Banlieue, Chigagau

Sensible Zonen

Saint-Denis, eine Stadt in der nördlichen Pariser Banlieue empfängt die Fußball-Weltmeisterschaft.

Nach Gallien gekommen, um das Christentum zu predigen, wird Denis, erster Bischof von Lutetia, gemartert, enthauptet und am Rande des Dorfes Catuliacus verscharrt. Das war um 250 u.Z. So beginnt die Geschichte der Stadt.

Im 5. Jahrhundert, genauer 475, gründet die Heilige Genéviève auf dem Grab einen Kultplatz, läßt eine kleine Kapelle errichten, die umgehend bepilgert wird. Ein Kloster entsteht. Am 19. Januar 639 stirbt König Dagobert und findet sein Grab in der Kapelle. Hugo Capet, erster Kapetinger und ehemaliger Abt in Saint-Denis, wird 987 König des Frankenreichs, und nimmt 996 neben Dagobert Platz.

Fast alle französischen Könige werden hier beigesetzt. In der Addition: 46 Könige, 32 Königinnen, 63 Prinzen und Prinzessinnen, und zehn weitere Edelblütige. So kommt Saint-Denis zum Beinamen "Stadt der Könige", und so erklären sich die die vielen Kronen und Königsstatuen, die auf Plakaten zur Fußball-WM in der Stadt zu sehen sind.

Im 11. Jahrhundert entsteht an einer nahegelegenen Kreuzung großer europäischer Handelswege der Markt von Lendit, der Saint-Denis den Titel "Stadt der tausend Händler" einbringt. Sein Markt ist mit 280 Händlern heute noch (oder wieder) der größte der ële-de-France. Dienstag und Freitag bis 14 Uhr.

Das Kloster kommt zu Geld, und unter Abt Suger entsteht zwischen 1130 und 1144 die Basilika - ein früher gotischer Bau. Dieser wird in den folgenden Jahrhunderten kontinuierlich vergrößert und zu einem veritablen Machtzentrum. Im Mittelalter spricht man von "Paris in der Nähe von Saint-Denis", wie eine Broschüre der Stadt verrät.

1793 greifen die Revolutionäre den Bau als Symbol der Monarchie an. Die Grabsteine werden demontiert, einige zerstört, die Leichname in Massengräber geworfen. In der Restaurationszeit wird alles restauriert. Diesem Umstand verdankt die Basilika immerhin noch zwei Sterne im Michelin. Und das ist mithin der einzige Grund, warum jemand bisher von Saint-Denis Notiz genommen haben könnte.

Ein Widerspruch

Nun gibt es jedoch zwei wesentlich bessere Gründe, sich Saint-Denis zuzuwenden. Zum einen liegt die Stadt, die nach 1789 eine exemplarische Geschichte durchlaufen hat, just hinter der Peripherique in der nördlichen Pariser Banlieue, zum anderen steht hier das 800 Millionen Mark teure "Stadion des dritten Jahrtausends", das Stade de France. Ein deutliches Mißverhältnis.

Wenn es um Kriminalität, Exklusion, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Drogen, Ghettos geht, wenn die Übel der Welt am Stammtisch einkehren, dann muß die Banlieue als Aufhebung der urbanisierten Welt herhalten. Diese Zusammenballungen von Häusern in der Peripherie, Territorium der "Banlieusards", derer, die verbannt sind, um besser vergessen werden zu können. Die Viertel sind "sensibel", Politik und Medien gehen Hand in Hand bei ihrer ideologischen Annäherung an das Soziale.

Auf der anderen Seite das technisch hochgerüstete, silbern in der Sonne glitzernde Stadion - nicht umsonst ist die Rede von der "zweiten Kathedrale" -, tatsächlich Ort pseudo-religiöser Verehrung, geplanter Konsum- und Vergnügungstempel, materialisierte Postmodernität, Repräsentanz französischer Herrlichkeit.

Die Architekten freuen sich, weil die Gleichzeitigkeit zerfallender urbaner Umwelt und des Stadions Emotionen weckt. Tatsächlich schreibt sich das Stadion ein in den Kontext der Stadt - als eine den Raum dominierende Einheit totaler visueller Hygiene und anorganischer Rationalität, als Ode an den technisch-funktionalen Rationalismus. Gegenüber der ungeordneten Umgebung weckt es den Eindruck von Stabilität und Beherrschbarkeit. Ein Gegen-Raum, ein falscher Gegenpol der permanenten Krise.

Die Jugendlichen I

"Die jungen Menschen scheinen verwirrt, und fragen sich, ob das Stadion überhaupt sinnvoll ist. Ihre normalen Treffpunkte sind verschwunden, wie der kleine Platz im Norden des Pont de Soissons", sagt Monique Lejeune. "Ihr Quartier müssen sie neu kennenlernen. Sie nehmen nicht an den Informationsveranstaltungen teil und begreifen nichts von den Veränderungen." Frau Lejeune wohnt direkt an der Avenue Président Wilson, dem Namen der Autobahn 1 zwischen Paris und dem Stadion, gleich neben der neugeschaffenen WM-Abfahrt.

Idrissa Coulibali, eine kommunale Sozialarbeiterin, sagt, "daß die Jungen, neun von zehn, an nichts anderes denken als an Fußball, weil es ihnen als der einfachste Weg erscheint. Wenn du von Fußball sprichst, dann sind sie wie die Verrückten. Einen Ball, und du hast Frieden. Aber das ist zu einfach, denn für sie ist der Fußball auch eine Sackgasse." Die Jugendlichen träumen von der großen Karriere, und jeder von ihnen könnte mit Denis Rodman sagen: "Wenn ich nicht Basketball spielen würde, wäre ich nur ein Nigger."

"Aber wir habe doch kaum eine Chance, an Plätze zu kommen", klagt Ali, 20 Jahre. Sein Copain fügt hinzu: "Die WM ist gut, das Stadion ist gut, aber ob es uns wie versprochen Arbeit bringen wird, werden wir hinterher sehen." Sie suchen seit Jahren nach Arbeit, wohnen direkt neben dem Stadion, und wenn die Spiele ohne sie laufen werden, wird das Anlaß zusätzlicher Frustrationen.

