40. Die Revolution von 1830

Fortgesetzte Erzählungen

"Done", sagte Stroessel mit Hingabe, "schöner Titel für einen Roman. Man spürt förmlich den erleichterten Ausruf 'Geschafft!', aber auch den Stolz des Autors: 'Gong! Jetzt komme ich!'"

Jeremias Stroessel, mager und bleich, Geheimratsecken im glatten Haar, spuckte den Eumel in die Ecke hinter dem Papierkorb. "Ulcus Molle", dachte ich. "Daß Sie schreiben können, ist keine Frage", sagte er spitz und bübisch, wodurch die tiefen Falten in seinen lappigen Wangen etwas Luft kriegten. "Aber ist es auch ein Roman?"

Ich schaute finster aus dem Fenster. Wolkenfetzen warfen rasante Schatten auf eine Hügelkette, deren chemisches Grün von briefkastengelben Flächen unterbrochen wurde. Ich wußte, der Roman war nicht so stark wie das alte Packpapier, auf das ich ihn geschrieben hatte, und wie jedes halbwegs ehrliche Genie verachtete ich Komplimente, hinter denen sich ein Aber verbirgt.

"Was ist ein Roman?" sagte ich.

"Ja, gut", sagte er, fummelte ein zerfetztes Papiertaschentuch heraus, schneuzte sich und betrachtete den Rotz, der an seinen nikotinbraunen Griffeln klebte.

Wir saßen nebst einer Literflasche Zwetschgenwasser in genau dem Zimmer, in dem vor einer kleinen Ewigkeit ein falscher Ami, der sich Colonel Ed Sommer nannte, Stroessels Nichte Ida übern Tisch gezogen hatte. Onkel Jämi klopfte mit der falschen Hand auf das Konvolut, die richtige lag irgendwo in den Pripjet-Sümpfen begraben, und ich wußte, was ihn bewegte. Rund zehn Jahre zuvor hatte er, in den letzten Wochen der Abendschule, plötzlich angefangen, über Theorien des modernen Romans zu referieren, und durch seinen Kopf geisterte nun die bange Frage, was er da angerichtet hatte.

"Natürlich können wir von einem Roman", sagte er, "nicht die gleiche Überprüfbarkeit verlangen, wie wenn Sie mir zum Beispiel eine erstaunliche Geschichte erzählen, wie die, daß Sie zum Beispiel einen Neger kennen, der ein Geschlechtsteil hat, das so lang ist wie ein Schullineal zum Beispiel, denn in diesem Fall haben Sie, um mich zu überzeugen, immer die Möglichkeit, mir zu versichern, daß der oder jener ebenfalls Zeuge war oder daß ich ja nur hinzufahren brauche, um mich von der Wahrhaftigkeit Ihrer Berichterstattung zu überzeugen."

"Herr Stroessel", fragte ich mild, "wollen Sie vielleicht nach Andalusien, bloß um die Schwanzlänge des von mir geschilderten Negers, der die Aufgabe hat, Lawrence von Arabien zu vergewaltigen, zu überprüfen, um sich zu überzeugen, ob mein Roman ein Roman ist oder ein verifizierbarer Bericht?"

In seinen Augen glomm ein unheimliches Feuer. "Eben nicht, Herr Modjewski!" triumphierte er. "Gerade deshalb, weil alles, was ein Romancier uns erzählt, nicht überprüfbar ist, muß das, was er uns sagt, genügen, um den Anschein des Wirklichen zu erwecken. Genau daran mangelt es ihrem 'Geschafft'."

"Eben nicht", sagte ich. "Eben doch", sagte er. "Ihr Roman erweckt eben nicht aus sich heraus diesen Anschein, sondern nur dadurch, daß Sie behaupten, in Wirklichkeit wäre es aber so."

Ich sagte: "Hm." Ich hatte mir, seit ich mit Tita verheiratet war, angewöhnt, nur noch "Hm" zu sagen, wenn ich andeuten wollte, daß mich etwas sehr verblüffte, da ich kürzlich bei Gaboriau gelesen hatte, im französischen Adel sei "Hm" die höchste Form der Verblüfftheit gewesen.

"Schaun Sie, diese ständigen Perspektivwechsel zum Beispiel", sagte Onkel Jämi. "Wer spricht? Das ist die zentrale Frage, um die jede Untersuchung jeder noch so abseitigen Romanform kreist, das ist einfach ontologisch. Wenn der Leser nicht weiß, wer spricht, interessiert ihn der ganze Quatsch nicht.

In Ihrem Roman aber reden mindestens ein Dutzend Figuren fortgesetzt durcheinander. Mal dieser Neger, der mit seinem überdimensionalen Geschlechtsteil spricht, mal Sie, wenn Sie sich fragen, welche Vor- und Nachteile es möglicherweise hat und ob Ihnen die Frauen möglicherweise auch so nachrennen würden, mal das Glied, wenn es sich im Spiegel betrachtet und sich fragt, ob eigentlich alle männlichen Glieder so häßlich sind, dann dieser deutsche Honorarkonsul, der sich vorstellt, wie seine Frau ihm erzählt, wie schön es ist, mit einem Mann zu verkehren, und alle sprechen sie in der ersten Person! Alle sagen permanent ich, sogar der Arzt, der zum Schluß den operativen Eingriff vornimmt, nachdem der Verleger dem Autor geraten hat, das Ding etwas zu kürzen."

"Ja und?" fragte ich und überlegte, ob mein geniales Erstlingswerk rezeptionsästhetisch wirklich als genitales rezipiert werden könnte. "Die haben eben alle was zu sagen."

