Mercedessterne über Massengräbern

Bei der Entführung deutscher Linker durch Argentiniens Militär drückte Bonn jahrelang beide Augen zu. Jetzt soll ermittelt werden

"Das war damals anscheinend ein Modesatz", erinnert sich Betina Ehrenhaus. Die Deutsch-Argentinierin war 1979 mit ihrem Lebensgefährten in Buenos Aires verschleppt und gefoltert worden. Nach wiederholten Bitten an die deutsche Botschaft, Druck auf das Regime auszuüben, um wenigstens den Verbleib ihres Lebensgefährten in Erfahrung zu bringen, erhielt sie inoffiziell die Empfehlung, von dessen Tod auszugehen. "Ein Menschenleben", so ein Konsularbeamter, "wiegt leider weniger als ein paar verkaufte Mercedes-Transporter."

Erreichten andere europäische Länder durch energisches Eintreten die Freilassung politischer Gefangener, so setzte Bonn, während Argentiniens Armee über Zehntausende Menschen umbrachte, auf "stille Diplomatie". Von einer kirchlichen Delegation 1982 zum Ergebnis der "Bemühungen" um die über 70 verschleppten Bundesbürger und Menschen deutscher Herkunft befragt, mußte der Konsul Born freilich einräumen: "Ehrlich gesagt, wir haben nichts erreicht." Ganz anders die deutsche Industrie: Nach dem Militärputsch erreichten die deutsch-argentinischen Wirtschaftsbeziehungen einen nie dagewesenen Umfang, die deutsche Rüstungsindustrie stieg zum Hauptwaffenlieferanten der Junta auf. Niederlassungen von Konzernen wie Daimler-Benz oder Siemens überstellten zur Zerschlagung betrieblicher Interessenvertretungen Listen mißliebiger Gewerkschafter direkt an die zuständige Militärbehörde.

Auch der Theologe Ernst Käsemann bekam im Kampf um seine entführte Tochter Elisabeth das Mercedes-Argument zu hören. 1977 war die 30jährige Sozialarbeiterin in den Armenvierteln von Buenos Aires aufgegriffen und in das berüchtigte geheime Folterzentrum der Marine verschleppt worden. Ein Versuch Käsemanns, einen Freikauf nach dem Vorbild des deutsch-deutschen Spionageaustauschs zu organisieren, wurde von Botschaft und Auswärtigem Amt verschleppt, bis Elisabeth Käsemanns Name auf einer Liste angeblich im Gefecht erschossener Guerilleros erschien. Der Obduktionsbericht nach Überführung der Leiche erwies jedoch mehrere Genickschüsse aus nächster Nähe - die übliche Exekutionsart in argentinischen Todeslagern.

Nach Bekanntwerden der Nachricht protestierten die Botschaften der USA und mehrerer europäischer Staaten offiziell bei der Regierung in Buenos Aires - nicht so die deutsche, die lediglich monierte, erst zwei Wochen später, nach einem Testspiel zwischen Deutschland und Argentinien im Vorfeld der WM 1978, informiert worden zu sein.

Wie Elisabeth Käsemann wurden Hunderte von Menschen ausländischer Nationalität in Argentinien Opfer des Staatsterrors. Am bekanntesten wurde der Fall der französischen Nonnen Alice Doumon und Léonie Duquet, für deren Verschleppung und Ermordung der Marineoffizier Adolfo Astiz 1990 von einem französischen Gericht in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Nachdem 1996 und 1997 auch Spanien, Italien und Schweden Verfahren gegen Verantwortliche der Diktatur eingeleitet hatten, die vor Ort unter dem Druck von Armeeaufständen längst wieder begnadigt worden waren, hat nun auch in Deutschland eine Kommission von Angehörigen Strafanzeige beim Bundesjustizministerium gestellt. Betina Ehrenhaus und Idalina Tatter, deren Mann 1976 verschleppt wurde, beantragten in zunächst vier Fällen Ermittlungen gegen über vierzig Angehörige von Militär und Polizei, darunter die Juntamitglieder Videla, Massera und Galtieri, um so den Druck auf die Regierung Menem zu erhöhen und eine rückwirkende Annullierung der Amnestiegesetze zu erreichen.

