Spielverderber

Die normative Kraft des Taktichen

Das Verbot der Grätsche wird den deutschen Fußball kaputtmachen, denn ohne wird er nicht mehr konkurrenzfähig sein

Fußball ist ein Spiel, bei dem viele Mannschaften gegeneinander spielen und die Deutschen am Ende gewinnnen, hat Gary Lineker einmal gesagt. Dabei hat er leicht übertrieben, denn sie gewinnen nicht immer, doch sie stolpern so gut wie immer unter die letzten Vier, und zwar nicht aus "Versehen", wie Horst Vetten einmal in der Zeit schrieb, sondern weil sie die Übung am besten beherrschen, mit der man den Gegner am Erfolg hindert: die Grätsche.

Damit ist jetzt aber endgültig Schluß. Bei der WM wird die Grätsche von hinten mit Rot bestraft. Das Verbot der Grätsche wird den deutschen Fußball, der vierzig Jahre lang das Spiel der Gegner mit Grätschen kaputtgemacht hat, kaputtmachen, denn ohne die Grätsche wird er nicht mehr konkurrenzfähig sein - wäre sie schon vor zehn Jahren verboten worden, Jürgen Kohler, der aktuelle Fußballer des Jahres, Multimillionär und Jaguarbesitzer, würde in der Kreisklasse kicken und einen gebrauchten Golf fahren.

Klar, daß Kohler not amused ist: "Daß von der Weltmeisterschaft an aber jede Grätsche von hinten, unabhängig davon, ob der Ball getroffen wird oder nicht, die rote Karte nach sich zieht, ist ein Witz. Es ist lachhaft, daß ich vielleicht vom Platz muß, obwohl ich für jedermann sichtbar den Ball spiele. Als Manndecker darf ich in Zukunft gar nichts mehr. Rot selbst für Tackling von der Seite: Da kann man ja gleich aufhören." Genau.

Schlimmer als für Kohler kommt es für die Deutschen, die weder Jaguar noch Millionen besitzen, denn deutsch sein heißt erfolgreich grätschen, und grätschen heißt kämpfen, hart sein gegen sich selbst und brutal gegen andere.

Mit dem drohenden Verlust erschließt sich erst die wahre Bedeutung der Grätsche. Das zeigt die panische Reaktion des Bundestrainers noch vor drei Monaten: "Dann sollen wir wohl demnächst ein Netz spannen und körperlos spielen, oder?" Noch seine mißlungenste Grätsche war von höherem Niveau als dieser Scherz.

Des Bundestrainers Panik aber ist verständlich, denn nicht nur der zukünftige Erfolg ist bedroht, sondern sein ganzes Lebenswerk. Wer wird noch einen Helden bewundern, wenn der Anlaß für sein Heldentum aus der Welt verschwunden sein wird? Wer bewundert heute ehemalige Feldhandballweltmeister? Man wird die Deutschen nicht mehr bewundern, sondern im besten Falle wegen ihrer ungelenken Versuche, Fußball zu spielen, belächeln.

Daß Vogts sich der "normativen Kraft des Faktichen und Taktichen" inzwischen unterworfen hat und selbst als Befürworter der neuen Regel auftritt, das ist er der Realität und seinem Job schuldig. Doch mit diesem Opportunismus läßt er sein Volk im Stich. Wo soll das nun Selbstvertrauen herkriegen, wenn man ihm die Symbole seiner Stärke, die D-Mark und die Grätsche, wegnimmt?

Daß man den deutschen Begriff Grätsche durch das englische Sliding Tackle ersetzt hat, mag zwar tatsächlich Selbstverleugnung sein (Sliding Tackle klingt zwar nicht eleganter, aber wenigstens nicht so deutsch), es gibt bisweilen lichte Momente noch im düstersten Volksgeistesdunst.

So sei daran erinnert, daß es auch hierzulande eine Zeit gab, in der kritisches Denken wenigstens bei einer bemerkbaren Minderheit als Tugend galt. Das ist jetzt ein Vierteljahrhundert her, und jeder, der über die aktuelle Samstagstabelle hinaus etwas für das Fußballspiel übrig hat, weiß, daß im deutschen Fußball damals so etwas wie eine Euphorie zu spüren war, weil man ohne die Grätsche Erfolg hatte. Die Europameisterschaft 1972 mit Günter Netzer, dem das Grätschen so fremd war wie Lothar Matthäus die Relativitätstheorie, war Höhepunkt und gleichzeitig Schlußpunkt dieser Aufbruchstimmung. Doch gerade diese Episode der deutschen Geschichte beweist, wie deutsch die Grätsche ist. Netzer wurde angefeindet, ausgebootet und schließlich wegen fehlender deutscher Tugenden ausgemustert. Der deutsche Fußballfrühling war beendet, noch ehe er richtig begonnen hatte.

Der Erfolg gab den Konservativen recht, im Fußball wie im richtigen Leben - der Fußball blieb ein Spiegel der Gesellschaft. Die Deutschen ergrätschten sich die WM-Titel 1974 und 1990 und fehlen seit dem Krieg bei keiner WM. Und wer nicht spurt, dem grätscht dieses einig Volk in die Parade. Soziologen haben im Auftrag von Bild herausgefunden, daß 90 Prozent der Deutschen die Urteile der Strafjustiz zu lasch finden. Man will das harte Tackling gegen Eierdiebe und die Blutgrätsche gegen Rauschgifthändler. Das schafft in der Welt Respekt vor den Deutschen. Hoffentlich verschwindet dieser mit der Grätsche.