Freiheit für Jürgen Schneider!

Jürgen Schneider kann, je länger sein Prozeß dauert, umso eher mit seiner baldigen Freilassung rechnen. Das wäre nur gerecht, denn was wird Schneider eigentlich vorgeworfen? Daß er seine Kreditgeber betrogen hat? Dann müßten einige Herren aus der Chefetage der Deutschen Bank ebenfalls angeklagt werden. Hilmar Kopper und seine Manager haben die vorgelegten Bauunterlagen nicht ordnungsgemäß geprüft, das war zumindest fahrlässige Unterlassung. Oder soll Schneider verurteilt werden, weil er zwei Milliarden Mark Schulden hinterlassen hat? Damit befände er sich nur in guter Gesellschaft: So stieg unter dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen die Verschuldung Berlins auf über sieben Milliarden Mark. Edzard Reuter war als Vorstandsvorsitzender für das Minus in der Dasa-Bilanz 1995 in Höhe von fünf Milliarden Mark verantwortlich. Last not least konnte Bundesfinanzminister Theo Waigel nicht verhindern, daß sich das Defizit der öffentlichen Hand seit der Wiedervereinigung auf über zwei Billionen Mark verdoppelte. Sollen also neben Schneider auch Kopper, Diepgen, Reuter und Waigel ins Gefängnis?

Die diskursive Kopfjagd auf die vermeintlich Schuldigen an der Wirtschaftskrise greift Motive des nazistischen Antisemitismus auf: Die Unterscheidung zwischen dem braven Unternehmer und dem bösen Spekulanten, zwischen dem schaffenden und dem raffenden Kapital, zwischen dem nationalbewußten Steuerzahler und dem luxemburgischen oder monegassischen Vaterlandsverräter. Die Geilheit, mit der ein Arbeitsloser von der Dasa oder ein Sozialhilfeempfänger aus Neukölln via Bild in die Gefängniszelle von Graf oder Schneider stieren durfte, sollte die quälende Erkenntnis beschwichtigen, daß man sich gegen das System erheben, zumindest aber selbst eine Bank überfallen müßte, um dem Elend zu entkommen. Wie leicht fällt es doch, seine Notdurft durch die Peepshow in die Prominentenknäste zu befriedigen.

Es ist bestenfalls naiv, die "Nieten in Nadelstreifen" für die Krise verantwortlich zu machen oder, in Umkehrung der gängigen Stigmatisierung, die Reichen als "Sozialschmarotzer" zu attackieren. Seit Mitte der siebziger Jahre geht weltweit die Umsatzrendite in der Produktion zurück, deshalb fließt das anlagesuchende Kapital in die Spekulationssphäre ab. Wer will heutzutage angesichts einer prekären Absatzlage sein Geld langfristig im produktiven Sektor binden, wenn er an der Börse sehr viel schneller und sehr viel mehr Geld verdienen kann? Vor dem Problem, die Finanzmärkte für Investitionen in Großbauprojekte und Industrieanlagen zu gewinnen, stehen Regierung, Unternehmer und Bauherren gleichermaßen. Schneider hat das Problem gelöst: Er wickelte die Banker um den kleinen Finger, indem er für seine Immobilien ebenso hohe Gewinne in Aussicht stellte, wie sie ansonsten nur im Aktien- und Wertpapiergeschäft erzielt werden. Zu diesem Zweck mußte er betrügen.

Schneider hat lediglich im Kleinen wiederholt, was das vielbestaunte japanische Wirtschaftswunder der achtziger Jahre ausgemacht hat. Damals hängten die japanischen Konzerne durch extensive High-Tech-Aufrüstung ihres Maschinenparks die Weltmarktkonkurrenz ab, ihre Exporte explodierten. Doch diese Modernisierung war nach dem Schneider-Modell finanziert worden, und zwar so: Zunächst hatten japanische Banken billige Kredite an die Immobilienbranche gegeben, es wurde wie wild gebaut und renoviert. Dann wurden durch Monopolisierung von Grund und Boden die Preise in astronomische Höhe getrieben - ein Quadratmeter in Tokios Innenstadt kostete schließlich genausoviel wie die Gesamtfläche des US-Bundesstaates Texas. Zuletzt fragten Schneiders japanische Vorbilder, mit diesen phantastisch überhöhten Immobilienwerten als Sicherheit, bei den Banken um weitere Kredite nach - und meistens wurden ihnen diese auch gewährt. Dieser Geldregen führte zu einem gigantischen Boom, einer gigantischen Münchhausiade: Die Börse in Tokio sprengte alle Rekorde, 1989 erreichte der Nikkei-Index seinen Höchststand mit 40 000 Punkten - da kam der Schwarze Freitag: Die Immobilienblase platzte, der Nikkei stürzte auf 18 000 Punkte ab.

Gegen die Folgen dieses Crashs nehmen sich Schneiders Schulden tatsächlich wie Peanuts aus: Seit dem Big Bang von 1989 dreht sich in Japan eine deflationäre Spirale, das Wirtschaftswachstum liegt in der Nähe des Nullpunktes, die Aktien verloren fast zwei Drittel ihres Kurswertes. Nach unabhängigen Schätzungen müssen die Banken umgerechnet 1,2 Billionen Dollar an Verlusten abschreiben, das ist ein Viertel der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes. Die Sanierung der faulen Kredite erfolgt über die laufenden Erträge der Finanzinstitute, was auf viele Jahre hinaus Kapital bindet, das deswegen nicht mehr für Investitionen zur Verfügung steht.

Wer die Krise Finanz-Jongleuren wie Schneider und seinen japanischen Protagonisten anlastet, der irrt. Ebensogut könnte man das Thermometer für das Fieber verantwortlich machen. Ihr Wirken ist nicht Grund, sondern lediglich Ausdruck der Verwertungsprobleme der Wirtschaft. Immerhin haben Schneider und die japanischen Immobilienfirmen wenigstens für einige Jahre den Rückzug des Kapitals in die Spekulationssphäre stoppen können, sie haben mit irrealen Versprechungen reale Unternehmungen in Angriff genommen, reale Arbeitsplätze geschaffen. Und in Ostdeutschland war Schneider der Zauberkünstler, der die Traumbilder von "blühenden Landschaften" bzw. "lebendigen Innenstädten" wenigstens ein bißchen in die Wirklichkeit geholt hat. Ohne ihn hätte es nicht einmal das gegeben.