"Ja und", sagte er, "'ja und' ist kein Argument für einen literarischen Diskurs. In einem Roman, mit dem Sie vielleicht sogar bei der Gruppe 47 auftreten könnten, hat nur einer was zu sagen, nämlich der Autor, nicht ein Dutzend Erzähler, das mögen die da gar nicht. Literatur muß übersichtlich sein. Außerdem hat Ihr Buch keine Handlung."

"Ja, ich weiß", knurrte ich. "Ein Roman ohne Handlung ist wie ein Bordell ohne Huren."

Er schwieg, ich beteiligte mich. Wieder flog ein Ümpel auf den Kippenberg in der Ecke. "Außerdem finde ich nicht überzeugend, daß dieser Mann ein Neger ist", sagte er schließlich. "Es wirkt irgendwie rassistisch. Glauben Sie wirklich, daß Europäer kleinere Genitalien haben als Afrikaner? Damit kommen Sie bei der Gruppe 47 schon mal gar nicht durch."

"Der Mann ist Marrane", sagte ich. "Das ist ja noch schlimmer!" rief er. "Seine Familie ist seit vierhundert Jahren spanisch", sagte ich. "Sie haben selbst einmal gesagt, die imaginären Personen füllen die leeren Räume der Wirklichkeit und erläutern uns diese."

"Also, mein Lieber, Modjewski", empörte er sich, "wo sind denn da die leeren Räume der Wirklichkeit, die Sie mit einem überdimensionalen Genital füllen möchten? Das ist doch kalter Kaffee! Das kriegen Sie doch in jedem ethnologischen Bildband über irgendwelche abartigen Stammesriten seitenlang geliefert. Wenn Sie wollen im Schuber.

Warum schreiben Sie nicht erst mal was leichtes, nur aus Ihrer Perspektive und nicht gleich so was langes. Sie sind doch zum Beispiel gerade dieser Tage durch die sogenannte DDR gefahren ... Oder denken Sie an die Revolution von 1830 in Kassel. Der Fingerzeig der Geschichte, von dem ich Ihnen in der Obersekunda erzählt habe."

Wieder schwiegen wir. Es war 1964 in der westdeutschen Literatur absolut unüblich, Genitalien zu tragen, die länger als etwa zwölf Zentimeter waren, und ich dachte an seinen Vorschlag, erstmal was Abfälliges über die DDR zu schreiben. Damit kam man auch besser in die FAZ und den Spiegel.

Die Fahrt von Westberlin nach Hofacker führte immer durch ein Bermudadreieck der Gefühle, von einer öden Insel, die ein meist stiller, jedoch unberechenbarer Ozean umgab, auf ein Festland, das nicht genau wußte, ob es die Inselbewohner im Fall einer Naturkatastrophe noch rechtzeitig evakuieren würde, und hinten im Kofferraum müffelten die verschissenen Windeln, die wir immer dabei hatten, wenn wir zu Schwiegermuttern fuhren.

Nie wußte man beispielsweise auch, was erlaubt oder verboten war. Auf Parkplätzen anzuhalten, war angeblich verboten, Kontakt zu den Einheimischen, die vorwiegend als Insassen von Seifenkisten in Erscheinung traten, ebenfalls. Eine seltsame Lethargie schien über dem Land zu liegen, die mich immer ein wenig an 1945 erinnerte. Das war natürlich reichlich Stoff, da hatte er recht.

In der Ferne blinkten zuweilen ein paar schwache Lichter, die auf feste Siedlungsformen schließen ließen, in denen vermutlich nur noch ein paar Alte und Gebrechliche lebten, und die wenig einladende Art, mit der man in den drei Gasolin-Stationen bedient wurde, die vom Sperrmüll irgendwo in Patagonien stammen mußten, machte auch wenig Lust, die hier ansässige Ethnie kennenzulernen.

"Vielleicht haben Sie recht", sagte ich. "Da ließen sich vielleicht auch ein paar Seitenhiebe gegen Willy Brandt anbringen. Die Leute da drüben können einem leidtun."

Ich haßte Willy Brandt, der uns jeden Samstag im Sender SFB mit seiner Kolumne "Wo uns der Schuh drückt" auf die Eier ging. Selbst Heidegger war dagegen ein Aphrodisiakum. Willy Brandt mit seinem drückenden Schuh und Bully Buhlan mit seinem ewigen Koffer in Berlin waren vermutlich der Hauptgrund für den Ausbruch der Studentenrevolte. Der Vietnamkrieg war nur ein Vorwand.

"Ja, eine Fahrt nach Berlin", sagte Stroessel, "versuchen Sie's mal damit. Aber vielleicht doch lieber die Revolution von 1830."

Ich nickte huldvoll. Ich wußte, warum er darauf insistierte. Sein Urgroßvater Louis Wurz hatte im Alter von zehn Jahren zu der Delegation gehört, die damals den Landesherrn von der bevorstehenden Insubordination seiner Unterthanen informiert hatte.

"Interessantes Thema", sagte ich.

Er strahlte gütig. "Der Fingerzeig der Geschichte", sagte er. "Vielleicht in Hexametern. Sie erinnern sich?"

Natürlich erinnerte ich mich. Vor allem an die Stelle auf dem Nachhauseweg, wo Vater Wurz zu seinem Sohn den historischen Satz sagt:

"Es wäre entschieden leichter, mein Junge, wenn sie auf uns geschossen hätten!"

Nächste Woche: "Der Finger der Geschichte"