Immer wieder stellen sich die uniformen Bilder der Aufstände in den französischen Banlieues ein, als sich Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Die kommunistischen Abgeordneten haben an Michel Giraud, den Präsidenten des Regionalrates, die Frage gerichtet, ob "die Region sechs Millionen Francs bereitstellt, um den Jugendlichen in den Quartiers zu ermöglichen, den Spielen auf Großbildschirmen beizuwohnen". Giraud sagte, er werde die Frage grundlegend prüfen.

In einer Bar im Zentrum, dem ehemaligen Dorfkern, erzählt Pascal, 37: "Für die Jungen in der Banlieue ist Fußball das Wichtigste im Leben. Er lenkt sie ab und bringt sie zum Träumen." Sein vierzehnjähriger Sohn sieht im Stadion eine "Investition in die Zukunft, die Saint-Denis verändern wird". Einig sind sie sich, daß das Stadion nicht nur viel zu teuer war, sondern eine Anschaffung vorbei an den Bedürfnissen der Bevölkerung ist.

Die Banlieue I

Der Begriff Banlieue setzt sich aus der germanischen Wurzel ban, die Herrschaft des Lehnsherren über seine Besitzungen, und dem lateinischen leuca zusammen, ursprünglich ein Entfernungs- und Zeitmaß. Zusammengesetzt erscheinen die Silben erstmals am Ende des 12. Jahrhunderts, wobei das lateinische Äquivalent banni-leuca schon für 1036 in einem Dokument der Stadt Arras nachgewiesen ist.

Die französischen Banlieues stellten lange Zeit ein Übergangsgebiet zwischen Stadt und Land dar. Im 19. Jahrhundert befördern demographisches Wachstum, Landflucht und industriellen Revolution sowie die Entwicklung der Transport- und Kommunikationswege ihr Wachstum. Dort liegen die Ursprünge der heutigen Banlieue. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Frankreichs Banlieues drei Viertel des städtischen Wachstums aufgenommen. Heute leben in ihren 3 000 Kommunen knapp 19 Millionen Menschen auf sechs Prozent des französischen Territoriums. Sie repräsentieren einen vielfältigen Raum, häufig unbekannt und wenig vergleichbar mit den Peripherien ausländischer Städte.

Weder die suburb (wohlhabende weiße Siedlungen vor der Stadt in den USA) noch outer city (ländliche Umgebung z.B. um London), weder Vorort noch das Ghetto (geschlossene innerstädtische Armutsgemeinschaft), weder faubourg (ursprünglich in Friedenszeiten entstandene Marktplätze vor den Toren der Stadt) noch favela (anarchisch, ungeplante Barackensiedlungen) treffen die Bedeutung von banlieue.

In Frankreich bedeutet Banlieue periphere Kommunen in abhängiger Position, ein komplexes Mosaik, eine Mischung von Architekturen, Aktivitätspunkten, Brachen und Reliquien ländlichen Lebens. Es bezieht sich auf mittelalterliche Dorfkerne, aristokratische Sommersitze, normale Siedlungen, monotone Reihensiedlungen und vor allem anonyme Wohnsilos.

Vormals ein von Lehnsherren beherrschtes juristisches Territorium, ändert sich in der Restaurationszeit die Bedeutung des Wortes banlieue: Es schreibt sich ein in ein Wertesystem, das Paris von der Provinz unterscheidet, oder prinzipieller, die Stadt vom Land. Der Begriff lädt sich qualitativ auf, und die Prinzipien der städtischen Hierarchie und sozialen Unterschiede entlang der Lebensräume präzisieren sich. In der Literatur wird es zum wertenden Beiwort von Menschen und Orten. Wie es Provinztheater gab, gibt es nun Banlieue-Bars. Der Zusatz beschreibt sozialen Abstieg, ein verarmtes, heruntergekommenes Milieu.

Innerhalb von zwei Jahrhunderten wurde so aus einem juristischen Begriff ein Begriff für eine triste urbane Peripherie. Doch leicht wird die ökonomische und soziale, nationale und ethnische Diversifizierung der Banlieue übersehen. Der Begriff Banlieue bedeutet keine Totalität, sondern steht für eine vage Beschreibung von ausgeschlossenen Gebieten und von der bürgerlichen Norm abweichenden Bevölkerungsgruppen.

Geographisch wie soziologisch ist der Begriff ungenau und fließend. Und auch wenn die Pariser Banlieue chronologisch und quantitativ die erste in Frankreich war, so unterscheiden sich die Banlieues anderer Städte doch in ihren soziographischen Kategorien (Zahl der Viertel im Verhältnis zum Zentrum, Landschaft, städtische Struktur, Entstehungszeit, Zustand, Bebauungs- und Bevölkerungsdichte, demographische Struktur).

Saint-Denis - ein Soziogramm

Die Stadt zählt 89 988 Einwohner, Neuilly-sur-Seine hingegen mit 61 768 nur etwa ein Drittel weniger. Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer lagen 1997 in Saint-Denis bei 1,1 Milliarden Francs, in Neuilly hingegen bei 3,2 Milliarden. Dabei liegt der Steuersatz in Saint-Denis bei 3,28 Prozent, und in Neuilly bei 18,56 Prozent. Die Steuer in Saint-Denis anzuheben, scheitert an den Unternehmen, die ohnehin schon mit der Umgebung, und häufig auch mit der politischen Farbe der vor Ort gewählten Politiker nicht glücklich sind. An Einkommenssteuer zahlten die Bewohner von Saint-Denis 455 Millionen Francs, die von Neuilly 1,379 Milliarden.

Eine arme und eine reiche Stadt - und beide liegen in der Banlieue von Paris. Finanzielle Ausgleichs-, sogenannte kommunale und regionale Solidaritätszahlungen werden zwar geleistet, doch liegt der Transfer bei höchstens fünf bis sieben Prozent der dafür vorgesehenen Mittel in Höhe von 740 Millionen Francs im letzten Jahr. Und zur Zeit scheint es den zuständigen Politikern an Mut zu mangeln, die reicheren Orte stärker zur Kasse zu bitten.

