Ausschwitz und die Krise der Theorie

Wer von Auschwitz nichts wissen will, sollte die Klappe halten

Ohne Erkenntnis der deutschen Vernichtungspraxis sind auch die deutschen Zustände der Gegenwart nicht zu verstehen

"Ich frage euch, Leute, kann man denn so etwas glauben? Ohne Grund Frauen und unschuldige Kinder erschießen? Einfach so? Am hellichten Tage? Man darf doch nicht einmal die größte Mörderin zum Tode verurteilen, wenn sie schwanger ist - und da sollten sie angeblich kleine Kinder umgebracht haben? Wo gibt es denn Menschen, Familienväter, die es wagen würden, mit einem Maschinengewehr auf wehrlose, kleine Kinder zu zielen?"

Fassungslos hatte Calel Perechotnik diese Fragen notiert. Als jüdischer Ghetto-Polizist war Perechotnik von den Deutschen zum Werkzeug der Vernichtung der eigenen Familie gemacht worden, bevor er selbst 1944 in Warschau umkam. Es dauerte ein halbes Jahrhundert, bevor sein minutiöses, im Versteck verfaßtes Protokoll der deutschen Terrorherrschaft erstmals veröffentlicht wurde. Nach der israelischen Erstausgabe von 1993 wurde dieser Bericht 1997 unter dem Titel "Bin ich ein Mörder?" (zu Klampen, Lüneburg) publiziert.

"Vielleicht bleibt meine Geschichte erhalten", hatte Perechotnik nach dem Untergang des Warschauer Ghettos notiert, "vielleicht wird sie die demokratischen Staaten dazu bewegen, alle Deutschen schonungslos auszurotten und den unschuldigen Tod von Millionen jüdischer Kinder und Frauen zu rächen." Auf mindestens 2 200 000 wird die Zahl der Kinder geschätzt, die die Deutschen allein in Polen umgebracht haben, eine Realität, die sich menschlicher Vorstellungskraft entzieht und eigentlich nur eines, lähmendes Entsetzen, hervorzurufen vermag.

Auschwitz und die Shoah: Dies ist das säkulare Ereignis, das sich dem Prozeß der Erkenntnis selbst nach Jahrzehnten nur bruchstückhaft erschließt. Dies gilt besonders im Lande der Mörder, in dem die Sprachlosigkeit kaum je dem schieren Entsetzen, als vielmehr der im Selbstlauf funktionierenden Übereinkunft von KomplizInnen geschuldet ist. Der Gestus, mit der auch in der Linken die Ergebnisse der Goldhagen-Studie als "nicht neu" oder "selbstverständlich" abgetan wurden, ist verlogen, weil eine öffentliche Diskussion über den eliminatorischen Antisemitismus der gewöhnlichen Deutschen nie stattgefunden hat. Er ignoriert zugleich, daß sich die Rezeption des Holocaust durch die deutsche Linke prozeßhaft vollzogen hat und vollzieht.

Das klamme Schweigen über die Shoah, das die deutsche Linke mit dem Rest der "Schicksalsgemeinschaft" über Jahrzehnte hinweg verband, wurde gesamtgesellschaftlich erst 1978, anläßlich der Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust", unterbrochen. Sie war der Auslöser, das Vorkriegsschicksal der westdeutschen jüdischen Gemeinden in den Achtzigern nahezu flächendeckend zu rekonstruieren, ohne jedoch die Spur der Deportationen in den nebulösen "Osten" zu verfolgen.

Ende der achtziger Jahre erst begann die Beschäftigung mit dem Werk von Raul Hilberg und den Schauplätzen des Massenmordes, wobei in der westdeutschen Linken besonders die Studie von Götz Aly und Susanne Heim über die Vordenker der Vernichtung auf Beachtung stieß. Die Stellungnahmen, die konkret aus Anlaß dieses Buches über zwölf Hefte hinweg veröffentlichte (nachgedruckt in: W. Schneider, "Vernichtungspolitik", Hamburg 1991), dokumentieren das Defizit der vor Goldhagen geführten Diskussion.

