Beschleunigte Körper

Patrice Chéreau nimmt den Zug und läßt die Darsteller vibrieren

Viele Künstler, die in ihrer Disziplin gut und erfolgreich sind, zieht es magisch und oft mit mäßigem Geschick in andere Bereiche. Sänger dilettieren als Regisseure (Brigitte Fassbaender), Regisseure als Schriftsteller (Hans Neuenfels), Schriftsteller als Maler (Patricia Highsmith), Maler als Bühnenbildner (David Hockney).

Zwischen Theater und Kino scheint der Übergang leichter zu sein, wenngleich es auch bei derlei Grenzüberschreitungen meist nur mittelmäßige Resultate gibt, ob es sich nun wie bei Luc Bondy um die Theater- zu-Film-Richtung oder wie bei Ingmar Bergman um die umgekehrte handelt. Der Reiz, die Prämissen des eigenen Metiers in einem anderen zu überwinden, ist verständlich, das Scheitern dabei für das Publikum mitunter dennoch spannend. Denn selten zeigt sich die spezielle handwerkliche wie konstruktive Problematik einer Kunstgattung so unverstellt wie bei den renommierten Neulingen.

Der Schauspiel- und Opernregisseur Patrice Chéreau ist ein wahres Wunderkind nicht nur der französischen Kulturszene: Bereits mit 22 Jahren leitete er sein erstes Theater, trat als Schauspieler auf, inszenierte den "Jahrhundert-Ring" bei den Bayreuther Festspielen 1976 und "Don Giovanni" 1994 bei den Salzburger Festspielen. Und pflegt seit Jahren eine leidenschaftliche Liebe zum Kino.

Die Resultate dieser Passion sind sehr unterschiedlich ausgefallen. Es begann mit dem ambitionierten Kriminalfilm "La Chair de l'orchidée" ("Das Fleisch der Orchidee", 1974). Bereits in seinem dritten Film, "L'Homme blessé" ("Der verführte Mann", 1983), einer hermetischen Schwulen-Bahnhofs-Geschichte, der Chéreau gekonnt die Atmosphäre der Werke Jean Genets verlieh, hatte er eindrucksvoll zu einer eigenständigen Filmsprache gefunden.

Mit "La Reine Margot" jedoch ("Die Bartholomäusnacht", 1994) schien Chéreau am Gipfel filmpolitischer Omnipotenz und am Tiefpunkt seiner Kreativität angelangt zu sein: Alles sah wie "Oper" aus, dauerte endlos, hatte nichts zu sagen und tat fürchterlich bedeutsam. Zu viel Geld - "La Reine Margot" war eine Antwort der Grande Nation auf Hollywood - muß die Kunst nicht unbedingt beflügeln.

Chéreau, der inzwischen kaum noch für das Theater arbeitet, kann sich aber den Luxus leisten, weiter große Filme zu drehen und seine Handschrift zu entwickeln. Und siehe da: "Ceux qui m'aiment prendront le train" ("Die mich lieben, nehmen den Zug", 1997) ist ganz anders geworden, kunstvoll, federleicht und trotzdem höchst eindringlich. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, daß es Chéreau diesmal gelungen ist, eine theatralische Situation paßgerecht für die Leinwand zu adaptieren und konsequent filmisch zu dramatisieren.

Etwa zwei Drittel sind im fahrenden Zug in Cinemascope und mit Handkamera aufgenommen: Eine technische und ästhetische Meisterleistung des grandiosen Kameramannes Eric Gautier. In "Ceux qui m'aiment prendront le train" trifft sich auf der Pariser Gare d'Austerlitz eine heterogene Gruppe, um zur Beerdigung des homosexuellen Malers Jean-Baptiste Emmerich in Limoges zu fahren. Verbunden sind die pittoresken bis exzentrischen Trauergäste nur durch die mehr oder weniger intime Freundschaft zu dem Künstler, dessen letzten Wunsch sie mit dieser Reise erfüllen. Ansonsten haben sie wenig miteinander zu tun, und wenn, so ist es eher Ab- als Zuneigung. Ihre Geschichten und Gemeinsamkeiten sind auf den ersten Blick unübersichtlich verschachtelt, auf den zweiten raffiniert verknüpft.

Zuerst wirken Figuren und Handlung wie eine spekulativ zusammengebraute Freakshow unter Verwendung aller möglichen Tragödien. Jean- Marie (Charles Berling) ist drogensüchtig, seine Frau Claire (die hervorragende Valéria Bruni-Tedeschi) mittlerweile clean. Bruno (Sylvain Jacques) ist schmollippig und HIV-positiv. Thierry (Roschdy Zem), der grobschlächtige Dealer, der das Auto mit dem Sarg chauffiert, setzt es, nervlich überfordert, prompt in einen Graben. Am offenen Grab erscheint schließlich noch Viviane (Vincent Perez), die bis zur Geschlechtsumwandlung ein Mann war und für Verwirrung in der Gemeinde sorgt. Sie singt das hohe Lied auf das bürgerliche Leben und möchte am liebsten Bäckerin sein.