Bei den Parlamentswahlen im Juni 1997 wählten in Saint-Denis knapp 35 Prozent den kommunistischen Parti communiste fran ç ais (PCF), knapp 15 Prozent den sozialdemokratischen Parti socialiste (PS), knapp sechs Prozent die Grünen, knapp elf Prozent die Liberal-Konservativen (UDF), und gut 22 Prozent den Front National. In der zweiten Runde wurde der PCF-Bürgermeister und Abgeordnete Patrick Braouezec mit 69,65 Prozent der Stimmen gegen Pierre Pauty vom FN wiedergewählt. In den stadtnahen Kommunen des Departements setzte sich, mit ähnlichen Ergebnissen, noch fünf weitere Male ein Kandidat der PCF gegen einen des FN durch. Fünf der restlichen sieben Kommunen werden von PC-Bürgermeistern regiert. Die nördliche Pariser Banlieue bleibt der "rote Gürtel".

Selbst für die Banlieue ist Saint-Denis überdurchschnittlich jung: 46 Prozent seiner knapp 90 000 Bewohner sind unter Dreißig, und nicht mal die Hälfte der 15- bis 25jährigen haben einen festen Job. Knapp dreißig Prozent von ihnen sind ohne jede Arbeit. Ein Drittel der Haushalte befindet sich in Sozialwohnungen, die Mehrheit der Bevölkerung wohnt in Hochhäusern. Dreißig Prozent der Einwohner sind ausländischer Herkunft, in manchen Vierteln steigt ihr Anteil auf 70 Prozent. Sie sind noch jünger als der Durchschnitt. Die größte Gruppen bilden Maghrebiner, besonders Algerier, und Portugiesen und Schwarzafrikaner.

Letztere sind laut Frau Lenaurd aus der örtlichen Verwaltung, wo sie aus ihrem Büro einen hübschen Blick auf die Basilika hat, in den Statistiken der letzten Volkszählung von 1990 nicht aufgeführt, weil das staatliche Forschungsinstitut I.N.S.E.E. die Daten auf kommunaler Ebene filtert. Laut Frau Lenaurd hat sich an den Zahlen in den letzten sieben Jahren nicht allzu viel verändert. Die Ergebnisse der nächsten Volkszählung gebe es leider erst im Frühjahr 1999. Zum Abschied sagt sie: "Wir sind eine ganze normale Banlieue-Stadt. Nur etwas jünger, nur etwas aktiver als die anderen. Vergessen Sie das nicht. Und kommen Sie doch mal wieder auf einen Kaffee vorbei." Ein kommunistisches Rathaus.

Die Bürger und ihr Meister

Das Bürgerhaus im Quartier hat eigens für die Anwohner Besuche im Stadion eingerichtet, um ihnen das Stadion schmackhaft zu machen, so sie nicht schon Bürgermeister Braouezec mit den Worten überzeugt hat: "Keine andere Region hat solche Investitionen in so kurzer Zeit zu verzeichnen gehabt. Gut für die lokalen Unternehmer, und damit für die Arbeitslosen." Ganz glaubt er das selbst nicht, und schiebt deswegen nach: "Indem ich das Stadion hier akzeptiert habe, habe ich den Anschluß an die A1 und die Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs erreicht."

1990 hörte sich das aus seinem Mund noch so an: "Wir werden kein Projekt akzeptieren, das der Logik unseres urbanen Projekts widerspricht." Dieses 600 Hektar erfassende, industrielle Erschließungsprojekt für La-Plaine-Saint-Denis wurde 1990 aufgelegt. In der traditionellen PC-Hochburg sollten Arbeiter angesiedelt werden, und die Umwälzungen durch das Stadion, die eher die Ansiedlung von Angestellten bedeutete, paßten eigentlich nicht in dieses durchaus sinnvolle Konzept.

Doch, wie Libération richtig erkannte: "Braouezec ist ein moderner Kommunist", sprich: pragmatisch. Halb zog es ihn, halb sank er hin, jedenfalls wollte er Saint-Denis für die WM zu einer "Ereignisstadt", das Stadion zu "einem Platz des Lebens, dem Herz der Aktivitäten, einem Treffpunkt" machen. Er hoffte, daß die gesamte Bevölkerung "nicht nur miterlebt, sondern sich jeder einzelne aktiv einbringt". Ganz scheint das noch nicht zu klappen. Jacqueline von der Post sind die WM und das Stadion "komplett egal". Sie ist nur da, um zu sehen, was hier demnächst passieren wird. Pessimisten behaupten, rund um das zumeist ungenutzte Stadion entstehe eine "tote Zone".

Geschichte der Stadt II

1767 entsteht die erste Färberei. Die Industrialisierung kommt früher an als anderswo. Ende des 19. Jahrhunderts wird Saint-Denis zu einem Hauptpunkt der industriellen Entwicklung vor den Toren von Paris. Chemie, Textil, Metallurgie, wovon heute noch Straßennamen zeugen: Passage du Gaz, Avenue de la Métallurgie, Passage Germinal, Rue de l'Industrie. 1891 wohnen 13 500 ArbeiterInnen in Saint-Denis. Die Stadt zählt zu dieser Zeit 18 500 Industriearbeitsplätze auf 50 000 EinwohnerInnen.

Im 19. Jahrhundert ist die Kapazität von Paris erschöpft, und die überschüssigen Massen sind aus der Stadt gedrängt. Die Banlieue wird zum Ort der Aktivitäten, die der Bürger eigentlich nicht so gerne hinter seinem Gartenzaun erblickt: Steinverarbeitung, Militärgelände, Werkshallen, Verschiebebahnhöfe, Wasserreservoirs, Kläranlagen, Gasfabriken, E-Werke, Müllhalden. Dazu psychiatrische Anstalten, Kinder- und Altersheime, Sportplätze, die ersten Friedhöfe außerhalb der Stadt.

