17. Die Wiedergutmachung

Fortgesetzte Erzählungen

Es ging schon auf Abend.

Ein warmer Westwind trug den Duft der Tierkörperverwertungsanstalt von Hofacker über den Teich von Lamerden, das nicht auf der zweiten Silbe betont, sondern L‡mmaden ausgesprochen wurde, um den Eindruck zu vermeiden, die Gründer des Dorfes - französische Hugenotten im späten siebzehnten Jahrhundert - hätten sich über ihre neue Heimat abfällig äußern wollen: La merden.

Stroessel angelte, egal was kam. Unbeirrt vom Gestank der Abdeckerei, holte er die Schnur ein, löste vorsichtig den Angelhaken und warf seinen Fang zurück in die Pfütze, denn er aß keinen Fisch.

Sprachen wir schon über Stroessel? Jeremias Stroessel? Lehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde, der bei den Nazis wegen Wehrkraftzersetzung gesessen hat?

Onkel Jämie, der seine Nichte Ida Schindehütte dazu überredete, den mutmaßlichen Heimkehrer Mendel Hirsch nicht bei der Polizei zu beschuldigen, sie mißbraucht zu haben?

Tu's nicht, Ida, sie warten nur darauf. Es ist Wasser auf ihre Mühlen. Er muß viel durchgemacht haben. Betrachte es als eine Art Wiedergutmachung.

Ein Riß ging durch die Schindehüttesche Sippschaft: Anna war noch nicht ganz geheilt vom Hitlerwahn, ihr Bruder Jeremias Stroessel bei den Sozen, ihr Mann Walter, der Sattlermeister, verpaßte seinen Bäumen und Büschen immer waghalsigere Frisuren, und ihre Tochter Ida stand auf Juden.

O ja: Erst auf Mendel Hirsch, den Colonel, und neuerdings auf Max Klebe, Schindehüttes Untermieter, was aber keine Schande war.

Nach oben hin hatte auch Anna nichts gegen einen Israeliten im Haus - Israelit, sagten die Hofackerer, weil sie dachten, Jude, das klingt so abfällig, wie Neger oder Zigeuner, zu denen man jetzt auch besser Sinti und Roma sagte, schon weil die Nazis keine Sinti und Roma ermordet hatten, nur Zigeuner und Juden -, also nichts gegen einen Israeliten im Haus, so lange er pünktlich die Miete zahlte, sich anständig benahm, nicht frech wurde und vor allem kein Gedöns drum machte, daß seine Abstammung nicht ganz koscher war. Etwas unchristlich gewissermaßen.

Ein junger Mann in Räuberzivil kam die Holländische Straße herunter. Stroessel konzentrierte sich auf die Fische, die Stille, die schräg einfallenden Sonnenstrahlen und die Wassergleiter. Vielleicht, dachte er, bemerkt er mich nicht, wenn ich mich auf die Landschaft konzentriere, die Schwalben (die sich in rasantem Flug auf die Wasserfläche stürzten) und so weiter. Polen sind meistens besoffen.

Doch alles Wegsehen nutzte nichts. Der Radler schien die scharfe Kurve vor dem Teich nicht zu bemerken, flog über die Böschung und landete im Wasser. Stroessel stand auf und wartete, ob er aus eigener Kraft auf die Füße kam.

Sie kannten sich flüchtig. Matthäus, kurz: Matthis, dies der Name des unachtsamen Radlers, hatte während des Krieges bei Frau Finger als Knecht gearbeitet und gehörte seit seiner Befreiung zu den sogenannten DPs, die auf einer zugigen Hochebene östlich von Hofacker in einem Barackenlager interniert waren.

Arme Schweine, diese displaced persons, die nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten - Polen, die Ukraine, Belorußland -, wo man sie für unzuverlässig hielt, infiziert vom Lifestyle ihrer Sklavenhalter, so daß sie damit rechnen mußten, abermals deportiert und zur Zwangsarbeit verdonnert zu werden, diesmal irgendwo in den sibirischen Weiten.

Sie galten als überversorgt, undankbar und gefährlich. Kaum eine Untat, die man ihnen nicht in die Schuhe schob: Brandstiftung, schwerer Diebstahl und Raub, Notzucht und Totschlag. Was heute die Rumänenbanden sind, waren in den ersten Nachkriegsjahren die DPs.

Stroessel machte sich Sorgen: Sollte er ins Wasser springen und sich naßmachen? Womöglich auf die Gefahr hin, von dem Ertrinkenden ertränkt zu werden? In seiner Not klammerte der Pole sich an seinen Retter, drückte ihn unter Wasser, kam selbst auf die Beine, ward gerettet und kümmerte sich nicht um den hilfsbereiten Pädagogen, der nun schon leblos im stillen Schilf dahintrieb.

Gezappel im Wasser unterbrach Stroessels Bedenken. Gliedmaßen wurden sichtbar, ein Mann tauchte auf, schnaubte und schniefte und tappte, sein Fahrrad hinter sich herziehend, ans Gestade. Stroessel winkte ihm erleichtert zu, deutete mit Handbewegungen an, daß neben ihm noch Sitzplätze frei seien, und rief freundschaftlich:

"Hallo, Matthis! Na, verfahren?"

