Wo bitte geht's zum Bahnhof?

Die revanchistische Stadt

Von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft: Macht und Raum im Neoliberalismus

Seit den achtziger Jahren hat sich die soziale Realität in den Metropolen grundlegend verändert. Die veränderte Dialektik der Produktion des Raums bringt nicht nur "postfordistische" Tertiär- und Konsumlandschaften hervor, sondern restrukturiert auch das Verhältnis zwischen Macht und Raum.

Der Durchbruch des Neoliberalismus und die Unterminierung des sozialstaatlichen Klassenkompromisses führen zu einer Neukonstitution gesellschaftlicher Territorialverhältnisse. Während das Projekt des Fordismus eine Homogenisierung des Raums anstrebte, läßt sich der Postfordismus als ein "Regime der Differenz" auffassen, bei dem die Unterschiedlichkeit von Territorien und die Einzigartigkeit von Orten betont wird. Die Absicherung exklusiver Räume erfolgt durch Überwachungs- und Kontrollprozeduren, deren Ziel darin besteht, die wachsende Fragmentierung der Gesellschaft territorial zu fixieren und separierte Zonen herzustellen, die sich durch eine jeweils spezifische soziale Homogenität auszeichnen.

Mit der verstärkten Ausrichtung der Städte zu Konsumtionslandschaften intensiviert sich auch die ordnungspolitische Administration des öffentlichen Raums, die sich insbesondere gegen die Anwesenheit marginaler Gruppen an zentralen Orten und Plätzen richtet.

Von Gilles Deleuze stammt die These, daß sich gegenwärtig der Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft vollziehe. Die herkömmlichen Einschließungsmilieus wie Gefängnis, Familie oder Schule befinden sich ihm zufolge in einer Krise, die ihre jeweilige gesellschaftliche Bedeutung verändert. Die Transformation der Disziplinar- und Normalisierungskonzepte sollte jedoch nicht mit der Durchsetzung einer "reinen" Kontrollgesellschaft gleichgesetzt werden. Die Rückkehr des "strafenden Staates" und die aktuellen Law-and-order-Kampagnen zeigen eindeutig, daß die klassischen Modelle von "Überwachen und Strafen" nicht verschwunden sind.

Diesen Macht- und Herrschaftsmechanismen kommt vielmehr bei der Durchsetzung des Neoliberalismus in Deutschland eine wichtige Rolle zu. Indem die ökonomische Krise auch als eine Krise der Werte und Normen verhandelt wird, ergeben sich spezifische gesellschaftspolitische und staatliche Interventionsmöglichkeiten. Durch die Errichtung einer neuen "moralischen Ordnung" soll nicht nur die fragmentierte Gesellschaft zusammengehalten, sondern auch der wachsende sozialräumliche Abstand zwischen den verschiedenen Klassen und sozialen Milieus legitimiert und durchgesetzt werden.

Bei der Herrschaft über den Raum handelt es sich um eine der privilegiertesten Formen von Machtausübung, da mit der Manipulation der räumlichen Verteilung von Gruppen ein Instrument der Manipulation und Kontrolle der Gruppen selbst durchsetzt wird. In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Nutzungs- und Aneignungsweisen städtischer Räume schälen sich die Machtrelationen zwischen den sozialen Klassen und Milieus heraus und wird der hegemoniale Anspruch einer spezifischen Repräsentation von Lebensweisen unterstrichen.

Die Fähigkeit, den angeeigneten Raum zu dominieren - sowohl materiell wie symbolisch - ermöglicht es, unerwünschte Personen und Ereignisse auf Distanz zu halten und umgekehrt subalternen Gruppen stigmatisierte und entwertete Territorien zuzuweisen.

Die wachsende Präsenz der Marginalisierten in den Zentren und bestimmten Wohnquartieren wird deshalb von den Eliten und der Mehrheitsgesellschaft als Kontrollverlust über die Stadt wahrgenommen. Die anhaltenden "Disorder"-Kampagnen, die sich mit der Übernahme des "Zero-Tolerance"-Modells aus New York noch verstärkt haben, und die Politik der Grundrechtseinschränkungen für bestimmte Personengruppen können deshalb mit einer breiten Unterstützung durch die "Normalbürger" rechnen. Insofern korrespondieren die administrativen Sicherheits- und Kontrollbestrebungen von "oben" mit Konformitätsvorstellungen von "unten".

