Diskurs essen Linke auf

Let’s go, Aufklärer!

Auch in der Goldhagen-Debatte können Umwege über Frankreich produktiv sein.

Die Freiburger Initiative Sozialistisches Forum (ISF) versteht sich auf Differenz und Wiederholung zum Zwecke von Denunziation und Ausgrenzung. "Die Philosophie des Nazismus", so der gelehrte Singular der Sektendemagogie, die sich aufs Wesentliche versteht, "bezweckt die Ausrottung des Denkens durch das Denken", heißt es zu Beginn ihres Textes im Dossier "Fasten Your Seat Belts" (Jungle WorId, Nr. 7/98). Es geht konsequent im Singular weiter: Das Projekt der nazistischen Philosophie bestehe darin, "das Denken durch das Denken zu liquidieren". Man sollte der Versuchung widerstehen, diese Kennzeichnung auf die ISF zurückzuwenden, wenn sie die Liquidation des eigenen Denkens zelebriert, indem sie jene Formel zur "Absicht des Dekonstruktivismus, das Denken mit dem Denken zu beseitigen" mutieren läßt, um schließlich "das perennierende Interesse der klassischen Philosophie des Nazismus und seiner postmodernen Parteigänger" auszumachen.

"Die Debatte wird fortgesetzt", schrieb Egon Müller zum Auftakt jenes Dossiers. Welche "Debatte"? Gab es etwas, das diesen Namen verdiente? Wurde diese "Debatte" nicht durch den "Wesens"-Verkündigungstext der ISF von vornherein autoritär geschlossen? Klingt danach die Ankündigung, die Debatte werde fortgesetzt, nicht wie der blanke Hohn? Oder wie eine Drohung? Soll man sich darum überhaupt kümmern?

Oder lieber, wie Stefan Ripplinger es in seiner Erinnerung an Ludwig Börne (Jungle World, Nr. 8/98) vormacht, ganz unbekümmert um den ISF-Schrieb den "Heideggerianer" (ergo nazi-postmodernen Denkliquidator) Jacques Lacan zitieren, ohne hinter "nom-du-père" Lacan namentlich zu nennen (vielleicht, um die Zensoren nicht auf eine Fährte zu bringen)? Womit Ripplinger, wie auch in seinem Lessing-Text (Jungle World, Nr. 52/97-1/98), mehr zur Goldhagen-Debatte beiträgt als die Matadoren, die zu einer "marxistischen" "Debatte" in die Arena steigen.

Denn anders als sie, die mit der Ausrottung, Liquidation oder Beseitigung des Denkens beschäftigt sind, hat Ripplinger etwas zur Sache zu sagen, zu jüdischen Deutschen, Antisemitismus in Deutschland, zur deutschen Misere, auch zu produktiven Umwegen über Frankreich. Vielleicht sollte man tatsächlich einfach so fortfahren. Denn der von der ISF eröffnete Nebenkriegsschauplatz führt zu einer Auseinandersetzung, die auf ihre Weise Matthias Küntzels Befürchtung bestätigt: Über Themenverschiebungen könnte es der "Restlinken" gelingen, "den Herausforderungen, die Goldhagens Thesen enthalten, und der Grunddiskussion, die daraus eigentlich zu folgen hätte, aus dem Weg zu gehen" (Jungle World, Nr. 8/98).

Dabei hatte es gut angefangen: Günther Jacob u.a. kritisierten den Traditionsmarxismus, der sie am Buch "Goldhagen und die deutsche Linke" befremdet hatte (Jungle World, Nr. 2/98). Daß diese Kritik nicht unwidersprochen bleiben würde, war vorauszusehen. Clemens Nachtmanns Beitrag zum Dossier "Hab mich gerne, Postmoderne" hatte bereits Anhaltspunkte geliefert, um die ausstehende Retourkutsche antizipatorisch zu simulieren; da werde realitätsverleugnend "ewig 'Ein Text ist ein Text' heruntergeleiert" (Jungle World, Nr. 46/97) usw. Doch es kam dann noch schlimmer. Es gab einen strammen Backlash. Ich spiele bewußt auf den Buchtitel Susan Faludis an (dt. "Die Männer schlagen zurück", Reinbek 1993), denn was die ISF unter dem Titel "Heideggerianisierung der Linken" bietet, ist der theoretischen Regression Allan Blooms vergleichbar.

In Blooms reaktionärem Pamphlet "Der Niedergang des amerikanischen Geistes" (Hamburg 1986) heißt ein Kapitel "Die Nietzscheanisierung der Linken". Bloom wettert gegen den "Dekonstruktivismus" als "die letzte, im Moment voraussehbare Bühne, auf der die Vernunft unterdrückt und die Möglichkeit, im Namen der Philosophie zur Wahrheit zu gelangen, verneint" werde. Für den "Dekonstruktivismus" gebe es keine "Realität, auf die sich der Text bezieht".

