Straße ohne Wiederkehr

Erlebt die Demo eine Renaissance? 17 Aufsätze in Ästhetik & Kommunikation wollen es klären

Am 19. November vergangenen Jahres, so um die Mittagszeit, schob sich ein seltsam anmutender fünfköpfiger Demonstrationszug durch das arktisch temperierte Berlin-Kreuzberg und ruckelte bedrohlich in Richtung Bannmeile: Ein Kleinlaster mit Plakatwänden aus Sperrholz auf der Ladefläche, in der Kabine zwei dicke Frauen mittleren Alters; ein Schubkarren, symbolisch mit Aktenordnern beladen und von einem bärtigen Sandwichmann geschoben; gefolgt von einem Trecker, ebenfalls mit Sperrholztafel in der Schaufel. Die gepinselten Botschaften, soweit man sie entziffern konnte, lauteten: "Acht Jahre Bürokratenwillkür sind genug!", "Jetzt machen wir Druck!" und "Dauerbeschäftigte Speditionsfirmen sind Fuhrunternehmen im Sinne des Paragraph 124b Frachtfernverkehrsgesetzes und keine Subunternehmen nach Paragraph..."

So oder so ähnlich. Zwar handelte es sich bei Licht betrachtet um nicht viel mehr als den spinnerten Einfall eines Kleinunternehmers, der sich, aller juristischen Einspruchsmöglichkeiten in seiner Angelegenheit beraubt, nicht anders zu helfen wußte, als die Belegschaft - bei vollem Lohnausgleich zzgl. Risikopauschale - auf die Straße zu schicken. Das ändert jedoch nichts daran, daß damit gleichzeitig und eher unfreiwillig ein gewisser Tiefpunkt in der Entwicklung der Straßendemonstration markiert wurde. Nur noch anachronistische Gruppen wie Bergarbeiter, Bauarbeiter und Studenten bedienen sich ihrer. Der Normalbürger verzichtet darauf, den eigenen Belangen physischen Nachdruck zu verleihen und den eigenen Körper in den immer irrelevanteren öffentlichen Raum zu hieven; es sei denn, siehe oben, er würde dafür bezahlt.

Ungeachtet dessen taugt die "Demo" nach wie vor als Projektionsfläche und zur allegorischen Indienstnahme. Man nehme beispielsweise die im letzten Jahr erschienenen Romane "Erste Liebe Deutscher Herbst" von Michael Wildenhain und "Amerikahaus" von F.C. Delius zur Hand, in denen Demonstrationen als "Geschiebe von Körpern" zur Versinnbildlichung politischer Initiation etc. herhalten müssen. Was die Theorieanbindung anbetrifft, hat jetzt das Periodikum Ästhetik & Kommunikation nachgelegt und mit seiner jüngsten Nummer "Demos - Rückkehr der Straße?" einen Blick nach "draußen" gewagt, nachzusehen, ob sich dort noch jemand bewegt. Und tatsächlich: Castor-Proteste, die Kollektivtrauer um Lady Di, der Siegeszug des Internet, die Belgrader Opppositionsbewegung, die Love Parade, alles deutet auf eine Renaissance der verloren geglaubten Demonstrationskultur, auf eine Rückkehr der Straße hin. Darüber, wie die Phänomene zu deuten sind, gehen die Einschätzungen der Autoren und Autorinnen dann aber doch auseinander: Während Dieter Hoffmann-Axthelm in seinem Eröffnungsbeitrag die Funktion der Demonstration nach dem faktischen Verschwinden des öffentlichen Raumes lediglich noch im "Sichzeigen" lokalisiert, vermutet Mathias Edler unter Rückgriff auf Hannah Arendt das Erfolgsgeheimnis der Gorleben-Aktivisten in der Fähigkeit des immer wieder neu Zusammen-"Anfangenkönnens". Abgesehen von diesen ontologischen Ungereimtheiten sind beide Aufsätze durchaus aufschlußreich. Axthelm mahnt an, vor der Fetischisierung des öffentlichen Raumes und dem larmoyanten Beklagen seines Verschwindens doch bitte erst einmal zu klären, welches Konzept von Öffentlichkeit diesem Begriff zugrunde liegen soll. Und ob da nicht vielleicht insgeheim die an der griechischen Agora orientierte idyllisierende Vorstellung einer Dorf- und Marktplatzöffentlichkeit mitschwinge?

Diese wäre heute allenfalls noch in ruralen Strukturen oder eben im Internet praktikabel und würde implizit eine Absage an jegliche Urbanität und an die moderne Stadt schlechthin bedeuten. In der ebensowenig attraktiven römischen Variante kommt die Plebs überhaupt nur als Ornament vor, was im Prinzip gleichbedeutend mit Faschismus wäre. Um also überhaupt noch sinnvoll über das Konzept des öffentlichen Raums nachdenken zu können, gilt: "Als erstes wird man die falschen Freunde loswerden: Sobald man die Verniedlichung des Wohnumfeldes streicht, wird man für die Straße keine, schon gar keine linke oder grüne Mehrheit mobilisieren." Im übrigen sei es angezeigt, sein Augenmerk auf den Straßenverkehr zu richten, weil es sich bei diesem um das letzte Refugium der klassischen demokratischen Öffentlichkeit handele. Nicht, daß man damit ein wesentliches Stück weiter wäre, aber immerhin gut zu wissen.

