Links & Rechts, Rechts & Links

Abschied von einer Idee

Nach Auschwitz ist Kommunismus ein Zirkelschluß.

Dank Goldhagen werden, mit einem halben Jahrhundert Verspätung, die Deutschen auch von ihren Linken als Mörder erkannt. Dem bürgerlichen Wissenschaftler, der ihnen beim Formulieren der überfälligen Einsicht freundlichst zur Hand ging, verübeln sie gleichwohl, an keiner ihrer Kapital-Schulungen teilgenommen zu haben. Verbohrt wird am Kommunismus geklammert, nachdem die freien Produzenten, denen er nicht bloß verordnet, dessen Verwirklichung ihnen auch angetragen war, einem Verein freiwilliger Todesengel den Vorzug gaben.

Schwerlich könnte Kapitalismuskritik davor zurückweichen; Marx und die Kritische Theorie sind zur Rationalisierung des Irrationalen heranzuziehen; dem revolutionären Pessimismus, der Marx wie der kommunistischen Utopie widerstrebt, ist seit Auschwitz keine Theorie mehr gewachsen.

Fragwürdig ist im kollektiven Wahn auch jenes Kollektiv geworden, das einst als machtvolle Organisation atomisierter Massen die Aufhebung der das Individuum gängelnden gesellschaftlichen Verhältnisse anzukündigen schien. Da Emanzipation ursprünglich nur als Kampf gegen die in den Händen der herrschenden Klasse befindliche Macht vorstellbar war, als kollektive Gegenmacht, verbanden sich in der Vorstellung Kollektiv und Emanzipation. Das als Klasse unterdrückte Individuum müsse, um an Freiheit heranzukommen, die ihm freie Marktwirtschaft verwehrte, sich einem Kollektiv einordnen - die falsche Freiheit seiner Warenform ablegen -, wofür ihm ein Wechsel auf wahre Freiheit, die auf den Sturz der Herrschenden folgen würde, ausgeschrieben wurde. Das versprach einst die Lehre vom absterbenden Staat.

Das Geschäft war Betrug wie schon der Schein gerechten Tauschs zuvor beim Verkauf der Ware Arbeitskraft: Auch der kollektivistisch vergesellschaftete Produzent bekam nur ein Wertäquivalent - das Notwendigste für seine Reproduktion - und nicht das Darüberhinausgehende; die ungekürzte Verfügung über die Früchte seines Tuns wäre die unabdingbare materielle Voraussetzung seiner Befreiung gewesen.

Klassenkampf wurde vollends irrational, zum Machtfetisch, als sich Macht der Gedankenwelt jedes Einzelnen bemächtigt, sich Herrschaft vom Instrument in der Hand einer Klasse zum allgegenwärtigen Tauschprinzip verabsolutiert hatte. Macht wurde dem Individuum innerlich - als die ihm vom Produktionsfluß aufgezwungene und selbstauferlegte Herrschaft über sich. Noch bevor der Sozialismus in einem Land die Hoffnung auf eine von der Herrschaft des Menschen über den Menschen freien Welt im bürokratisch erzwungenen Kollektiv erstickte, wurde Kollektivismus die Ideologie der vogelfreien Massen im Krisenkapitalismus, das Kollektiv als kollektives Über-Ich Modell totaler Vergesellschaftung.

Jeder diese neue Konstellation nicht beachtende Versuch, Emanzipation in das Schema vergangener Klassenkämpfe und Bauernkriege zu zwängen, mußte in Antisemitismus umschlagen, noch bevor die Juden ins Schußfeld gerieten. Die Massen verdammten selbst die Reste ihrer ihnen verhaßten, weil ihrer Gleichschaltung hinderlich gewordenen Individualität aus dem Kollektiv. Die Unheiligen, die sich ihrem "notwendig falschen Bewußtsein" als Fremdkörper entgegenstellten, wurden zum Spiegel eigenen Unverstands. Das Kollektiv machte aus der fixen Idee, wegen welcher es sich zusammenrottete, Wirklichkeit; aus der Wahnvorstellung einer "jüdischen Verschwörung" wurde eine wirkliche Verschwörung gegen die Juden.

Das steckt im Begriff der Volksgemeinschaft, der "die Organisation eines ganzen Volkes für den Zweck der Welteroberung nach dem Modell der 'Weisen von Zion'" propagandistisch zusammenfaßte (Hannah Arendt). Noch vor der "Arisierung" jüdischen Eigentums war der Deutsche konsequent genug, seine in der Produktion erbleichte Menschenhaut ganz abzulegen und in die erdbraune Uniform einer "arischen Blutgemeinschaft" zu schlüpfen. Kollektiv verraßt wurde der Antisemit zum tödlichen Feind für die Juden.

Emanzipation erweist sich als Zirkelschluß: Nur freie Produzenten könnten das Statut eines Vereins freier Produzenten verfassen, der erst die Voraussetzung ihrer Befreiung böte. Das, so Adorno, sei falsch an Marx' Forderung, die Welt zu verändern anstatt sie bloß zu interpretieren, seit "die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist". Dann wäre es aber auch kein "praktischer Frevel", wie er hinzufügt, die sich paradox daraus ergebende "Atempause zum Denken" nicht zu nutzen. Wenn Theorie nicht mehr sagen kann, was praktisch aus ihr folgen soll, stellt sich Praxis theoretisch stur und der Frevel, den Theorie begehen mag, ist wie immer ihr eigener. Wenn die mögliche Beziehung von Erkenntnis auf verändernde Praxis "zumindest temporär gelähmt" ist, kann Theorie davon nicht unbeeinflußt bleiben. "Praxis wird aufgeschoben und kann nicht warten; daran krankt auch Theorie. Wer jedoch nichts tun kann, ohne daß es, auch wenn es das Bessere will, zum Schlechten auszuschlagen drohte, wird zum Denken verhalten; das ist seine Rechtfertigung und die des Glücks am Geiste." Doch als selbstgenügsame Theorie ist Denken so ziellos wie die unbedachte Praxis; als bloßes Getue und Gerede sind sie gleichermaßen Beschwichtigung, die Katastrophe sei nur eine verlorene Schlacht und nicht die Endlösung gewesen.

Theorie und Praxis verhärten sich gegeneinander, um sich zu erhalten. Postmoderne, statt nur eine Verirrung der Philosophie zu sein, ist damit der treffende Name für die Nachwelt, nach der im Innern der Lager handgreiflich gewordenen äußersten Konsequenz bürgerlicher Naturbeherrschung. Theorie, revolutionäre allemal, mußte kapitulieren, als sich die Massen nicht gegen, sondern für Hitler entschieden. Erst Armeen von Staaten, die nur ein Spalt - und ein Abgrund - von ihrem Gegner trennte, zwangen Deutschland zur Kapitulation. Paradox genug drängten sie Theorie dadurch, die ihr unverdauliche These vom Zivilisationsbruch zu schlucken. Theorie macht dies heute wett, indem sie jeden - auch den gut gemeinten - Dienst am Volk verbietet.