine Eltern diese Aufnahmen geerbt. Inge, so hat Helmuts Gattin geheißen, hätte ihre Schätze wohl auch gerne weitergegeben. Jahrelang halfen sie, sich in der Einsamkeit an den geliebten Helmut zu erinnern.

Prima Bilder, prima Geschichte, sagte ich, daraus könnte ich einen Fotokolporteur machen. Okay, wenn du's nicht lassen kannst, antwortete die Freundin, und schon hatte ich die Fotos eingesteckt. Sie war über den Vorfall nicht besonders empört, meinen Verwertungsblick kannte sie schon. Die Aufnahmen liegen seit Wochen auf meinem Schreibtisch, ich habe sie immer und immer wieder angeschaut, und sie stets auf den Stapel "Noch zu erledigen!" zurückgelegt. Jetzt habe ich beschlossen, die Schnappschüsse aus dem Leben von Helmut doch nicht zu veröffentlichen. Man weiß ja nie, vielleicht treffe ich Inge und Helmut ja im Himmel wieder. Ich werde die Fotografien meiner Freundin zurückgeben, wenn dieser Text erscheint.