50. Die Franzosen im Tschad

Fortgesetzte Erzählungen

Das Jahr 1968 war kein schlechtes, da wir genug Dope hatten, Icke und ich. Ich war politisch naiv, und Icke war Maler und neigte deshalb von Berufs wegen zur Abstraktion. "Der normale Kunstsammler ist reaktionär", sagte er. "Also muß es die Kunst auch sein."

Das Dope war so billig, daß die Ereignisse wie in einer riesigen Halluzination über die Leinwand der Imagination huschten. Die Ereignisse fanden statt, schwappten mit den täglichen Nachrichten herein, vermischten sich mit den eigenen Wahrnehmungen und bildeten einen Brei, auf dem sich nur hier und da was abzeichnete, wie die unverdauten Reiskörner in einem schönen sämigen Scheißhaufen.

Der Einmarsch der Franzosen im Tschad, Rudi Dutschkes Schuhe auf dem Kurfürstendamm, die Entdeckung der Rückseite des Mondes, der Völkermord in Biafra, Tommie Smith und John Carlos, die mit schwarzen Handschuhen auf dem Siegerpodest in Mexiko-City stehen, die Fäuste zum kommunistischen Gruß geballt, und dem Star Spangled Banner den Hintern zeigen. Ach, Jimi, zersäg uns noch einmal den Star Spangled Banner.

Zu den eigenen Wahrnehmungen gehörten zum Beispiel die Geburt meiner Tochter Schredda, der tägliche Rabe auf der Schulter der Portiersfrau und die Ermordung des Penners, der immer aus dem Fenster im Parterre gleich neben unserer Haustür im Tegeler Weg hing.

Wenn ich nicht mit Icke kiffte, nicht bei Dr. Kuhfus die alten Akten abstaubte und auf Wiedervorlage legte, schrieb ich literarische Texte, die mir selbst unbegreiflich waren, und meine Ignoranz war so bedeutend, daß ich mich nicht mal für Alexander Dubcek interessierte.

Eines Tages sprach er im Radio: "Wer is'n das?" sagte ich besorgt. Icke griente: "He, Modder, das ist die goldene Stimme aus Prag!" Einen Moment lang dachte ich wirklich, Karel Gott sei der neue Außenminister der CSSR. Fortan machte ich mir Gedanken.

"Modder", sagte Icke, "ist doch egal, ob der Osten in ein, zwei Jahren kapitalistisch wird oder in zwanzig Jahren."

"Ist nicht egal", sagte ich, "in zwanzig Jahren ist Europa sozialistisch bis zum Ärmelkanal. Dann können die sich ihren Traum vom Neckermann-Katalog abschminken."

Wir fanden das komisch und kicherten.

"Und du kannst deine Rückgabe-Akten auf die Deponie kippen."

"Und du deine Bilder und Objekte."

Natürlich hatte ich recht, aber nur halb. So lange die Mauer stand, war mein Job sicher, und einmal die Woche fuhr ich mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, kaufte cubanische Zigarren, ging essen ins Ganymed, wo die Kellner im Frack rumrannten, oder ins Theater am Schiffbauer Damm, wo damals noch die alten Brecht-Inszenierungen liefen.

Als die Russen endlich in Prag einmarschierten, waren wir erleichtert. Unser Traum war der Status quo. Es war schön, vom Sozialismus zu schwärmen, aber als Realität war er eine unsichere Sache. Wenn wir Pech hatten, gab es nicht mal mehr Dope.

Wir saßen also in Ickes Atelier am Anhalter Bahnhof, kifften wie die Scheunendrescher, hörten Pink Floyd, Fresh Cream, The Nice, The Doors, The Mothers of Invention und warteten, da keiner wußte, wie sich die Dinge entwickeln würden. Erst 1969/1970 klärten sich die Dinge einigermaßen. Die einen kauften sich Waffen, die anderen gründeten Parteien. Ich spreche jetzt von denen, die nicht gleich zur SPD gingen oder einen Job suchten.

Jede Nacht schauten wir uns den gleichen Film an, stundenlang. Aus einem Eimer, der von der Decke hing, tropfte Wasser in eine Wanne, ein Scheinwerfer war auf die Wasserfläche gerichtet, und auf der gegenüberliegenden Wand spiegelte sich das endlose Gekräusel.

Manchmal machten wir auch richtige Filme, die aus kurzen Schleifen bestanden. Unser Superstar war Ickes Freundin Karin, die einen Minirock trug, während meine Tita O-Beine hatte. Die Kamera glitt langsam die Waden hoch, Karin öffnete die Lippen, aber immer wenn es schien, als könnte man ihr endlich unter den Rock gucken, kam der Schnitt und die Schleife begann von vorne.