Der haarsträubend funktionalistischen These von Aly / Heim, nach der der Judenmord "eine Form war, die soziale Frage zu lösen", stand die These Dan Diners von der "Gegenrationalität" der Nazis gegenüber: "Auschwitz ist ein Niemandsland des Verstehens, ein schwarzer Kasten des Erklärens, ein historiographische Deutungsversuche aufsaugendes, ja außerhistorische Bedeutung annehmendes Vakuum." Beide Ansätze klammerten die tatnahen deutschen VollstreckerInnen des Holocaust, deren Handeln, deren Motive und deren Selbstverständnis aus. Die seit 1992 u.a. von Christopher Browning, David Bankier, Robert Gellately und Daniel Goldhagen veröffentlichten Studien markieren insofern einen Durchbruch, als sie den Fokus auf die Analyse der gewöhnlichen deutschen TäterInnen und das öffentliche Bewußtsein in Nazi-Deutschland richten.

Diese Studien widerlegen erstmals das entlastende Märchen vom Befehlszwang. Sie weisen nach, daß die Deutschen die Juden freiwillig quälten, folterten und mordeten. Goldhagens Studie kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie mit der kontinuierlichen Vernachlässigung des Antisemitismus als zentrale Ursache und treibendes Moment für die Judenvernichtung bricht. Zudem wurden nie zuvor "so unterschiedliche Situationen des Massenmordes in derart eindringlicher und detaillierter Weise präsentiert", wie selbst die konservativen Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte einräumen mußten.

Diese Fülle an neuen Erkenntnissen über die Shoah hat die Krise der an Marx orientierten Gesellschaftstheorie verschärft. Diese Krise der Theorie, die mit der millionenfachen Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen unabweisbar geworden ist, ist ein Ausgangspunkt unseres Buches, das die Haltbarkeit der in der Linken gängigen Holocaust-Interpretationen auf Basis der neuen Forschungsergebnisse überprüft. Keineswegs hat "Goldhagen und die deutsche Linke" an der Frage "Pro oder contra Goldhagen" eine Front aufgemacht. Die Auseinandersetzung mit Goldhagens Thesen war (und ist) für uns vielmehr ein Gradmesser für die Bereitschaft der deutschen Linken, sich mit der Shoah und deren Ergründung auseinanderzusetzen.

Neun Monate nach Veröffentlichung unseres Buches müssen wir konstatieren, daß unser Versuch, eine Debatte über Goldhagens Thesen zu initiieren, weitgehend gescheitert ist. Deutlich wurde zugleich, daß unsere Kritik einen empfindlichen Nerv getroffen hat. So haben die beiden Zeitschriften, von denen eine vertiefende Debatte noch am ehesten hätte erwartet werden können, konkret sowie die in Berlin erscheinende Bahamas, in ihrer Antwort auf unser Buch nicht inhaltlich, sondern mit dem Vorwurf des Verrats und des Antikommunismus reagiert. Hier hatte sich der Gedanke von der Kontrolle durch Reflexion gleichsam emanzipiert.

Unser Buch ist der Anlaß für zahlreiche Diskussionen auf Veranstaltungen in Deutschland und Österreich gewesen. Neben den Stellungnahmen der Frankfurter MigrantInnengruppe Café Morgenland und der Nürnberger Gruppe "Projekt Abgebrochen" hat sich in der Jungle World über Monate hinweg eine Debatte entwickelt, in der es explizit oder implizit auch um unser Buch gegangen ist. Die Frage, wie die Vernichtung der europäischen Juden besser als bisher erklärt werden kann, wurde in dieser Debatte jedoch am wenigsten thematisiert.

Wir haben den Eindruck, daß die Goldhagen-Thematik hier in erster Linie ein Aufhänger war, um postmodern oder wertkritisch ausgerichtete Grundsätze unter die Leute zu bringen. In diesem Diskussionsbeitrag wollen wir zeigen, warum bestimmte Prämissen sowohl des diskurstheoretischen Ansatzes als auch der wertformanalytischen Positionen auf die Krise der Theorie keine Antwort zu geben vermögen. Wir wollen begründen, warum ohne zutreffende Erkenntnis der deutschen Vernichtungspraxis auch die deutschen Zustände der Gegenwart nicht auf den Begriff zu bringen sind. "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen", hatte Horkheimer zutreffend formuliert. Wir erlauben uns den Zusatz, daß, wer von Auschwitz nichts wissen will, die Klappe hierzulande besser ganz halten sollte.