Diskurs essen Linke auf

Relativismus revisited

Foucault, die Genealogie und die Historie.

In diesem Fall scheint das Ganze doch das Wahre zu sein. Angesichts so vieler (und so verschiedener) AutorInnen, die sich - positiv oder negativ - auf Foucault als "Relativisten" beziehen, nimmt das Problem eine Art "objektiven Status" an. Letztlich ist es gar nicht so wichtig, ob Foucault "wirklich" relativistisch ist oder nicht, ob die InterpretInnen ihn "richtig" gelesen haben oder nicht. Wichtig ist zunächst einmal die (empirische) Tatsache, daß er als relativistisch wahr-genommen wird. Anders gesagt: Es geht nicht nur um "Mißverständisse" oder "Fehllektüren" auf Seiten der InterpretInnen; vielmehr gibt es offenbar in der Arbeit Foucaults etwas, das permanent dieses Problem des Relativismus produziert oder genauer: provoziert.

Foucault hat seine Arbeit selbst als ein Unternehmen der "Problematisierung" bezeichnet. Aber diese Aufgabe bezieht sich nicht nur auf die Gegenstände seiner historischen Untersuchungen, sondern auch und vor allem auf die in ihnen zum Einsatz kommende Methodik. Es ist richtig: Wenn Foucault von der Genealogie als einer "Geschichte der Wahrheit" spricht, dann etabliert diese Konzeption eine Vielzahl möglicher historischer Wahrheiten. Dennoch resultiert aus diesem Pluralisierungseffekt keine Relativierung des Wahrheitsanspruchs.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen der Annahme historisch-kontingenter Wahrheiten und der These, daß es Wahrheit nicht gebe. Daß das eine permanent mit dem anderen gleichgesetzt wird und die These der Geschichtlichkeit der Wahrheit mit der Ablehnung von Wahrheit überhaupt identifiziert wird, ist bereits der Effekt einer ganz bestimmten Wahrheitskonzeption, innerhalb derer sich Wahrheit nur als universale qualifiziert und die alle anderen Konzeptionen von Wahrheit als "relativistisch" zurückweist, weil sie den von ihr selbst gesetzten Kritierien, Standards und Regeln nicht genügen. Foucaults Kritik richtet sich genau gegen die Zwangswirkungen dieses "Wahrheitsspiels", das uns scheinbar nur die "Alternative" zwischen Relativismus und Universalismus läßt, das sich als universal versteht und doch - "in Wahrheit" - eine historisch-spezifische (und das heißt nicht: relative) Konzeption von Wahrheit präsentiert.

Aber Foucault geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur kritisiert er den Universalismus in seinem Anspruch, die einzig richtige und legitime Form der Wahrheit zu sein. Er lehnt ebenso die Parteinahme für eine relativistische Position ab. Tatsächlich ist nämlich der Relativismus nur die Kehrseite der universalistischen Medaille, er löst das Problem nicht, sondern stellt es nur auf den Kopf. Ob von Universalien oder deren Relativität ausgegangen wird, in beiden Fällen bleibt die Konzeption auf ein Wesen oder eine Substanz bezogen.

Auch der Relativismus unterstellt, daß es eine Konstanz oder ein Objekt gibt, das zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gedacht und gelebt worden ist: Die Erfahrung mit der Sexualität oder der Umgang mit dem Wahnsinn waren im antiken Griechenland völlig andere als in modernen Gesellschaften und sie entziehen sich eines allgemeinen Maßstabs, der sie miteinander vergleichbar machen könnte (eben weil sie relativ auf die jeweils herrschenden Wahrheitsregime bezogen sind). Beiden gemeinsam ist jedoch die Sexualität oder der Wahnsinn, und es ist genau diese Annahme eines der Geschichte vorgängigen Objekts, das im Verlauf der Geschichte verändert und moduliert wird, die Foucault - zumindest als hypothetischen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen - in Zweifel zieht.