Heinz Lanfermann vom Bundesjustizministerium erklärte Anfang Mai auf einem Hearing in Bonn, ein öffentliches Interesse an strafrechtlicher Verfolgung sei zweifelsfrei gegeben. Eine Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen aufnimmt, ist allerding noch nicht benannt. Auf Fragen zur jahrelangen Untätigkeit der Bundesregierung wich Lanfermann dagegen aus - kein Wunder, übten sich doch Deutschlands Diplomaten eher in öffentlicher Rechtfertigung des Armeeterrors denn im verfassungsrechtlich garantierten Schutz verfolgter Bürger. 1983 stellte Idalina Tatter in Berlin Strafantrag gegen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und hohe Beamte seines Ministeriums wegen unterlassener Hilfeleistung. Das Verfahren wurde aus formalen Gründen eingestellt.

In Buenos Aires erklärte damals der deutsche Botschafter Jaenicke dem Spiegel, Argentinien befinde sich aufgrund der "internationalen Terrorsituation" in einem "Ausnahmezustand", und das einzige Ziel der Junta bestehe darin, "die Macht wieder in die Hände der Zivilisten zurücklegen zu können". Zu ähnlichen Schlüssen kam eine SPD-Delegation nach einer Informationsreise: Die Situation in Argentinien sei "nur erklärbar auf dem Hintergrund einer bedrängten innenpolitischen Situation vor Übernahme der politischen Macht durch das Militär". Zwar seien "Übergriffe und Entgleisungen passiert", doch habe es bei "der notwendigen Bekämpfung von terroristischer Gewaltkriminalität Erfolge gegeben". Staatsminister Klaus von Dohnanyi (SPD) mochte 1977 "keinen hinreichenden Anhaltspunkt oder gar Beweis" erkennen, daß die Militärs Bonns zaghafte Bitten um Informationen absichtlich falsch beantworteten, weil es, so von Dohnanyi, "in Argentinien unzweifelhaft auch ein Verschwinden gibt, das nicht von staatlichen Stellen verursacht worden ist".

Außenamts-Staatssekretär van Well (FDP) gab nach einem Treffen mit General Videla freimütig zu, das Thema der Verschwundenen nicht angesprochen zu haben, dafür jedoch den Export deutscher Akw-Technik im Wert von über drei Milliarden Mark. Mit Waffenkäufen für insgesamt 450 Millionen Mark zwischen 1976 und 1978 katapultierte sich Argentinien nach dem Iran auf Platz zwei der Importeure deutschen Kriegsgeräts unter den Nicht-Nato-Staaten.

Die Bundesregierung förderte mit einer Hermes-Bürgschaft von 340 Millionen Mark den Export eines U-Boots der Thyssen Nordseewerke, über Produktionslizenzen wurden 500 deutsche Panzer im Wert von 450 Millionen Mark am Rio de la Plata zum Weiterexport zusammengeschraubt. Rheinmetall verschiffte über Spanien 30 Kanonen nach Buenos Aires, die zuvor von argentinischen Militärs auf ihren Nutzen im Straßenkampf geprüft worden waren, Thyssen-Henschel entwickelte im Auftrag der Junta den leichten Kampfpanzer TAM (Tanque Argentino Mediano) für den schnellen Einsatz bei Revolten im Landesinneren.

Das plötzliche Interesse der Bundesregierung an einer Strafverfolgung argentinischer Militärverbrechen sei, so Kuno Hauck, Sprecher der Unterstützergruppe für die Strafanzeige, einer Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit für Menschenrechtsfragen nach dem Fall der Mauer zu verdanken. Tatsächlich könnte der Grund prosaischer sein: Angesichts der mafiösen Klientelpolitik der Regierung Menem sind auch deutsche Investoren in Argentinien heute vordringlich an stabilen Verhältnissen und einem Mindestmaß an Rechtssicherheit interessiert, als deren Garant sich die bürgerliche Mitte-Links-Opposition empfiehlt.

Die aber wird nicht umhin kommen, ihre Glaubwürdigkeit in Menschenrechtsfragen zumindest symbolisch nachzuweisen. Nach den Prozessen in anderen europäischen Ländern scheint es daher angesichts eines möglichen Machtwechsels in Buenos Aires auch in Bonn ratsam, den allzu strengen Geruch der Kollaboration ein wenig zu lüften.