1901 leben drei Viertel aller französischen Vorstadtbewohner in der Pariser Banlieue, 1990 immer noch 40 Prozent, was ungefähr sieben Millionen Menschen entspricht. Die Arbeiterbewegung entwickelt sich, und Anfang der zwanziger Jahre wird Saint-Denis für die Presse zur "roten Stadt". Ein weiterer Blick auf die Straßennamen belegt diese Tradition: Avenue Lénine, Route de la Révolte, Allée Guernica, Place de la Résistance. Zwischen dem 18. und 28. August 1944 wird um die Befreiung der Stadt gekämpft. Nach dem Krieg wird die rote Tradition wieder aufgenommen.

Bis in Mitte der siebziger Jahre ist Saint-Denis eine der industriell aktivsten Zonen Europas. Die Phase des sozialen Nachkriegskompromisses, der Frankreich bis 1975 die "glorreichen Dreißig" beschert, ist auch in der Banlieue eine Zeit der Hoffnung. Damals wird Stadt noch mit Zukunft assoziiert, Wohnblöcke, in die Landschaft gestellt, waren der gebaute Fortschritt.

Ende der siebziger Jahre wird das Zentrum von Saint-Denis saniert - Tristesse in Beton. Nur in der Innenstadt, dem ehemaligen Dorfkern, finden sich einige ansehnliche Beispiele zeitgenössischer Architektur, z.B. das Rathaus oder der Sitz der Zeitung L'Humanité, daneben aber auch ältere Gebäude wie die Markthalle aus dem 19. Jahrhundert. Stolz beschreibt die Stadt diesen Kern in einem Prospekt als "Museum für die Geschichte der Architektur".

In den siebziger Jahren verlagert sich die Beschäftigung auf den tertiären Sektor. Teile der Banlieue verarmen weiter, andere profitieren von der Tertiärisierung, und der Bürger hält dort Einzug. Siemens France und das staatliche Gasforschungszentrum siedeln sich an. In den achtziger und neunziger Jahren wächst das Interesse der Bauunternehmer und Unternehmen. Saint-Denis profitiert von seiner Nähe zu Paris und zum Flughafen Roissy. Druckbetriebe, Pressevertriebe und Fernsehsender ziehen zu. Heute ist La Plaine Saint-Denis die größte Ansammlung von Studios in der ële-de-France, dem Großraum von Paris.

Alle ökonomischen Akteure in Saint-Denis wollen von der "Dynamik des Stade de France" und dem "Echo der Weltmeisterschaft" profitieren. 2 800 Unternehmen sind hier mittlerweile angesiedelt, neben Siemens haben auch Panasonic und eine Großbank ihren Hauptsitz hierherverlegt. Darüber hinaus gibt es die Universität Paris VIII und Teile der Universität Paris XIII.

Im Rahmen des urbanen Erschließungsprojekts von 1990 wurde 1993 die Interessenvereinigung Saint-Denis-Promotion zur Selbstvermarktung von 13 örtlichen Händlern gegründet, heute sind es 150. Im Frühjahr rief man eine Vereinigung der Händler aller WM-Städte ins Leben, um sich besser zu vermarkten - ein Logo, ein Pressebüro, und die Hoffnung auf mehr Einfluß, so z.B. wenn es um längere Öffnungszeiten geht. "Außerdem sind wir gerade dabei, WM-Werbeplakate, Fahnen, etc. zu kaufen, um die Läden zu dekorieren - als Großabnehmer kriegen wir das viel billiger als die Konkurrenz", sagt Claire O'Petit, Präsidentin der Handelskammer in Saint-Denis. "Die WM, das wird das Geschäft." Für 33 Tage.

Zonenbewirtschaftung

Das Konzept der "positiven Diskriminierung" scheint einem universitären Forschungsprojekt entliehen zu sein. Jedes Viertel, jedes Gebiet soll individuell entwickelt werden. 1996 zählt man im Departement Seine-Saint-Denis folgerichtig zehn Z.E.P. (vorrangig zu entwickelnde Bildungszonen), 19 Städteverträge, 35 Viertel, die als sensible urbane Zonen qualifiziert werden, 22 Kommunen als Unterzeichner von städtischen Beschäftigungsabkommen, vier urbane Großprojekte, usw. Insgesamt sind zwei Drittel der Bevölkerung dieses Departements einer spezifischen Entwicklung unterworfen. Doch das Mosaik solcher Zonen ignoriert häufig die realen Gegebenheiten, ja verstärkt zum Teil noch Barrieren und Unterschiede.

Barrieren sind auch die Fabrikgelände, Stadtautobahnen, Kanäle, die physischen Markierungen der Grenzen, die die sensiblen Punkte vom Rest der Siedlungen abgrenzen. Unter dem Stichwort "positive Diskriminierung" kümmert sich der Staat um die Problemquartiere, anstatt die Städte als Ganzes anzugehen. Die Flut der von Sozialingenieuren ausgeheckten Projekte, häufig versteckt hinter ambitionierten Titeln ("Die Stadt ändern, das Leben ändern", "Die Einwohner zu den Machern der Veränderung machen ..."), läßt Raum für alle Interpretationen.

Die Wahrnehmung der Banlieue

In erster Linie bestimmen Einzelwahrnehmungen und emotionale Reaktionen den Umgang mit der Banlieue. Realitäten wie "exclusion" (soziale Ausgrenzung), fehlende soziale Einrichtungen, Unfähigkeit der Funktionäre, Depression der Sozialarbeiter, Versagen der Integration, schulische Probleme, Arbeitslosigkeit werden ausgeblendet.

Die Banlieue, weit davon entfernt, alle in ihr vorhandenen Ungleichheiten auszudrücken, wird mit Erwartungen überfrachtet. Von ihren Bewohnern wird eine beispielhafte und symbolische Integration und eine aktive Bürgerschaft verlangt, die schon in weit besser gestellten Gegenden nicht geleistet wird.

Die Analyse ist verstellt von Bildern, von Kommentaren, von politischen Sensibilitäten, dem Sozialen nähert man sich nur mit der Ideologie. Selbst die Zuständigen innerhalb der Banlieue passen sich den medialen Ideologien an - vor allem die "Unsicherheit" sei das entscheidende Problem. Politiker reagieren, angetrieben von einer unruhigen Öffentlichkeit, überhastet. Gerade die sensibelsten Punkte werden nur in Form des medial aufbereiteten Ereignisses wahrgenommen. Und so werden die Räume von außen mit Vorurteilen belastet und schließlich dem physischen Verfall überlassen.