Der amerikanische Stadtforscher Neil Smith hat exemplarisch für New York gezeigt, daß die sozialräumliche Hierarchisierung der Metropolen nicht nur durch die Kapitallogik einer Vermarktung von Grund und Boden erfolgt, sondern auch an eine "revanchistische Politik" - was sowohl Rückeroberung wie auch Rache meint - gekoppelt ist, die aus der "Mitte der Gesellschaft" kommt. Die repressive Ausgrenzung von als nicht normenkonform definierten Menschen durch staatliche Organe oder private Sicherheitsdienste kann erfolgreich damit legitimiert werden, daß es dabei um die Rettung der räumlichen Kontrolle und der sozial-kulturellen Hegemonie einer Gemeinschaft von "Wohlanständigen" - so die Bezeichnung in einer Werbebroschüre der Bahn AG - gehe.

Solche "Sicherheitsgemeinschaften", deren Ziel vor allem darin besteht, Risiken zu minimieren bzw. bestimmte Situationen und Territorien zu kontrollieren, spielen im Zeitalter des Neoliberalismus eine zunehmend wichtigere Rolle. Es handelt sich nach Clifford Shearing vorwiegend um "zivilgesellschaftliche" Korporationen, die sich neben staatlich-administrativen Institutionen als private Organisationsweise des "Regierens" und des Herrschens etabliert haben. Der Begriff des Regierens meint hier im Sinne von Foucault das effektive Arrangement von "Dingen", die vor allem die Sicherheit fördern und risikoträchtige Verhaltensweisen vermeiden sollen.

Den Vereinigungen, zu denen etwa die Bahnkundschaft, die Besucher von Malls oder die Bewohner von "gated communities" (privat bewachte Wohnquartiere) zählen, ist gemeinsam, daß sie von ihren Mitgliedern bzw. Nutzern bestimmte Verhaltensmuster und Pflichten abverlangen. Auf diese Weise bewegen sich die Individuen zunehmend in einer feudalähnlichen Inselwelt der Herrschaft und Kontrolle, bei der man von einer "Regierungstasche" zur nächsten gelangt. Jede dieser "Taschen" hat ihre eigenen Regeln, die die jeweiligen Zugangsweisen und den Kreis der Nutzungsberechtigten in diesen Räumen festlegen.

Die Durchsetzung des neofeudalen Stadtmodells erfolgt sowohl in den Zentren der Dienstleistungsökonomie und wichtigen Infrastruktureinrichtungen wie Flughäfen oder Bahnhöfe als auch in bestimmten Wohnvierteln und Konsumzonen. Damit zeichnen sich in den Metropolen drei unterschiedliche Kontrollszenarien ab:

Erstens geht es um die präventive Abschirmung exklusiver Archipele wie Bürotürme oder Malls von der "feindlichen" Außenwelt. Durch entsprechende Absicherungen können bereits im Vorfeld unerwünschte Personen und Ereignisse ferngehalten werden. Innerhalb dieser privat organisierten Territorien findet die Kontrolle der Besucher eher unaufdringlich durch Technoprävention und eine spezifische Raumgestaltung statt.

Registriert das Sicherheitspersonal Normabweichungen, werden die betreffenden Personen mit Verweis auf das Hausrecht zu Verhaltenskorrekturen aufgefordert bzw. gewaltsam entfernt. In der Terminologie von Foucault könnte man von einem panoptischen Kontrollsystem sprechen, das sich allerdings auf die Akzeptanz der meisten Betroffenen stützen kann.

Zweitens gibt es umkämpfte Territorien wie etwa die innerstädtischen Einkaufsmeilen oder Bahnhöfe, in denen mit Hilfe einer repressiven Verdrängungspraxis eine selektive soziale Homogenität hergestellt werden soll. Durch Moral- und Sicherheitskampagnen versucht man zudem, die Verhaltensweisen sozialer Gruppen im öffentlichen Raum stärker normativ zu regulieren.

Drittens geht es um die ordnungspolitische Absicherung und Überwachung von Orten, die für die Klasse der "Entbehrlichen" und "Unerwünschten" bestimmt sind. Es handelt sich dabei um einen Macht- und Kontrolltypus, der entweder die dauerhafte Verbannung bestimmter Menschen aus der Stadt anstrebt oder die Ausschließung mit differenzierten Einschließungs- oder Internierungsmodellen zu kombinieren versucht.

Die Sicherheitsdiskurse und Repressionsprogramme bestimmen vor allem den Alltag in den Metropolen. Hier verdichten sich gegenwärtig sozialräumliche und politische Formierungsprozesse, die für die Umstrukturierung der gesamten Gesellschaft von Bedeutung sein werden.

Literatur:

Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaft. In: ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt/Main 1993

Neil Smith: The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City. London/New York 1996

Cliffard Shearing: Gewalt und die neue Kunst des Regierens und Herrschens. Privatisierung und ihre Implikation. In: Trutz von Trotha (Hg.): Soziologie der Gewalt. Opladen/Wiesbaden 1997, S. 263-278