Ein Beispiel: In "Wahnsinn und Gesellschaft" geht Foucault von der Annahme aus, daß "Wahnsinn" als eine historische Universalie nicht existiert: Es hat nicht zu allen Zeiten "Wahnsinnige" gegeben, die jeweils unterschiedlich wahrgenommen und behandelt wurden. Der Wahnsinn als "Krankheit" und als Gegenstand eines medizinischen Wissens ist nichts Überzeitliches, sondern ein spezifisches Produkt der Moderne und der modernen Konzeption von Rationalität.

Auf der Grundlage der Hypothese einer prinzipiellen Nicht-Existenz des Wahnsinns stellt sich Foucault in einem zweiten Schritt die Frage, wie verschiedene Elemente und Praktiken es möglich machen, daß so etwas wie Wahnsinn eine historische Wirklichkeit besitzt: Wenn es Wahnsinn als Universalie nicht gibt, was für Wissensformen und Praktiken sind dafür verantwortlich, daß dieser "Illusion" und "Einbildung" eine historische Realität zukommt? Wie kommt es, daß Subjekte als "wahnsinnige" Subjekte angesehen und (erfolgreich) therapiert werden?

Fassen wir diese Frageperspektive in einem scheinbar paradoxen Satz zusammen: Foucault untersucht von der Annahme der Nicht-Existenz des Wahnsinns ausgehend seine tatsächliche historische Existenz. Der Wahnsinn existiert nicht (als eine überhistorische Substanz, die dem geschichtlichen Prozeß äußerlich ist), aber er ist ebensowenig nichts (weil er das historische Korrelat der Praktiken ist, die ihn konstiutieren).

In gleicher Weise ist Foucaults Geschichte der Sexualität keine Geschichte über die Sexualität oder eine Geschichte der Sexualität. Dabei geht es nicht darum, jede Vorstellung einer allgemeinen "menschlichen Natur" zu disqualifizieren, sondern darum, soweit wie möglich den Rückgriff auf anthropologische Konstanten zu vermeiden, um die historisch-gesellschaftliche "Konstruktion" dieser scheinbar überzeitlichen Universalien zu verfolgen. In dieser Hinsicht gibt es keine Sexualität an sich, denn was wir Sexualität nennen, ist nichts anderes als die Gesamtheit der Bedingungen, die sie produzieren. Sie ist nicht Ursprung, sondern Effekt von gesellschaftlichen Praktiken (das heißt Subjektivierungs-, Wissens- und Machtpraktiken).

Was Foucault interessiert, ist die Objektivierung der Objekte und die Subjektivierung der Subjekte als zwei Seiten ein und desselben Prozesses. Er sucht nicht nach den "wirklichen" Ursprüngen oder dem "materiellen" Untergrund der Geschichte, um sie mit den "falschen" Ideen und "illusorischen" Vorstellungen zu konfrontieren, sondern nach dem mobilen System von Beziehungen, das zugleich die Bedingungen der Existenz einer bestimmten Ordnung der Dinge und des Wissens von ihnen bereitstellt. Die "wahre" Illusion liegt demzufolge darin, die Effekte der Praktiken für ihren Ursprung zu halten und die Wirklichkeit als ein Spiel von Wesen und Erscheinung zu inszenieren.

Foucault ist weder Philosoph noch Historiker, sondern stellt in seiner Arbeit eine Beziehung zwischen Philosophie und Geschichtsschreibung her. Damit verschieben sich die (ursprünglichen) Grenzziehungen zwischen beiden "Disziplinen": Wenn die Wahrheit eine Geschichte hat, wie kann die Geschichte dann wahr sein?