Der Pole grinste schüchtern, nahm das Handtuch, rubbelte sich die Haare trocken und sagte:

"Ha, das tut gut! Ein kühles Bad!"

Später saßen sie friedfertig beieinander, rauchten Stroessels schwarze Pilot, tranken seinen kalten Muckefuck und der Lehrer erging sich in langen Diskursen.

"Du kannst gut schwimmen!" sagte er, obwohl Matthis nur gelaufen war. "Aber im Schwimmen wart ihr Polen uns immer schon überlegen. Der Deutsche ist an sich eher eine Landratte."

Matthis grunzte: "Naja, es geht." Sein rechtes Auge war fast geschlossen, nur das linke schielte auf Stroessels Hosentasche mit der Uhrkette.

"Ihr Polen seid uns überhaupt in sehr vielen Dingen überlegen", sagte Stroessel mit Bewunderung in der Stimme. "Wenn bei euch einer Staatspräsident wird, dann ist er garantiert ein Großmeister im Schachspiel, bedeutender Tonkünstler oder Poet. Und selbst wer nichts wird, wird immer noch Literaturkritiker. Bei den Deutschen ist es umgekehrt."

Der Pole riß die Augen auf, egal ob vor Müdigkeit oder Erstaunen, holte ein großes Messer aus der nassen Tasche, klappte es auf und begann sich den Schlick von der Jacke zu kratzen. "Nu' übertreib' mal nicht, Stroessel", sagte er.

"O doch!" sagte Stroessel nachdrücklich, "der Pole ist ein Künstler: Denk nur an Jan Karol Chodkiewicz, den großen Hetmann von Litauen! Auch er ein Pole! Was hat dagegen der Deutsche? Ein Volk von pedantischen Buchhaltern und mittelmäßigen Bürokraten. Ich weiß gar nicht, wie die Nazis auf die Idee kommen konnten, ihre Untertanen für eine überlegene Rasse zu halten."

Der Pole war jetzt dazu übergegangen, sich mit dem Messer den Schlamm zwischen den Fingern abzukratzen und die Fingernägel zu säubern. "Alle Polen sind Kacksacker", sagte er verächtlich.

"Schweig still, Matthis, ich weiß, wovon ich rede", sagte Stroessel emphatisch. "Es gibt nicht eine vernünftige Entschuldigung dafür, warum wir Deutschen euch überfallen, euer Land zerstört, eure Intelligenz ermordet, eure jungen Männer und Frauen verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen haben. Oder kannst du mir einen vernünftigen Grund dafür sagen?"

"Kannst du mir sagen, wie spät es ist?" sagte Matthis.

Er deutete mit der Messerspitze auf die Uhrkette, die vom Hosenbund in die Tasche führte. Stroessel tat so, als hörte er nichts. "Wir Deutschen sind eine minderwertige Rasse, nicht ihr Polen! Uns hätte man überfallen, versklaven und ausrotten müssen, nicht euch!"

Matthis schob das Messer in die Gurtelschlaufe mit der Uhrkette, schnitt sie auf, zog Stroessel die Uhr aus der Tasche und erhob sich.

"Ach, weißt du", sagte er, und begann das Ding aufzuziehen, "es gibt auch anständige Deutsche. Ich zum Beispiel, kann mich nicht beklagen. Frau Finger war immer korrekt zu mir."

Er schob die Uhr in die Tasche, als wäre es seine. "Essen gut und reichlich", sagte er, "Bett sauber und nicht zu viel arbeiten. Arbeit ja, muß sein, aber nicht kaputt machen, Pole auch nur Mensch. Ich jetzt nach Jaroslaw. Polen. Frau warten."

Er hob sein Rad auf. Stroessel nickte traurig. Es war die Uhr seines Großvaters, der sie von August Bebel persönlich in Eisenach als Geschenk bekommen hatte, und Stroessel hätte nie gedacht, daß es ihm eines Tages so schwer fallen würde, einen Beitrag zur Wiedergutmachung zu leisten.

"Schon recht, Matthis", sagte er leise, "und gute Reise. Grüß deine Frau Gemahlin."

Matthis lachte. "Du bist ein guter Mensch", sagte er, und sein Deutsch war jetzt wieder tadellos. Er klopfte sich auf die Hosentasche. "Ich bring sie dir wieder, eines Tages. Ich werde sagen, du hättest sie mir geschenkt, zum Dank. Aber keine Angst."

Stroessel sah ihm nach wie er sein Rad nach Hofacker hinaufschob. "Möchte wissen", dachte er, "wo dieser Eierdieb so gut Deutsch gelernt hat. Naja, hat die Sache, daß er verschleppt wurde, doch ihr Gutes gehabt."

Er beschloß, ihm die Sache mit der Uhr zu verzeihen.

Die ersten 15 Erzählungen erschienen als Supplement in der Jungle World, Nr.52/1, 1997. In der nächsten Woche wird "Das Wespennest" mit der Folge 18, "Auf der Sierra", fortgesetzt.