Absolut diskursfrei

Ost-Existenzialismus vom Prenzlauer Berg: A.O.C.

Bildergeschichten in Siebdruck, Erzähltext, handliches Format. Es sieht aus wie ein künstlerisch anspruchsvoller Comic, ist aber keins. Jedenfalls nicht ganz. Weil die Auflage sehr niedrig bei 200 numerierten Exemplaren liegt und das liebevoll handgemachte Heft Objekt-Charakter hat, könnte es sich eher um ein Kunst-Print handeln, das den Comic als Transport benutzt. Auf die Perspektive kommt es an.

A.O.C. - in Anlehnung an das französische Weinsiegel - ist ein neues Nachwende-Genre made in Prenzlauer Berg, Berlin. Und noch eine Besonderheit: Es ist diskursfrei bis zur erfrischenden Naivität. Nicht zufällig erscheint es im selbstgegründeten Millionen-Verlag, ein Name, der ironisch auf den Leistungsdruck der neuen Zeit anspielt.

Wo Vorgängermagazine (Ursus Press, Sklaven) vor und nach 1989 sprachliche Widerstandsoasen im Einheitsdeutsch der "Wiedervereinigung" errichteten, spiegelt A.O.C. die neuen Verhältnisse ironisch distanziert, ja sogar radikalindividualistisch, wenn man darunter das Alltagsleben mit seinen mikropolitischen Problemen versteht. Der als naiv denunzierte Drang, sich selbst auszudrücken, kann da ein störendes alltagspolitisches Ornament sein.

Kat Menschik und Jan Hülpüsch, die Gründer, erlernten an der Fachschule für Werbung und Gestaltung Berlin-Schöneweide die Praxis der Bildzeichen. Fragte man im Osten: "Was ist ein Bild?", hieß es an Kunsthochschulen im Westen: "Was ist ein Kunstwerk?" Das im Westen als sentimental verpönte "Handwerk" meinte den funktionellen Umgang mit der Visualität und keineswegs die technische Perfektion um ihrer selbst willen. Von diesen Materialitätskenntnissen profitieren Menschik und Hülpüsch heute. Ironischerweise nutzen sie modernste Computertechnik, um den Druckvorgang des traditionellen Siebdrucks vorzubereiten.

In bislang sieben Ausgaben - mit bleischweren Themen wie "Eis am Stiel", "Wie der Stahl gehärtet wurde", "Russisch Brot" und zuletzt "Hand aufs Herz" - kam eine Prenzlauer-Berg-Jetzt-erst-recht-na-und-Generation zu Bild und Wort.

In "Russisch Brot" erzählen Fickelscherer, Anke Feuchtenberger oder Detlef Beck absurd-abenteuerliche und wortspielerische Bildergeschichten ohne Sprechblasen. Ein melancholischer Ost-Existenzialismus durchweht die 42 Seiten dieser Ausgabe, ergänzt durch Geistesverwandte wie der Französin Anne Rigot, die Menschik und Hülpüsch in Paris kennenlernten, wo sie eine Zeitlang das kopierte Comic-Fanzine Spunk herausgaben. Außerdem liegt "Russisch Brot" eine Original-CD der Bolschewistischen Kurkapelle bei.

In "Hand aufs Herz", der soeben erschienenen letzten Ausgabe, geht es "künstlerischer" zu, leider. Der ambitiöse Versuch, den Comic durch die künstlerische Zeichnung zu überwinden, bleibt im Graphischen stecken. Vorbote der Neuen Sachlichkeit im Ost-West-Alltagskonflikt? Geht das soziale Diskontinuum der "Wiedervereinigung" zu Ende? Wo im von Westlern zersiedelten Prenzlauer Berg sich die Lebensaspekte immer mehr angleichen, verliert die Ästhetik des Andersseins an Boden. Soweit ist es bei A.O.C. zwar noch nicht, aber irgendwann droht die ästhetische Domestizierung, spätestens bei der nächsten Mieterhöhung.

A.O.C., als McJob von Kunststudenten gestartet, ist bei Sammlern mittlerweile sehr begehrt. Mit einem aufwendigen und trotzdem preiswerten Siebdruck-Kalender (30 Ex., 180 Mark) und einem Kinderbuch von Anne Rigot (28 Mark) wurde bereits die nächste Stufe genommen. Luxus für Arme.

"Hand aufs Herz", A.O.C., Nr. 7, DM 50, Millionen-Verlag, Kastanienallee 83, 10435 Berlin