30-Stunden-Woche

Kein Streik für Lohnverzicht

Mit einer neuen Offensive wollen die Gewerkschaften die Einführung der 30-Stunden-Woche erreichen. Der Vorschlag stößt jedoch immer mehr auf Skepsis. So läuft für rund 200 000 Beschäftigte in der Druckindustrie in wenigen Wochen der Tarifvertrag über die Arbeitszeit aus - seit Mai 1995 gilt hier die 35-Stunden-Woche. Die IG Medien sieht jedoch davon ab, den Tarifvertrag zu kündigen: Alleine traut sich die Gewerkschaft nicht zu, einen weiteren Schritt in Richtung Arbeitszeitverkürzung zu gehen. Und ob die IG Metall Ende des Jahres ihren Arbeitszeit-Tarifvertrag kündigen wird, ist ebenfalls nicht sicher. IG Metall-Chef Klaus Zwickel forderte bereits vor einem Jahr die 32-Stunden- und 4-Tage-Woche. Unter "bestimmten Voraussetzungen" - zum Beispiel Beschäftigungssicherung - wäre Zwickel dafür bereit, auf Lohnausgleich zu verzichten. Auch im öffentlichen Dienst werden derzeit Tarifverhandlungen geführt. Ursprünglich wollte ÖTV-Chef Herbert Mai die Entgeltsrunde mit der Frage Arbeitszeit und Beschäftigungssicherung verknüpfen. Allerdings ist ihm in dieser Frage die eigene Basis nicht gefolgt und zudem hat ihn der Verhandlungsführer des Bundes, Innenminister Manfred Kanther, abblitzen lassen. Bei einer nachprüfbaren Verpflichtung der öffentlichen Arbeitgeber für Beschäftigungssicherung und Neueinstellungen wäre Mai bereit, die Arbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich zu verkürzen.

Die ÖTV-Basis will hingegen für mehr Cash auf die Straße gehen. Für Reallohnverzicht würde kaum ein Müllmann die Tonnen stehen lassen. So wie Zwickels "32-Stunden-Woche" auf Skepsis der Basis stößt, so hat es Mai auch nicht leicht, für seine Idee der "30-Stunden ohne vollen Lohnausgleich" zu werben. DGB-Chef Dieter Schulte brachte gar schon die 25-Stunden-Woche ins Gespräch und erntete dafür Lacher. Erst vor wenigen Wochen mußte sich die IG Medien im Bereich Zeitungsredaktionen von der bereits vereinbarten 35-Stunden-Woche verabschieden. Unisono betonen alle Gewerkschaften, daß an einer weiteren Arbeitszeitverkürzung kein Weg vorbeiführe. Den Arbeitgebern wird ein bunter Strauß unterschiedlicher Maßnahmen zur Verhandlung angeboten: Altersteilzeit, mehr Teilzeit, Blockfreizeit, Jahresarbeitszeit oder Arbeitszeitkonten sollen im Ergebnis zur Arbeitsumverteilung führen.

Aber warum sollten sich die Arbeitgeber freiwillig auf solche Verhandlungen einlassen? Das Kapital hat wegen der Schwäche der Gewerkschaften die einmalige Gelegenheit, den "Sozialpartner" an der ausgestreckten Hand verhungern zu lassen. Indem die Gewerkschaften die Tarifflucht im Osten zugelassen haben und damit zweierlei Verwertungsbedingungen für die Ware Arbeitskraft akzeptierten, befinden sie sich nun in der Defensive. Jetzt müssen sie zusehen, daß sich der Westen nicht dem Osten angleicht.