Angst vor schnellem Zerfall

Bei der Perspektive einer rot-grünen Regierung in Bonn war der deutschen Kernindustrie schon unwohl. Für Panik sorgen nun die undichten Castor-Behälter

Keine drei Wochen ist es her, da schien die Welt der deutschen Atomlobby noch rundum in Ordnung: 1997 hatte sich als Rekordjahr für die deutsche Kernindustrie erwiesen. Die 19 deutschen AKW produzierten in diesem Jahr mit 170,4 Milliarden Kilowattstunden soviel Energie wie nie zuvor, der Anteil des Atomstroms an der deutschen Energieproduktion kletterte auf mehr als ein Drittel, von den zehn ergiebigsten Reaktoren weltweit stehen sieben in Deutschland. Dazu eine Bundesregierung, die sich trotz der weiterhin ungelösten Entsorgungsfrage ganz der Durchsetzung der Interessen der Atomwirtschaft verschrieben hat, die mit Polizeigewalt und bundesrechtlichen Anweisungen den Widerstand von Bevölkerung und Länderregierungen gegen Castor-Transporte, vorgebliche Zwischenlager und marode Reaktoren zu brechen sucht.

Mit dem Sieg des Kapitalismus in Osteuropa haben sich den Kraftwerksbauern von Siemens / KWU und ABB zudem ungeahnte Märkte erschlossen. Der Export von "deutschem Know-how" und "deutschen Sicherheitsstandards" in Richtung Osten verspricht grandiose Profitraten und eine nicht zu vernachlässigende Image-Verbesserung - schließlich hilft man ja mit, ein neues Tschernobyl zu vermeiden.

Auch für die Zukunft der Atomkraft im eigenen Land sind die Weichen gestellt: Der Forschungsreaktor München II ist mitten im Bau. Das Planfeststellungsverfahren für den als Endlager für leichtradioaktive Stoffe vorgesehenen Schacht Konrad steht vor dem Abschluß. Die Entwicklung des Siedewasserreaktors SWR 1 000 läuft bei Siemens auf vollen Touren. Die "Basic-Design-Phase" des Europäische Druckwasserreaktor EPR, einer deutsch-französischen Gemeinschaftsproduktion, ist längst abgeschlossen. Noch Ende dieses Jahres soll die technische Entwicklung abgeschlossen, spätestens in zehn Jahren mit dem Bau des ersten EPR in Frankreich begonnen werden. Und auch die Bundesregierung hat den Weg für einen deutschen Druckwasserreaktor freigemacht: Die am 1. Mai in Kraft getretenen Novelle des Atomgesetzes ermöglicht ein standortunabhängiges Prüfverfahren.

Glänzende Voraussetzungen also für die deutschen Atomwirtschaft. Doch plötzlich steht die strahlende Zukunft auf der Kippe. Der Skandal um die verstrahlten Nukleartransporte in die Wiederaufbereitungsanlagen La Hague und Sellafield, der sich in der vergangenen Woche durch Enthüllungen über erhöhte Strahlenwerte auch bei Transporten innerhalb Deutschlands weiter ausweitete, könnte tatsächlich das Aus für die deutschen Atomkraftwerke befördern. So mußten die Kraftwerksbetreiber am vergangenen Freitag zugeben, daß seit den achtziger Jahren auch an leeren Behältern und Eisenbahnwaggons, die aus Frankreich und Großbritannien nach Deutschland zurückkamen, vielfach Kontaminationen gemessen wurden. Allein die Energieversorger aus Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg mußten rund hundert derartiger Fälle eingestehen. Dabei wurde der Grenzwert von vier Becquerel teilweise um das mehr als Hundertfache überschritten.

Niedersachsen hat angesichts solcher Berichte das Planfeststellungsverfahren für Schacht Konrad erst einmal gestoppt. Der Bund hatte dem Land 1992 untersagt, Fragen des Transportes in dem Planfeststellungsverfahren zu prüfen, da diese angeblich ausreichend geregelt seien. Wie sich jetzt zeige, sei auf Angaben des Bundes kein Verlaß, erklärte Umweltminister Wolfgang Jüttner, stoppte das Verfahren und schlug auch gleich noch die Einladung von Bundesumweltministerin Angela Merkel zur Krisenkonferenz der Länderumweltminister am Dienstag in Bonn aus: Merkel handle nach der "Titanic-Strategie - beim Versinken noch ein paar mitnehmen".

Forderungen nach rollenden Köpfen bei den Energieversorgungsunternehmen werden derweil lauter, und sie kommen von allen Seiten: Selbst Atomfreund Edmund Stoiber (CSU) verlangt personelle Konsequenzen. Die Atom-Manager müssen zudem mit strafrechtlichen Folgen rechnen: Greenpeace erstattete vergangene Woche Strafanzeige wegen vorsätzlicher Gesundheitsgefährdung und gefährlicher Körperverletzung gegen die Betreiber der Kernkraftwerke Isar I und II sowie gegen die Betreiber der AKW Philippsburg, Grohnde, Grafenrheinfeld, Brunsbüttel, Stade und Emsland. Im fränkischen Gochsheim, wo regelmäßig Atomtransporte aus Grafenrheinfeld auf die Schiene verladen werden, klagt ein 54jähriger Leukämiekranker gemeinsam mit örtlichen Bürgerinitiativen gegen die Bayernwerke, die beteiligten Transportunternehmen, die zuständigen Beamten im Bundesamt für Strahlenschutz und im Bayerischen Umweltministerium sowie gegen Umweltministerin Angela Merkel und Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann - wegen "vorsätzlicher Freisetzung ionisierter Strahlen" sowie wegen "vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Körperverletzung". Sogar die treuesten Verbündeten der Atomlobby gehen auf Distanz. So fordert auch der Geschäftsführer der CDU / CSU-Bundestagsfraktion, Peter Ramsauer, energiepolitische Konsequenzen. Es müßten Weichen für die Weiterentwicklung erneuerbarer Energien gestellt werden.