Mathias Edler zerlegt sachkundig den "Mythos Castor" in seine Bestandteile und weist schlüssig nach, wie die Ausgrenzungsstrategie einer Gruppe von Sitzblockierern, die sich zuvor einzeln schriftlich auf absolute Gewaltfreiheit eingeschworen hatten, sie mit einem Mal zwischen die Fronten geraten ließ - was sie jedoch keineswegs davor bewahrte, von der Polizei durchgelassen zu werden. Ob es dafür unbedingt Carl Schmitts Freund/Feind-Schema bedurft hätte, sei dahingestellt. Edlers plausibles Fazit lautet jedenfalls: "Als mittlerweile salonfähige Bewegung wird es für die Anti-AKW-Aktivisten in Zukunft schwer, sich den Sozialdemokratisierungstendenzen zu entziehen, eben nicht den politischen Gegner zu kopieren (Wir sind doch auch sauber und ordentlich, wir sind kein unappetitliches Pack!) und damit das eigene politische Gewicht zu verspielen."

Der Rest des Heftes ist eher unerheblich, mal ganz abgesehen davon, daß einer Zeitschrift, die sich der ästhetischen Kommunikation verschrieben hat, ein derart miserabler Satz und ein ebensolches Lektorat nicht gerade gut zu Gesicht stehen. Zwar mag es ganz informativ sein, zu erfahren, daß zwischen 1990 und 1995 auf dem Gebiet der alten BRD 49 469mal demonstriert wurde, und das eine Steigerung von knapp über 30 Prozent gegenüber dem Zeitraum 1980 bis 1985 bedeutet, wie uns Thomas Ballistiers Beitrag wissen läßt; daß indes "eine Menschenkette völlig andere Werte (verkörpert) als ein Raketenlager, das sie umzingelt: Friedlichkeit und Vertrauen zum Beispiel, statt Gewalt und Realität" - irgendwie hatten wir uns das schon gedacht bzw. hätten es uns fast selbst ausrechnen können. Auf die zunehmende Bedeutung der medialen Vermittlung ˆ la Greenpeace hinzuweisen, ist ebenso originell wie rundheraus die Aussichtslosigkeit von Demonstrationen angesichts einer alles einheimsenden Totalität der Globalisierung zu postulieren. Und auch wenn Adrian Kennedys satirische Fiktion einer Adeligen-Demo in London gegen das Verbot der Fuchsjagd ein weiteres kurzweiliges Highlight des Heftes abgibt, vermag sie doch nicht wieder gutzumachen, was René Althammers kaum als Polemik zu rettendes haltloses Schwadronieren über das "demonstrationsfreie Land" Deutschland zuvor angerichtet hat: "Das Beharren auf den eigenen besitzstandwahrenden und mehrenden Interessen paralysiert die Gesellschaft. Wer mehr will, wird am Ende alles verlieren. Und die Formel: Aber den Reichen geht es doch immer besser, kann konsequent nur dazu dienen, daß man die Reichen enteignet, eine Revolution macht und die Gleichheit aller auf die Tagesordnung setzt. Das allerdings hatten wir schon, das Ergebnis ist bekannt."

Schweigen möchte ich ferner über den unlesbaren Text von Dieter Mersch "Zur Logik ästhetischer Demonstration", der mit Beuys und Heidegger die "Eskalation des Performativen" herbeiorakelt, sowie über den Beitrag zu den Bürgerprotesten in Serbien, der sich zu der Behauptung versteigt: "Zum ersten Mal in der Geschichte der Proteste gab es keine Verbitterung und keinen Haß als Spiritus movens der lärmenden Mengen, sondern ein Gefühl des kollektiven Selbstbewußtseins, bei dem jeder in der Menge wußte: Wir haben gewonnen, ich habe gewonnen!"

Und was ist nun mit der Rückkehr der Straße? Ein roter Faden will sich hinter alldem partout nicht abzeichnen. Wahrscheinlich verhält es sich damit, wie es Franz Mahnert in seinem hellsichtigen, gegen Ende allerdings in ephemere Betrachtungen über Stuttgart abdriftenden Beitrag mutmaßt: "Das Zur-Kenntnis-Nehmen, daß es hier und da mal wieder rumpelt, liefert noch keinen Beweis dafür, daß sich hier eine neue Bewegung konstituiert, die die versteinerten Verhältnisse über den Haufen schmeißen könnte. Das Rumhegeln von der Wiederkehr eines historischen Transzendentalsubjektes, das schon alles richten wird, ist wohl eher Ausdruck gedemütigter Omnipotenzphantasien einer gescheiterten Generation, die nach Abzahlung des Bausparvertrages oder abgeschlossener Habilitation mal gerade wieder Zeit für solche Sperenzchen hat. Und die Tatsache, daß es überall immer mal wieder rumpelt, ist lediglich Beweis dafür, daß es überall immer mal wieder rumpelt."

Ästhetik & Kommunikation: "Demos - Rückkehr der Straße?", Heft 99, Dezember 1997, 125 S., DM 20