Chéreau erzählt lakonisch und mit tiefer Sympathie zu diesen gebrochenen Figuren, die irgendwie sehr komisch und irgendwie sehr liebenswürdig sind.

Das Gedränge vor der Abfahrt ist beklemmend, die Hektik atemberaubend. Hypernervös bewegt sich die Kamera durch das neumoderne Bahnhofsambiente und die Waggons. Chéreau hat ein vielköpfiges Ensemble in einem geschlossenen Ort wie auf einer Bühne zusammengeführt, nur daß diese ein Zug ist, wodurch die statische Theatersituation in filmische Beschleunigung gerät. Erst kurz vor der Endstation wird das Erzähltempo gedrosselt. Nach der furiosen Anreise bekommen die Personen bei der Beerdigung und der anschließenden Familienfeier wieder festen Boden unter den Füßen.

"Ceux qui m'aiment" hätte ein Groschenroman werden können, und es wird einer, wenn man den Film nachbuchstabiert. Chéreau aber konzentriert sich auf die textuellen Leerstellen, inszeniert ein dichtes Netz aus Verflechtungen und Abhängigkeiten, dessen Aussparungen das Geschehen bestimmen. So entstehen fragmentarische Konstellationen, deren Anfang wie Ende nicht weiter benannt werden: Fragile Korrespondenzen, die allerhand Vorgeschichten durchscheinen lassen. Fast die komplette Handlung wird in hart geschnittenen Momentaufnahmen erzählt.

Der fahrende Zug, in dem stets alles einem leichten Vibrato ausgesetzt ist, bietet der aufgescheuchten Trauergesellschaft eine stimmige Kulisse. Chéreaus beschleunigte Körper behaupten im Niemandsland zwischen Abfahrt und Ankunft eine virulente Sinnlichkeit, die im steril-normierten Eisenbahn-Ambiente so deplaciert wie anarchistisch wirkt. Diese sinnliche Qualität drängt die Bedeutung der narrativen Elemente auf hilfreiche Fußnoten zurück.

Über den verstorbenen Maler erfährt man wenig. Und um dieses Wenige läßt Chéreau die gemischte Gruppe kreisen: Der Planet bleibt im Dunkeln, damit die Trabanten leuchten und so indirekt seine Wirkung reflektieren. Während der Übernachtung im Haus der Familie, nachdem alles, was mit Beerdigung und Totenfeier zu tun hatte, vorbei ist, brechen die letzten Konflike aus.

Der Film verdichtet sie in veränderten Perspektiven: Statt der pointierten Minimalstatements und der Gesprächsfetzen treten nun Zweierkonstellationen, Dialoge, Affronts ˆ deux, spontane Umarmungen in den Vordergrund. Kraftvolle Schnitt-Gegenschnitt-Sequenzen konfrontieren die Gesichter wie ein später Gruß ans klassische Schauspielerkino, heben zugleich sanft die fahrige Auflösung der Konturen von Menschen und Dingen zu Filmbeginn auf. Von den fünfzehn Personen ist nur eine Handvoll übrig geblieben, die sich neu arrangiert. Fran ç ois (Pascal Greggory), einst die große Liebe des toten Malers, wird von seinem Lebensgefährten Louis (Bruno Todeschini) verlassen, der mit dem jungen Bruno zusammenbleiben will und keine Angst vor dessen Infektion hat.

Das Drogen-Ehepaar beschließt eine Trennung in Versöhnung und schiebt auf die guten alten Zeiten noch schnell eine Nummer. Lucien (Jean-Louis Trintignant), Besitzer einer Schuhfabrik in Limoges und verachteter Bruder des Verstorbenen, führt Superwoman Viviane durch sein Schuhlager, was in beiden die Stöckel-Manie aufs Schönste ausbrechen läßt. Zwischen Lucien und seinem Sohn Jean-Marie, die seit Jahren nichts miteinander zu tun hatten, ist auch jetzt jede Annäherung unmöglich.

In einem fulminanten Schluß fliegt die Kamera, zum Adagio aus Mahlers X. Symphonie, in elegantem Tempo durch die Hauptallee der steinernen Friedhofslandschaft hinaus über die Mauer und hinein in die Baumspitzen.

Chéreau bündelt die disparaten Erzählstränge aus zwei Stunden, die zersplitterten Biographien samt ihren Hoffnungen und Katastrophen, in einem schwerelosen, utopischen Befreiungsschlag, getragen vom spätromantisch- pathetischen Klangteppich. Der Rest bleibt weit unten zurück.

"Ceux qui m'aiment prendront le train" ("Wer mich liebt, nimmt den Zug"). Frankreich 1997, R: Patrice Chéreau. Start: 27. August