Es war das Jahr der sexuellen Revolution, die nach herrschender Meinung der sozialen vorangehen mußte. Manche meinten aber auch, daß die Neurosen sich automatisch im bewaffneten Kampf auflösen würden. Wir sprachen darüber auch mit unseren Frauen, die noch unentschlossen waren. Vor allem meine Tita konnte der aus den USA stammenden Mode des Partnertauschs nichts abgwinnen, so daß ich es für fair hielt, nicht mit Karin ins Bett zu gehen.

Das war ein Fehler. Als Karin und ich vom Markt zurückkamen, vögelte Tita mit Icke oder umgekehrt, was irgendwie nicht in Ordnung war. Es war das Ende einer schönen Freundschaft, wie Rick sagen würde, aber natürlich ließ ich mir nichts anmerken. Das wäre nicht korrekt gewesen. Nur insgeheim sympathisierte ich fortan mehr mit den Anarchisten, bei denen die Frauen zwar die Gewehre laden durften, aber nicht schießen.

Das Jahr '68 war übrigens auch die Zeit, in der ich die damals noch inaktive RAF näher kennenlernte, denn eines Tages schaute Tita mal wieder rein, meine Ehefrau, die mit beiden Beinen fest in der APO schwebte, und brachte einen Typ mit, den sie Andi nannte. Sie kamen von einer Demonstration in Moabit, und die Polizei hatte sie ziemlich naß gemacht.

Andreas zog die schwarze Lederjacke aus, so daß die breiten Schultern und sein makelloser Astralleib sichtbar wurden, flezte sich in einen von Ickes zerfledderten Sesseln und sagte spöttisch: "Die Revolution geht baden, solange sie in aller Öffentlichkeit stattfindet."

Tita sah mich strafend an: "Don't bogart that joint my friend." Sie inhalierte hastig und reichte das gute Stück weiter.

Andreas beschnupperte den Rauchfaden und nickte zufrieden: "Wirklich schade, daß wir so parasitäre Gestalten wie euch zwei liquidieren müssen, sobald wir gesiegt haben."

Das leuchtete ein. Es leuchtete jedem ein, daß man nach dem Umsturz nicht mit den alten Charakterfratzen der imperialistischen Scheiße weitermachen konnte. Er nahm ein paar kräftige Züge und reichte den ansehnlichen Dreiblattjoint weiter an eine Landpomeranze, die sie nach der Demo aufgegabelt hatten. Sie war Mitte dreißig, hatte eine Baßgeige dabei und sah aus, als wäre sie Platzanweiserin bei den Berliner Philharmonikern.

Tatsächlich stellte sich im Laufe des Abends heraus, daß sie bei einem Radioorchester vorgespielt hatte, wo sie aber durchgerasselt war. Auf dem Rückweg zum Zoo war sie versehentlich an der Turmstraße ausgestiegen und in die Demo geraten. Der nächste Zug nach Westdeutschland ging am nächsten Morgen. Sie schüttelte den Kopf und gab den Joint ungenutzt weiter.

"Ich weiß nicht recht", sagte Icke. "Ich könnte nach der Revolution als Schildermaler anfangen. Schilder werden immer gebraucht."

"Du bist ein Weichei", sagte Andreas, erhob seine schlaksige Jungensgestalt und begann zu wandern. Man spürte, daß eine Idee in ihm schwoll. "Schaut euch diese Frau an", sagte er bedächtig wie ein guter Vater. "Sie stammt aus dem Volk, vielleicht aus einem niederträchtigen Kaff in der Gegend von Kassel, wo die Nazis noch heute die Macht haben. Aber sie hat instinktiv die richtigen Waffen gewählt, um eine Kämpferin zu werden."

Wir schauten uns ratlos an, Icke und ich, nur Tita hing bewundernd an seinen Lippen. Er nahm den Baßgeigenkasten und stützte sich darauf wie Herkules auf seine Säule.

"In diesen Kasten", sagte er didaktisch, "passen mindestens drei Kalaschnikows und zwei Dutzend Handgranaten. Stellt euch vor, wir wollen das Funkhaus besetzen. Wir verkleiden uns einfach als Sinfonieorchester, und kein Portier kann uns aufhalten."

Er nahm den Baß in beide Arme und legte mit ihm einen graziösen Two-step hin, aber daß er gut tanzen konnte, wußte ich schon. Wir hatten etliche Male in Ellis Bier-Bar am Görlitzer Bahnhof miteinander getanzt, wo schwule Proleten verkehrten, die politisch immun waren, und einmal hatte ich ihm auf dem Klo einen runtergeholt. Davon vielleicht ein anderes Mal.

Nein, nein, es war eine gute Zeit, und es dauerte noch gut drei Jahre, bis die Jugendlieben zerbrachen und alle Leute, die wir kannten, sich scheiden ließen. Icke ging zurück nach München, Modder übernahm die Praxis von Kuhfus und verlegte sie nach Köln, Andreas verschwand im Knast in Ziegenhain, später im Himmel, und was aus Tita wurde, weiß kein Mensch.

Interessiert auch keinen.

Nächste Woche: "Nichtsnutzige Erinnerungen I"