La Corneuve

Ein "sensibles" Viertel. Vom Dach des Stadions sieht man im Norden die Basilika, im Süden Sacré-CÏur. Der Blick nach Osten offenbart die anonymen Wohnblocks von La Corneuve. Kein schönes Bild. Dort gibt es große Schutthaufen, gerodete Flächen, schlammige Brachen. Und dahinter die durch die Hochhäuser gebildete Grenze. Im großen Bogen führt die hier durch die Außenbezirke führende, aus der Stadt kommende A1 hinaus aufs Land. Nur eine Brücke führt etwas weiter östlich über den hier dreißig Meter breiten Kanal, der das Stadion vom Stadtteil Corneuve trennt.

Dieser Ort wirkt aus der Nähe wie eine große Baustelle. Unverputzte oder schon wieder bröckelnde Fassaden, wie zufällig nebeneinandergestellte Betonklötze, mit erbärmlichen Mäuerchen und Zäunen. Wenige Autos stehen herum, noch weniger Menschen sind auf den Straßen. Die Gegend wirkt ausgestorben. Schilder verweisen auf eine Moschee und eine Synagoge, auf eine Mercedes-Vertretung und eine Sozialstation, auf den John-Lennon-Platz und die Polizeistation.

Das permanente Rauschen der vorbeiführenden Schnellstraßen liegt über diesem Ort. Die Bürgersteige sind entweder aus gewalzter Erde oder asphaltiert und aufgeplatzt. Die kleinen Freiflächen sind unbepflanzt, bis auf die eine oder andere erbärmliche Pinie hier und da. Hier wohnt man in keiner Avenue, hier kommt man aus einem der Wohnblocks. "Ich komme aus dem Gebäude 5", sagt ein von der Pubertät gezeichnetes Mädchen. "Vorher aus dem Gebäude 3 im Viertel Franc-Moisin. Bis es abgerissen worden ist."

Der Abriß von Wohnblocks erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit bei Lokalpolitikern, um "sensible" Punkte zu entschärfen, eine nach ihrem Geschmack zu hohe Konzentration von Ausländern und Armen zu zerstreuen. In der Regel wird dieses Ziel durch technische und architektonische Gründe nur maskiert, wie die einzige Studie zu diesem Thema festhält. Die Umsiedlung in irgendwo entstehende Neubauten funktioniert weniger gut. Häufig sind dort die Mieten zu hoch, oder die Wohnungen reichen nicht aus.

Doch die "Radikalchirurgie" geht weiter. 7 000 Sozialwohnungen werden alleine 1998 zerstört. Die Probleme der Menschen werden so kaum gelöst. Dreitausend Menschen wohnten vorher in Gebäude 3. Wo sie geblieben sind, weiß niemand so genau zu sagen. Aus der Kommune, aus dem Sinn. Es interessiert aber auch niemanden, weder hier noch anderswo.

Genauso wenig, wie sich das Mädchen für seinen Vater zu interessieren vorgibt. "Keine Ahnung, wo der ist, oder was der macht. Mama und wir kommen auch so klar", sagt sie. "Da oben, das Fenster mit den Lichtern. Das ist mein Zimmer. Zusammen mit meiner Schwester. Und links daneben, da wohnen meine Brüder." Tausende kleiner Fenster zeigen ihre blinden Rolläden. Wäsche hängt nirgends. Zu feucht draußen, es ist nebelig. Aber selbst strahlendster Sonnenschein ließe die ganze Schäbigkeit dieses von armen Leuten bewohnten Orts nicht vergessen. Dann verschwindet mit den Worten "Ich muß jetzt Essen machen" auch das Mädchen.

Seinen Namen weiß ich nicht. Ich habe vergessen zu fragen. Es bleibt so anonym und mir so fremd wie die Gegend. Was sich hinter den Hochhausfassaden abspielt, bleibt dem Besucher verschlossen. Er ist der Fremdkörper im Fremdkörper. Ein leerer Schulbus fährt vorbei. Ein Fahrer, dazu drei Begleiter - zur Sicherheit. Die übliche Besetzung.

Eine Stimme nähert sich. "Ho! Was machst du da? Fotos? Ich hau dir war auf die Fresse. Ho!" - "Ist das verboten?" - "Ja, das ist verboten. Verpiß dich. Los. Verzieh dich." Ein brauner Pitbull, von der etwas herrischen Stimme seines weißen Herrchens animiert, knurrt und richtet seine Nackenhaare auf. Ende des Besuchs. Im Bus zurück nach Paris erzählt ein Mann aus Ghana, der seit 25 Jahren in Corneuve lebt, er träume davon, nach Deutschland zu gehen. Nach Frankfurt. Er habe gehört, da gebe es noch Arbeit, und erzählt weiter: "Drei Kinder habe

ich. Die wollen was essen. Hier ist doch sowieso alles verloren. Aber in Deutschland, da ist es vielleicht noch besser." Schweigen. Dann: "Aber ich habe nicht mal französische Papiere."

Saint- Denis putzt sich

37 Milliarden Menschen werden während der Fußball-Weltmeisterschaften auf Saint-Denis schauen. Da gilt es, der Banlieue ein passendes Outfit zu verpassen. Die Bilder für die neugeschaffene Selbstdarstellung im Internet hat ein Fotograf der renommierten Agentur Sigma geschossen. Doch wer durch Saint-Denis geht, wird seine hübschen Bilder noch nicht so leicht wiederfinden.

Aber es entstehen Plätze, Gärten, bepflanzte Rasenflächen. Neue Landschaften. Hier ein 15 Meter breiter Bürgersteig, dort eine 24 Meter breite Fußgängerallee von den neuen S-Bahn-Stationen zum Stadion, dort eine Brücke über den Kanal zum 1972/73 erbauten "sensiblen" Viertel Franc-Moisin und Corneuve. Die Böschungen des Kanals Saint-Denis werden bepflanzt. Er führt zum Becken von La Villette, wo er die beiden anderen Pariser Kanäle, den Canal de l'Ourcq und den Kanal Saint-Martin trifft. 53 neue Bäume auf der Avenue Charles de Gaulle, vier neue Baumreihen an der Avenue de Président Wilson.