Nun, die ISF verdient keine Antwort, denn sie will nicht diskutieren, sondern verkünden. In anderen Beiträgen finden sich Mißverständnisse, die auszuräumen einen Versuch wert sind. In diesen Mißverständnissen artikuliert sich wieder "die altlinke Angst, eine ominöse, böse 'Diskurstheorie' wolle Wirklichkeit aufessen", wie Diedrich Diederichsen in seinem Loblied auf die Jungle World witzelte (Spex, Nr. 1/98). Gegen diese Angst kann man etwas tun - also encore un effort. "Let's go, Aufklärer!" (Jacques Derrida). Kern des Mißverständnisses ist die fragwürdige Zuordnung der Methode Goldhagens in eine zu simple Binäropposition. Aus je verschiedener diskursanalytischer Perspektive hatten Siegfried Jäger und Franz Januschek vorgeschlagen, "Hitlers willige Vollstrecker" als Diskursanalyse zu lesen; auch Jacob u.a. interpretieren Goldhagen in diese Richtung. Aus dem als Diskursanalytiker interpretierten Goldhagen macht Egon Müller "philosophisch gesprochen, eindeutig ein(en) Poststrukturalist(en)".

Damit wäre Goldhagen der erste "Poststrukturalist", dem man eine übersteigerte Betonung der Autonomie und Verantwortung des Individuums vorwirft. Nur mit einem einzigen Merkmal kennzeichnet Müller den "Poststrukturalismus"; er stehe im Gegensatz zum Materialismus: "Der 'eliminatorische Antisemitismus' der Deutschen" sei für Goldhagen "nichts anderes als Ergebnis eines 'gesellschaftlichen Gesprächs', eines Diskurses - eine materielle Basis dafür gibt es für ihn nicht." Entsprechend fragt Müller: "Kann man Goldhagen gut finden, ohne gleichzeitig nicht nur mit dem flachen Materialismus der Komintern, sondern mit jedem Materialismus zu brechen?" Mal abgesehen davon, daß es nicht darum geht, Goldhagen "gut" zu finden: So entgeht Müller gerade die Pointe, die den verschiedenen Vorschlägen, Goldhagens Buch gegen die Intention des Autors als Diskursanalyse zu lesen, gemein ist; sie alle nämlich fundieren ihre Diskursanalyse materialistisch.

Auch Jürgen Elsässer konstruiert eine irreführende Entgegensetzung (Konstruktivismus vs. historischer Materialismus), wenn er schreibt: "Anders als konstruktivistische Interpretationen (...) implizieren, lassen sich die Spezifika der deutschen Entwicklung durchaus historisch-materialistisch erklären" (Jungle World, Nr. 8/98). Daß Elsässer seine historisch-materialistische Erklärung mit Ausführungen Helmuth Plessners einleitet, entbehrt nicht der Ironie: Als historischer Materialist kann Plessner kaum verstanden werden, wohl aber - seit seiner politisch durchaus ambivalenten Schrift "Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus" (1924) - als streitbarer Advokat der Zivilisierung gegenüber jeglichen "Gemeinschafts"-Träumen; gemeinhin dürfte Plessner im Materialisten-Slang als "bürgerlicher Wissenschaftler" abgetan werden. Ob das wohl jemand mal zum Anlaß nimmt, über linkes Ticket-Denken zu reflektieren, die kursierenden Binarismen (wir vs. die anderen, bürgerlich vs. proletarisch/kritisch/materialistisch) zu hinterfragen, vielleicht gar bei verwirrenden politischen und kulturellen Konstellationen und partiellen ideologischen Komplizenschaften genau hinzusehen?

Auch darum geht es im methodologischen Streit im Gefolge der Goldhagen-Debatte: statt Ideologie aus der Klassenlage oder dem "Kapital" abzuleiten, die ideologische Artikulationen verschiedener Diskursstränge, Texte oder Ideologeme empirisch genau zu analysieren. Das Beispiel von Hugo Balls "Kritik der deutschen Intelligenz" (1918) zeigt, daß eine Plessners Argumentation in vielem antizipierende antimilitaristische Kritik des deutschen Sonderwegs von Luther über Bismarck zu den "Ideen von 1914" und der Anpassung der Sozialdemokratie historisch durchaus auch antisemitisch artikuliert werden konnte (vgl. Jungle World, Nr. 6/98).

Der Autor ist Mitarbeiter im AK Rechts am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS)