Atelier Mathesie

Auf Circes Insel

Bericht aus einem Archiv.

Ein Archiv ist eine Anhäufung von Gegenständen oder Daten, die aus professionellen Gründen oder obsessiven Motiven gesammelt, geordnet und registriert werden. In der Regel soll es den Zugriff auf Gegenstände oder Daten ermöglichen, die für den Archivar oder dessen Auftraggeber wichtig sind.

Das Foto-Atelier Mathesie unterhielt ein professionelles Archiv: Sämtliche Negative wurden so aufbewahrt, daß die Kunden später problemlos Abzüge nachbestellen konnten. Das Arbeitsleben der Fotografin Charlotte Mathesie hat zirka 300 000 Negative hervorgebracht. Angesichts all der Kästen und Kisten, Registraturbücher, Auftragskladden und Requisiten liegt der Gedanke nahe, für Charlotte Mathesie könne das Fotografieren auch eine Obsession gewesen sein, nicht nur eine Tätigkeit zur Existenzsicherung, sondern Leidenschaft. In der Chronik des Ateliers lassen sich dafür Belege finden: Charlotte Mathesie lebte für das Fotostudio. Sie war nur kurz verheiratet und ihre 17 Lehrmädchen waren ihre eigentlichen Kinder, mit denen sie Betriebsausflüge machte - in den sechziger Jahren sogar einmal nach Paris.

Die lebenslange Arbeit am Bild des Menschen hat Spuren hinterlassen und beansprucht Platz. Im Kreuzberg Museum füllt das Mathesie-Archiv einen ganzen Raum mit Kartons, Auftragsbüchern und Requisiten, die zunächst dokumentieren, daß Charlotte Mathesie und ihre Lehrmädchen jahrzehntelang regelmäßig fotografiert und entwickelt haben. Zigtausend Menschen sind ihnen begegnet, die alle einen Grund hatten, ins Fotostudio zu kommen: Sie wollten sich ablichten lassen, sei es für den Paß oder zur persönlichen Erinnerung, für einen Unfallschadensbericht an die Pkw-Versicherung, für die Dokumentation von Bauphasen, für eine Werbekampagne, oder um einen ganz besonderen Moment im Leben - die Hochzeit, die Konfirmation oder den ersten Schultag - für sich und die Nachwelt festzuhalten. Die Nachwelt, das sind heute zuerst die Archivare, die das Material für die Nachwelt aufbereiten und die es - wie in unserem Falle - ausstellen.

Bei der Betrachtung der immer wiederkehrenden Motive (Babys, Kleinkinder, Familien, Brautpaare und Hunde) lassen sich erstaunliche Beobachtungen von Veränderungen machen, die den Fotografinnen noch verborgen bleiben mußten. So wechselt im Laufe der Jahre die Kleidung der Studiogäste. Sie tragen keine Kleider und Anzüge mehr, sondern Jeans und bedruckte T-Shirts, die Pudel schmückt plötzlich ein Herzchen mit der Heimat-Adresse am Halsband, schließlich sind es übers Jahr gar keine Pudel mehr, die der Kamera vorgeführt werden, sondern Cockerspaniels, die Koteletten der Herrchen werden von Jahr zu Jahr voluminöser und verschwinden dann plötzlich ganz. Saßen die Frauen ehedem mit züchtig überschlagenen Beinen vor der Kamera, so stehen sie in den siebziger Jahren selbstbewußt und manchmal breitbeinig wie die Männer vor der Fotografin.

Seit etwa 1967 lassen sich "Gastarbeiter" bei Charlotte Mathesie fotografieren und zeigen stolz die Uhr am Handgelenk. Die türkische Kundschaft will in anderen, expressiveren Posen fotografiert werden als die deutsche. Männer und Frauen halten sich die Hände, oft in einer Art Treuegeste. Zu Beginn der achtziger Jahre wagen sich auch Punks ins Fotostudio. Und immer wieder ist Frau Mathesie selbst im Bild. Fast alterslos animiert sie Babys zum Lächeln und bezirzt Kinder und Dackel, in die Fotolinse zu schauen. Sie ist im Studio diejenige, die den Ton angibt.

Ungeachtet der Veränderungen, beweisen viele Requisiten Zählebigkeit: Von Beginn an ist ein stabiler Stuhl im Pseudo-Rokoko-Stil mit von der Partie. Er wurde von Tausenden Studiobesuchern "besessen". Eine seltsame Babyablage - von Charlotte Mathesies Bruder Hugo konstruiert - hält sich bis zur Schließung des Ateliers. Nach langer Zeit löst ein neuer, hellerer Teppichboden den alten ab. Man hat ihn vermutlich als "freundlicher" bezeichnet. Den neutralen Vorhang, der als Bildhintergrund diente, ersetzen in den frühen siebziger Jahren grellfarbene Vorhänge und für eine kurze Phase eine gewagte Fototapete mit zwei Säulen.

Dem Bedürfnis der türkischen Kundschaft entsprechend, führt Charlotte Mathesie Anfang der siebziger Jahre künstlischen Blumenschmuck ein. Gerne hält man die Blumen in der Hand oder berührt ihre Blütenspitzen. Das Plüschspielzeug für die Kinder weicht erst spät Spielsachen aus Plastik. Mitte der siebziger Jahre taucht ein ziemlich häßliches Gitter auf, das von nun an als Handstütze und Anlehnbarriere fungiert. Das Licht verändert sich: Erzeugte es in den späten vierziger Jahren fast dramatische Effekte, so wird es in den fünfziger und sechziger Jahren eher neutral eingesetzt, um in den siebziger Jahren als Streiflicht - ganz im Sinne der Popart - neue Akzente zu setzen. Im Atelier vergeht die Zeit so schnell wie in der Welt. Posen und Gesten erleben in den frühen siebziger Jahren eine Revolution, so wie die Mode auch: Auf einmal stehen Mädchen in Hotpants und Miniröcken in kesser Haltung vor der Kamera, Türken mit großen Schnauzbärten und Türkinnen mit oder ohne Kopftuch lassen sich meist stehend fotografieren. Es sind dies die Fotos, die bald voller Stolz oder aber mit dem Gefühl des Heimwehs an die zurückgebliebene Familie geschickt werden.

Die Studio-Fotografie lebt in der Hauptsache von Standards: Typisch ist das Familienporträt mit dem Vater im Mittelpunkt - oder dem Hund. In der Nachkriegszeit fehlen die Väter, falls vorhanden, ersetzen die Söhne sie. Immer wieder findet sich das Bildnis der jungen Mutter, die sich erstmals mit dem Nachwuchs ablichten läßt. Doch selbst bei solch einer Standard-Pose sind die Unterschiede markant: Nicht jede Mutter scheint glücklich und stolz; so manche hält ihr Baby eher ungeschickt und weit entfernt vom Körper. Im Fotostudio werden Rollen eingeübt, und da die Kamera die eingenommene Pose festhält, dokumentiert sie auch dieses Sich-Ausprobieren und läßt es nachhaltig wirksam werden.

Aus kleinen Jungen werden bei Mathesie in den fünfziger und sechziger Jahren kleine Herren, die sich selbstbewußt auf kurze Spazierstöcke stützen. Die Mädchen heben in der gleichen Zeit das Röckchen leicht an. Das haben ihnen die Fotografin oder die Mutter oktroyiert, damit sie "niedlich" aussehen.

Die Studentenrevolte geht spurlos am Atelier Mathesie vorbei: 1967 und 1968 werden hauptsächlich Hochzeitsfotos, viele Dackel- und Pudelporträts, Paß- und Babyaufnahmen bestellt. Naiv wäre es, anderes zu erwarten, denn die großen kulturellen Einschnitte stellen sich im Fotostudio erst mit Verzögerung ein, und dann auch nur abgeschwächt und maskiert durch modische Konventionen und Äußerlichkeiten. Im Fotostudio wird keine Politik gemacht, im Gegenteil, hier wird das Hohelied der Privatheit und der Individualität gesungen, auch wenn Gesten und Haltungen, Lichtführung und Requisite Massencharakter annehmen, denn Tausende von Menschen werden in vergleichbaren, nur leicht variierten Posen abgelichtet. Paradox, denn die Fotografierten wollten doch ein einmaliges Foto besitzen, das sie in größter persönlicher Unverwechselbarkeit darstellt.

Im Fotostudio herrschen Standards vor. Anders als in der Kunst oder Experimentalfotografie weicht hier kaum eine Aufnahme davon ab. Das Ausgefallene und Schräge ist immer die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Einer, der bei Mathesie "aus der Rolle fiel" war der Künstler Martin Kippenberger: 1977 ließ er sich im Atelier als Türkin verkleidet fotografieren.

Im Archiv ist das Motiv der Vergänglichkeit lebendig. Foto und Fotografie lösen den Menschheitstraum des "Verweile doch ..." eben nur in sehr geringem Maße ein. Das Foto ist eher ein Spiegel, reflektiert den Moment, knipst ein ganz kleines Stückchen Leben vom Strom des Vergessens ab und zeigt es auf einem Zelluloidstreifen, der dann parallel zum permanenten Vergehen bleibt - etwas länger bleibt, denn auch die Negative und Positive verschießen, vergilben, bleichen aus. Und so entsteht ein wenig Bewußtsein über das, was man Zeit nennt.

Leicht gekürzte Fassung des Beitrags, den Peter Funken für den Ausstellungskatalog verfaßt hat.