Sportliche Assoziationen wecken die Namen der vierzehn neuangelegten bzw. verlängerten Straßen um das Stadion: Rue de Brennus (Rugby), Rue Jesse Owens, Avenue Jules Rimet (Fußball), Rue de L'Olympisme, Rue Henry Delaunay (Fußball), usw. Und überall Fahnen. Sogar vorne auf den Bussen flattern rechts und links je ein kleines WM-Fähnchen. Wie bei einer Staatskarosse. Saint-Denis ist zur WM-Enklave geworden. Hier regiert kein Bürgermeister mehr, in der "Stadt der Könige" regiert wieder ein König - "König Fußball".

Neue Parkplätze. Granitböden, Glastüren, neue Kacheln, sechs neue Treppen, zwei neue Rolltreppen, drei neue Aufzüge für die Metrostation Porte de Saint-Denis am Stadion. Im Zentrum der Stadt werden die Bürgersteige neu betoniert, Häuser gestrichen, Beete angelegt. Aber das reicht noch nicht. Das heruntergekommene Quartier Cornillion Süd grenzt direkt an das Stadion. Während der WM sind dort Wände aufgestellt, hinter denen die Häuser verschwinden. Auf den Wänden werden Informationen zum Stadion und zur WM zu sehen sein. Zum Schutz der Anwohner, wie es offiziell heißt.

Das Stadion vertreibt die Armen

Von Libération gefragt, antworten Marcel, 70, und Abel, 68: "Abel und ich, wir wollten das Stadion nicht, denn wir hatten Angst, daß es dieses alte Viertel kaputtmacht." Sein Kumpel ergänzt: "Auf jeden Fall, für die WM, da wollen die Organisatoren hier vor unseren Häusern eine Berliner Mauer bauen, weil hier, das ist immer noch die Dritte Welt." Was sich hier auf hundert Metern abspielt, ist ein banlieueweites Problem. Die Aufwertung bestimmter Kommunen durch Prestigebauten, besondere Dienstleistungen, Universitäten, Aktivitäten geht Hand in Hand mit der Pauperisierung anderer, ohnehin schon ökonomisch und sozial degradierter Räume. Saint-Denis erhält dieses Jahr sicherlich nicht zufällig zwei neue Schulen, die größte Universitätsbibliothek Frankreichs und eine zusätzliche neue Metro-Station an der Universität VIII.

In der Stadt werden Busspuren angelegt, vier neue Buslinien geschaffen, dreizehn weitere umgelegt. Und die französischen Elektrizitätswerke (E.D.F.) haben den "Kampf gegen die Exklusion" (Eigenwerbung) wohl ebenfalls nicht zufällig in Saint-Denis aufgenommen und setzen für 310 Millionen Francs ihren neuen Firmensitz "Cap Ampère" in die Nachbarschaft des Stadions.

Und so wird der regionale Wettbewerb angekurbelt. Die Lösung eines Problems schafft das nächste. Die Bodenpreise nehmen nicht in konzentrischen Kreisen und sich von der Stadt entfernend ab, sondern schwanken von Punkt zu Punkt.

So proletarisieren sich einige Gegenden durch einen Zuwachs von Arbeitern, Arbeitslosen, Ausländern und Rentnern, andere verbürgerlichen. Wird das Image eines Viertels verbessert, um ihm einen Lebenswert zurückzugeben, dann steigen die Mieten, und die Armen werden vertrieben. Die Bevölkerungsstruktur von Saint-Denis wird sich verändern. Schon jetzt liegt die jährliche Mobilität bei knapp zehn Prozent. Die Banlieue-Stadt Saint-Denis tendiert dazu, Faubourg von Paris zu werden.

Der Sport

Im Haushalt 1997 wurden im Etat für Jugend und Sport 150 Posten, das sind 37,5 Prozent, für den Breitensport gestrichen, in den letzten zehn Jahren insgesamt fast 1 000. Gerade Jugendprojekte und Breitensport sind so dem Rotstift zum Opfer gefallen. Wenn keine Gelder mehr für das Stadion abgezweigt werden müssen, steigt der Etat 1998 um 4,7 Prozent. Die Sport- und Jugendministerin Marie-George Buffet (PCF) will den Großteil der freiwerdenden Mittel in den Kampf gegen Doping stecken.

Wenn Jugendlichen sich selbst überlassen werden, ohne berufliche Perspektive sind, kann ihnen dann Sport helfen? Erlaubt er es den unterschiedlichsten Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus, sich zusammenzufinden? Ein lokaler Politiker zeichnete das Bild: "Der Gewählte, der Unternehmer und der Jugendliche aus Corneuve, vereint über alle sozio-ökonomischen Schranken hinweg. Wo gibt es das schon?" Oder erzieht Sport Kampfmaschinen, die dann nur noch in den Kategorien Verlierer und Gewinner denken, gerüstett für den Hobbesschen Krieg aller gegen alle?

Marie-George Buffet, Ministerin für Jugend und Sport, jedenfalls glaubt an den Sport: "Wir haben eine öffentliche Verantwortung. Ich möchte dem Sport seinen sozialen und gemeinschaftlichen Sinn, seine Solidarität und Ethik wiedergeben." Außerdem sei die WM "ein Glück für Frankreich. Nicht nur wegen der ökonomischen Vorteile, die nicht zu leugnen sind. Es ist ein Glück, denn vermittelt durch die populärste Sportart des Planeten drückt sich eine Zusammenkunft der Völker, der Kulturen aus. (...) Damit niemand von dem Fest ausgeschlossen bleibt, habe ich entschieden, 15 Millionen Francs zu bewilligen, um rund um die WM sportliche und kulturelle Initiativprojekte zu finanzieren." Voilˆ.