Diese "Geschichte der Wahrheit" interessiert sich nicht dafür, was die Dinge an sich sind oder wie sie sich historisch verändern, sondern sie fragt danach, wie sie für uns zu einem konkreten historischen Zeitpunkt existieren: Das "Ding an sich" ist immer schon ein "Ding für uns" und zwar genau deshalb, weil es kein "Ding" ist (bzw. das "Ding" ist nichts anders als die Gesamtheit der Praktiken, die es konstituieren).

Bei dieser historisch-nominalistischen Methode lassen sich zwei komplementäre Aspekte unterscheiden: Der erste besteht in der Infragestellung der Universalien und der Zerstörung von Evidenzen. Ziel dieser Operation ist es zu zeigen, daß "die Dinge nicht selbstverständlich waren". Genau dies unternimmt Foucault in seinen Büchern: "Wahnsinn und Gesellschaft" beweist, daß die Klassifizierung von Verrückten als Geisteskranke das historisch-kontingente Ergebnis bestimmter sozialer Praktiken war; "Die Geburt der Klinik" weist nach, daß es nicht selbstverständlich war, die Ursachen der Krankheit in der medizinischen Einzeluntersuchung von Körpern zu suchen; "Überwachen und Strafen" zeigt, daß die Einschließung der Gesetzesbrecher nicht die einzige Form der Strafpraxis ist; die Geschichte der Sexualität verweist darauf, daß die Sexualität eine ganz bestimmte Form der Organisation der Lüste ist. Die Auflösung dieser "Gewißheiten" ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil unser Wissen, unsere Gewohnheiten und unsere Praktiken auf diesen epistemologisch-politischen Positivitäten beruhen.

Der zweite Schritt der "Geschichte der Wahrheit" baut auf dem ersten auf. Wenn bestimmte Objekte sich nicht mehr "von selbst verstehen", dann ist es erforderlich, das Netz von Verbindungen, Kräfteverhältnissen, Blockaden, Strategien, Zirkularitäten etc. ausfindig zu machen, das es erlaubt, zu einem gegebenen Zeitpunkt das zu etablieren, was zurückblickend als selbstverständlich, universell und notwendig gilt. Wenn es richtig ist, daß "Wahnsinn", "Sexualität", "Krankheit", "Delinquenz" etc. zugleich real und historisch kontingent sind, dann stellt sich die Frage, was sie als Objekte "objektiviert" hat. Erst sobald es nicht (mehr) selbstverständlich oder natürlich ist, daß beispielsweise Gesetzesbrecher eingesperrt werden, kann die Frage auftauchen, warum genau dies (und nicht etwas anderes) geschieht. Scheinbar paradox stellt sich die "Machtfrage" also nicht aufgrund einer notwendigen Determination, sondern umgekehrt wegen einer nicht-notwendigen Beziehung.

Unter der Perspektive eines historischen Nominalismus ist Wahrheit nicht mehr etwas, das entdeckt oder gefunden wird, sondern sie wird "erfunden" oder "produziert". Die "Geschichte der Wahrheit" untersucht ihre Gegenstände als soziale Konstruktionen und historische Fiktionen. Dies heißt jedoch nicht, daß es sich um dabei um eine zufällige oder eine beliebige Aufgabe handelt. Foucaults Bücher sind in dem Sinn traditionelle historische Arbeiten, als sie sich an die üblichen Kriterien halten: Beweisführung anhand historischer Dokumente, Bezug auf Quellen, Bereitstellung von Analyseschemata etc. Aus diesem Grund ist es möglich, seine Arbeiten mit konkurrierenden Studien und differierenden Interpretationen zu vergleichen, um sie in ihrem Anspruch auf eine historische richtige Rekonstruktion zu überprüfen.

Dennoch liegt das Entscheidende dieser Bücher nicht in der historischen Rekonstruktion der Gegenstände als solcher; die historische Wahrheit ist vielmehr ein unverzichtbares Mittel, um darüber hinaus ein weit ambitionierteres Ziel zu erreichen: die Produktion von Erfahrungen. Foucault versteht seine Bücher weniger als "Wahrheitsbücher" denn als "Erfahrungsbücher", die über die "Realisierung" eines bestimmten historischen Inhalts auf eine Erfahrung der Gegenwart Bezug nehmen. Seine Texte sollen es ihren LeserInnen erlauben, neue Beziehungen zu dem Gegenstand dieser Arbeiten aufzunehmen (der damit zugleich zum Gegenstand einer Bearbeitung wird).

Diese "Erfahrungsbücher" beschränken sich nicht darauf, auf einer theoretischen Ebene bestimmte historische Wahrheiten zu konstatieren, sondern nehmen die Wahrheit der Geschichte als Ausgangspunkt einer Analyse, die einen praktischen Zweck verfolgt: die Problematisierung der Art und Weise, wie wir heute über bestimmte Gegenstände urteilen und denken, um sie ihrer "Selbstverständlichkeit" oder "Natürlichkeit" zu entreißen und neue Erfahrungen zu ermöglichen.

Damit die Erfahrung anderer Wahrheiten mit den Büchern aber überhaupt möglich ist, müssen die in ihnen ausgebreiteten Tatsachen historisch wahr sein. Foucaults nominalistische Geschichtsschreibung kann nur funktionieren, wenn sie nicht irgendeine Geschichte erzählt, sondern den Anspruch auf eine historisch richtige Rekonstruktion erhebt. Insofern muß die "Geschichte der Wahrheit" eine wahre Geschichte sein.

Aus demselben Grund kann sich "Problematisierung" nicht auf eine allgemeine Denunziation der Macht beschränken. Wichtig ist vielmehr zu bestimmen, wie Macht konkret funktioniert und über welche Zwänge, Einschränkungen, Gewaltwirkungen, Ausschlußmechanismen, Ungleichheiten etc. sie operiert. Nur wenn sie wahr ist, kann die historische Rekonstruktion zu einem Mittel der Kritik und zum Instrument einer "Gegengeschichte" werden, die in dem Hohlraum der Geschichte die Möglichkeit "anderer Geschichten" aufzeigt.

Der historische Nominalismus treibt also ein doppeltes Spiel, um der "Alternative" von Universalismus oder Relativismus zu entgehen. Er läßt einerseits das erscheinen, was uns an unsere Gegenwart bindet. Indem er andererseits den historischen Konstitutionsbedingungen gegenwärtiger Praktiken nachgeht, um sie in ihrer Gemachtheit oder "Singularität" zu zeigen, bereitet er zugleich das Feld für ihre mögliche Veränderung - und ist selbst ein Einsatz in dem Projekt der Transformation. Weder stellt Foucault sich auf den Boden der Wahrheit, noch lehnt er sie einfach ab, sondern er bekämpft die Wahrheit mit den Mitteln der Wahrheit (nichts anderes meint die Rede von der "Politik des Wahren"), um damit letztlich das System der Produktion von Wahrheit selbst zu verändern und andere (vielleicht "freiere", "gerechtere", "egalitärere", etc.) Praktiken zu erfinden: "Der Herrschaft einer Wahrheit entkommt man also nicht, indem man ein dem Spiel der Wahrheit ganz fremdes Spiel spielt, sondern indem man es anders spielt oder indem man ein anderes Spiel, eine andere Partie oder andere Trümpfe innerhalb des Wahrheitsspiels spielt. Ich glaube, das ist in der Politik genauso, wo man zwar - ausgehend von den Folgen des Herrschaftszustands einer unangebrachten Politik - diese Politik kritisieren, dies aber nicht anders als durch ein Spiel der Wahrheit tun konnte, das zeigt, welche Konsequenzen diese Politik hat und daß es andere vernünftige Möglichkeiten gibt; das den Leuten klarmacht, daß sie über ihre eigene Lage, ihre Arbeitsbedingungen, über ihre Ausbeutung nicht Bescheid wissen."