Die Atomkraftgegner wittern derweil Morgenluft. Wenn im September Rotgrün die Mehrheit im Bund erreicht, könnte es tatsächlich ernst werden mit dem Ausstieg. Auch der Industriezögling und Preussen-Elektra-Aufsichtsrat Gerhard Schröder wird sich als Kanzler angesichts der Enthüllungen der vergangenen Wochen kaum gegen den Einstieg in den Ausstieg sperren können. Bei den Bündnisgrünen ist man jedenfalls bereits dabei, konkrete Planungen für die Zeit nach der gewonnenen Bundestagswahl zu entwickeln. Wichtigster Punkt: Die bislang unbegrenzten Laufzeiten der deutschen AKW sollen per Gesetz nachträglich auf 25 Jahre befristet werden. Der juristische Trick würde zwar das endgültige Ende der deutschen Atomkraftwerke bis weit nach der Jahrtausendwende hinausschieben, könnte jedoch zu erwartende Entschädigungszahlungen an die Betreiber vermeiden helfen. Einige Reaktoren - etwa die Atommeiler Obrigheim, Morsleben sowie Biblis A - sollten nach den Vorstellungen von Grünen und SPD nach einem Wahlsieg sofort abgestellt werden. Der endgültige Ausstieg, so SPD-Umweltsprecher Michael Müller, sei in zehn bis zwölf Jahren zu schaffen.

Sollte die Bonner Koalition bei den Wahlen im September unterliegen, wird es ernst - das hat auch die Atomwirtschaft begriffen. Auf der Jahrestagung des Kernenergieforums, das in der vergangenen Woche in München stattfand, rührten die Redner vor den versammelten Atommanagern, Kernphysikern und Lobbyisten denn auch kräftig die Werbetrommel für die Kohl-Regierung. "Im Falle eines rotgrünen Wahlsieges - den wir alle nicht wollen - würde das Atomrecht wieder geändert", führte der Präsident des Forums, Wilfried Steuer, aus und drohte: "Wir werden für den Erhalt unserer kerntechnischen Anlagen kämpfen, mit allen Mitteln." Denkbar peinlich ist es der Atomlobby, daß durch die jetzt aufgeflogenen Vertuschungen ausgerechnet ihre größte Förderin in die Bredouille geraten ist. "Es tut mir leid, daß wir Ministerin Merkel in persönliche Schwierigkeiten gebracht haben", entschuldigte sich Steuer und flehte: "Entziehen Sie uns nicht das Vertrauen!" Man wolle wieder "das gute alte Treueverhältnis herstellen". Gerade sei die Atomwirtschaft dabei gewesen, auch in der Bevölkerung Punkte zu sammeln. "Jetzt geht es um Schadensbegrenzung."

So wie Merkel die Verantwortung für die verstrahlten Nukleartransporte allein den Energieversorgern und den Bundesländern in die Schuhe zu schieben versucht, so ist man auch in den Atomkonzernen bemüht, die Verantwortung nach unten weiterzureichen. Die Vorstände seien niemals von den Grenzwert-Überschreitungen informiert gewesen, beteuert Steuer. Das Problem sei zwar seit vielen Jahren bekannt, "aber selbst die Vorstände der EVU erhielten keine Meldung". Kein Vorsatz, keine böse Täuschung sei im Spiel, die beteiligten Ingenieure seien lediglich "zu wenig sensibel" gewesen, so Steuer am Dienstag in München. Schon drei Tage später brachen die Ausflüchte in sich zusammen: Die hessische Umweltministerin Priska Hinz läßt seit vergangenem Freitag die Zuverlässigkeit des Biblis-Betreibers RWE prüfen, nachdem sich herausgestellt hatte, daß das Unternehmen bereits seit dem 2. Oktober 1987 regelmäßig schriftlich von gravierenden Grenzwert-Überschreitungen bei Atomtransporten unterrichtet worden war, ohne dies dem Umweltministerium in Wiesbaden weiterzuleiten.

Doch nicht nur in Deutschland, auch auf europäischer Ebene fürchtet die Atomlobby, daß ihr die Felle davonschwimmen könnten. Schließlich übernimmt im Juli der Nicht-Atomstaat Österreich die EU-Präsidentschaft. Wien könnte sich in dieser Funktion verstärkt dafür einsetzen, daß bei den Verhandlungen über den Beitritt osteuropäischer Staaten zur EU auch die Zukunft der maroden Kernkraftwerke zum Verhandlungsgegenstand wird, warnte Stig Sandklef, Präsident der Brüsseler Lobby-Organisation Foratom, auf dem Münchner Kernenergieforum. Mit ihrem Widerstand gegen den von westeuropäischen Atomkonzernen aufgepeppten Reaktor im slowakischen Mochovce, der in diesen Tagen den Probebetrieb aufnehmen soll, hat die österreichische Regierung sich bereits den Unmut der Atomwirtschaft zugezogen. Der Einfluß von Nicht-Atomstaaten wie Dänemark, Irland oder Österreich auf die Energiepolitik der EU müsse in jedem Fall zurückgedrängt werden, forderte Sandklef. "Es ist wichtig, daß Bau und Betrieb von Atommeilern nicht zu einem Entscheidungsfaktor bei den Beitrittsverhandlungen zur EU werden."