Die Banlieue II

Statistisch besteht die Banlieue seit 1954 aus einer einfachen Subtraktion: die peripheren Gebäudeansammlungen minus die Innenstadt. Nach dem I.N.S.E.E. (Nationales Institut für Statistik und ökonomische Studien) zählte die Pariser Banlieue 1968 knapp 280 Kommunen, 309 Kommunen im Jahr 1975, und 378 Kommunen 1990. Zum Vergleich: Lyon, Lille und Bordeaux hatten 1990 jeweils 83, 54 bzw. 39. Seit 1975 stieg die Zahl der Banlieusards um fast 3,5 Millionen auf fast 19 Millionen. 55 Prozent von ihnen, gegenüber 15 Prozent landesweit, leben in Sozialwohnungen. Fast zehn Prozent der Haushalte bestehen aus sechs Personen oder mehr, gegenüber drei Prozent landesweit. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch als im Landesdurchschnitt. Ein Viertel der Bewohner sind Ausländer. Von den Schwarzafrikanern sind 60 Prozent unter 20 Jahren alt, von den Maghrebinern 54 Prozent.

Doch die Banlieue läßt sich nur bedingt statistisch fassen, nicht nur, weil nach den Angaben der I.N.S.E.E. 96 Prozent aller Franzosen im urbanen Raum leben müßten. Die durch die mediale Darstellung stigmatisierte Banlieue wird im Spiegel der Zahlen zur abstrakten Figur, gleich einer klar abgrenzbaren Entität, was sie nunmal nicht ist.

Interessanter sind beispielsweise die baulichen Entwicklungsphasen der Banlieue. 1958 werden ihr im Rahmen eines Gesetzes, das "bevorzugt zu urbanisierende Zonen" festlegte, Hochhäuser zwischen 500 und 4 000 Wohneinheiten verordnet, die einen vollkommenen Bruch mit der Umgebung darstellten. Geplant als Ausdruck von Modernität werden vorgefertigte Teile in Fließbandarbeit zu purem Gigantismus zusammenmontiert. Ab 1967 verstärkt sich diese Tendenz, da, bedingt durch steigende Bodenpreise, eine immer größere Verdichtung und Isolierung der Viertel erfolgt.

In den sechziger Jahren werden viele der kleinen Dorfkerne mittels Hochhäusern und monotonen Großsiedlungen aufgeblasen. Grigny im Süden von Paris verzeichnet 1962 noch 1 700 Einwohner, 13 Jahre später sind es 25 600. Traumatisch. Erst ab 1977 versucht man diesen Auswüchsen zu begegnen, aus den Fehlern zu lernen und wieder abwechslungsreicher zu bauen, sprich soviel Licht zwischen die Wohnsilos zu lassen, daß sich dort ein bißchen Rasen halten kann. Insgesamt entstehen in dieser Zeit etwa 6 000 Gebäude mit jeweils mehr als 200 Wohnungen, davon alleine 1 800 rund um Paris. Davon wiederum 153 mit mehr als 1 000, 20 sogar mit über 4 000 Wohneinheiten.

Die Phasen werden - allerdings schon seit dem 18. Jahrhundert - begleitet von einem wahren Wust an Therapieversuchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind durchschnittlich alle fünf Jahre grundlegende neue Gesetze verabschiedet worden, um die Probleme in den Griff zu kriegen.

Einer der letzten Versuche, der dazu einen schönen Titel trägt, ist der Anfang 1996 geschlossene "Pakt über die Rückkehr des Staates in die Banlieue", der, wie die Gesetze zuvor, eine grundlegende Reorganisation von öffentlichen Gebäuden, Verwaltung, Finanzen, Arbeit, Sozialwohnungen - und nun vor allem der Sicherheit vorsieht. Und es bleibt dabei: Es geht um die Problemquartiere, nicht um die ganze Banlieue. Aber eine positive Diskrimination kann eine strukturelle nicht wettmachen.

Die Banlieue und die Kultur

Im Museum für Kunst und Geschichte in Saint-Denis finden sich reichhaltige archäologische Funde, dazu eine wirklich brauchbare Sammlung über die Kommune in Paris, vor allem zum berühmtesten Kind der Stadt, Paul Eluard, und zu den Surrealisten. Es gibt wie in so vielen Städten der Banlieue ein sich als "progressiv" titulierendes Theater, ein Musikfestival, und noch einiges mehr. Doch zuweilen interessanter als die Kultur in der Banlieue ist die Banlieue in der Kultur.

In der kollektiven Vorstellung, in der Erinnerung an die großen Volksängste, in den Diskursen der Politiker, später im Kino, in Literatur und Musik wurden die Umrisse der Banlieue gezogen und anschließend die Codes ihrer Repräsentation permanent wiederholt. Die dort beschriebene Banlieue ist so exotisch wie eine Reise ins Innere der Welt.

Alphonse Daudet schickte schon vor 130 Jahren einen seiner Helden als Zeichen des sozialen Abstiegs, als krasses Bild seines physischen und moralischen Verfalls, zur Arbeit in ein Banlieue-Theater. Die Poeten der Banlieue wie Arthur Rimbaud oder Apollinaire schwanken zwischen populärem Realismus, Exotismus und Klagen.

Die kulturelle Darstellung der letzten Jahrzehnte nährt sich ebenfalls von - wenn auch leicht modernisierten - Stereotypen, vor allem Hochhäuser als Ausdruck von Beton, Gigantismus und Langeweile. Die universellen Themen werden nun in die Keller, Bahnhöfe und Supermärkte der Hochhaussiedlungen verlegt.

In Filmen wie "La Haine" ("Haß"), aber auch in "Hexagone" oder "Rai" ist die Banlieue zum filmischen Topos für Großstadt geworden, so daß es scheint, als seien Jugendlichen nur noch über sie zu definieren. Sie sind die Banlieue, die Banlieue ist sie. Der größere gesellschaftliche Kontext wird ausgeblendet, die Banlieue verwandelt sich von der Realität in ein Phänomen, und persönliche Fragen stellen sich nur vermittelt über die Existenz der Banlieusards.

In Vieillard-Barons' Buch über die Banlieue findet sich das Foto einer
Häuserwand mit Graffiti. Dort steht gesprayt: "Chigagau". Al Capone,
Michael Jordan, doch Ghetto? Größter anzunehmender Unfall? Brecht, Bildungsmisere? Rap? Wolkenkratzer? Rechtschreibreform? Die Sprachlosigkeit der sozial Entrechteten? Alles nicht völlig falsch.

Die Jugendlichen II

Die jungen Leute haben häufig das Gefühl, es mit einer geschlossenen Gesellschaft zu tun zu haben, an der teilzunehmen sie keine Chance sehen. Vorsichtshalber sind zu den Spielen größere Polizeieinheiten aufgeboten und werden das Stadion von den "sensiblen Vierteln" trennen.

An den eigenen Club Saint-Denis-Saint-Leu im Stade de France glauben die Jugendlichen nicht, schon gar nicht an den "großen Banlieue-Club mit europäischer Perspektive", wie der Bürgermeister nicht müde wird zu verkünden. Rachid, 15, meint: "Wir stehen weit unter den der Nationale 1, unser Sturm ist der schlechteste. Kein Wunder, daß nur 700 bis 800 Zuschauer kommen. Und wie sollen die das große Stadion vollkriegen?"

Trotzdem spielt der Fußball hier eine Sonderrolle. An einem Fußballturnier zwischen den Vierteln der Banlieue nehmen seit Mitte Februar wie schon in den Jahren zuvor wieder 25 Prozent der 13- bis 15 jährigen aus Saint-Denis teil. Doch es ist nicht selbstverständlich, daß Jugendliche aus verschiedenen Vierteln und Städten sich so begegnen. "Die Mannschaften bilden sich von alleine", erklärt Jean-Claude Lecoq, Sportverantwortlicher der Stadt. "Wir sind nur da, falls es irgendwelche Zwischenfälle gibt. Aber die sind mehr oder weniger selten." Aus Rachids Mund hört sich das alles nicht mehr ganz so einfach an: "Wenn wir aus unserem Viertel rausgehen, dann wird es gefährlich. Die Terrains sind abgesteckt. Und dort, wo es nicht gefährlich ist, können wir nicht mit den Leuten, und sie nicht mit uns."

Während auf dem Spielfeld zwischen Manchester (Franc-Moisin) und dem FC Barca (Duclos) erbittert gekämpft wird, erzählt Jean-Marc Ferriri, Spieler des Heimatklubs Saint-Leu-Saint-Denis: "Ich kümmere mich häufig um die benachteiligten Viertel. Ich versuche Mini-Stadien zu installieren, in denen acht verschiedene Sportarten praktiziert werden können. Dieses Turnier, das ist super, das bringt die Kinder raus."

Aber dient der Sport nicht auch als Beruhigungspille, als eskapistische Einrichtung für Frust und Aggressionen, die sich sonst gegen anderes richten richten würden als gegen einen Lederball? Dominique Rocheteau, eine Patin des Turniers erzählt: "Mit den Mannschaften der anderen Städte machen hier über 2 000 Kinder mit. Hier, das ist das wirkliche Turnier der Straßen, der Viertel. Für die Kinder ist das gut." Den Straßensport zu einer eigenen Banlieue-Kultur zu erklären, greift jedoch daneben. Es gibt keinen Banlieue-Sport. "Hätten wir andere Spielfelder, würde wir was anderes machen", erklärt ein Jugendlicher.

Nochmal Ferriri: "Sport ist gut. Sport ist das Leben." Lecoq ergänzt: "Der Sport verteidigt die Werte, die Regeln, die das Kind im Leben wiederfinden wird." Ein passendes Bild. Er beschreibt den sportlichen Wettbewerb mit seinen willkürlich festgelegten Regeln als Abbild der und Vorbereitung auf die wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe in der Banlieue, in der Gesellschaft.

Was die WM angeht, so wollen die Jugendlichen hier nicht an den von der Stadt initiierten Festivitäten rund um das Stadion teilnehmen, bei denen "jeder seinen Platz finden soll", sondern alle in das Stadion zu den Spielen. "Und wenn sie uns schon keine Tickets geben, dann wenigstens eine Ausbildung", sagt ein Spieler von Real Madrid (Dourdin). Wenn auch unbewußt, hat er erkannt, daß die für die Tickets und die Ausbildungsplätze Verantwortlichen irgendwie nicht aus seiner Mannschaft kommen. Die Sozialarbeiterin Sabrina meint, angesprochen auf die Baukosten des Stadions: "Alles hängt davon ab, ob die geweckten Hoffnungen erfüllt werden oder nicht." Ihr Kollege Nasser ergänzt: "Nun kommt eine wichtige, vielleicht entscheidende Phase." Das erfreulichste Ergebnis des Tages lautete: Banlieue 98 (Plaine) schlug Bayern (De Geyter) mit 9 zu 3. Beim Weggehen begegnet mir ein langes Gesicht. "Was ist los?" - "Wir haben verloren, acht zu fünf." - "Woran hat es gelegen?" - "Die Verteidigung und ein bißchen der Angriff ..."

Et maintenant?

In der Banlieue äußert sich die wachsende Ungleichheit und die soziale Fragmentisierung. Weil die Banlieue fragiler ist, steht sie den Drohungen aggressiver, verängstigter Mittelschichten und ansteigender rechtsextremistischer Ideologien schutzloser gegenüber. Genau wie der Front National wird sie jedoch häufig nur als Phänomen wahrgenommen, als erklärbares Symptom schwieriger Zeiten. Vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit und Not scheinen die von seiten der Politik an die Banlieusards gerichteten Hilfsangebote eher eine kommunikative Strategie, um es sich nicht endgültig mit einer potentiellen politischen Klientel zu verderben.

Im Stade de France die Lösung der Probleme selbst nur einer Stadt in der Banlieue zu sehen, wie es französische Medien und Politiker tun, heißt nichts anderes, als den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen: "Das Stadion repräsentiert die Anti-Demokratie par excellence, es ist der bösartigste soziale Träger des Kampfes aller gegen aller zum Profit von einigen. Das Stadion ist nicht die Agora. Das Stadion ist eine illusionäre Gegen-Gesellschaft. (...) Man muß unglaublich naiv (oder borniert) sein, um im Stadion einen Faktor für irgendeinen Fortschritt zu erblicken oder eine Quelle persönlicher oder sozialer Bereicherung oder ein kulturelles Gut für die Gemeinschaft." (Marc Perelman)