Feuerland ist abgebrannt

Die russische "Wodka-Krise" hat in Lateinamerika dramatische Kursstürze ausgelöst

Dramatische Kursverluste von 14,8 Prozent an der Börse in S‹o Paulo haben das Gespenst der Abwertung der Landeswährung Real wieder erscheinen lassen. Brasilien, die größte Nation Lateinamerikas und zehntstärkste Wirtschaftsmacht der Welt, droht in die Knie zu gehen. Eine Entwicklung, die über die Zukunft der gesamten lateinamerikanischen Wirtschaft entscheiden könnte.

Der Spekulationsdruck auf die heimische Währung ließ in den letzten Wochen trotz Erhöhung des Zinssatzes von 19 auf 29,75 Prozent nicht nach. Die Zentralbank reagierte daraufhin am vergangenen Donnerstag mit einer erneuten, fast schon verzweifelten Erhöhung der Zinsen auf 49,75 Prozent.

Damit sollte dem immensen Kapitalabfluß ein Riegel vorgeschoben werden, nachdem Schätzungen zufolge die Zentralbank innerhalb von zwei Tagen 2,2 Milliarden US-Dollar durch Stützungskäufe verloren hatte. Rund 22 Milliarden Dollar hatte sie bis dato schon verschleudert, die restlichen Reserven in Höhe von 52 Milliarden will die Bank nun nicht mehr für eine aussichtslose Verteidigung des Real riskieren.

Folglich rief Präsident Fernando Henrique Cardoso am Abend des "schwarzen Donnerstag" dazu auf, der "ungebremsten Spekulation" Einhalt zu gebieten. Brasilien sei an der "äußersten Grenze" dessen, was für das Land tragbar sei, angelangt. Nun sollen die G-7 Industriestaaten eingreifen. Doch zumindest dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sind die Hände gebunden; er verfügt gerade mal noch über etwa zehn Milliarden US-Dollar. Und an Finanzhilfen wie in Asien ist derzeit nicht zu denken, da der US-Kongreß eine Aufstockung der Mittel für den IWF strikt ablehnt.

Die Kongreßabgeordneten werden ihre Haltung jedoch kaum aufrechterhalten können, da knapp 20 Prozent der US-Exporte in die Region gehen. IWF-Direktor Claudio Loser vermied es allerdings, den schwarzen Peter den USA zuzuschieben: "Ich bin überzeugt, daß die Politik, die die Länder (Lateinamerikas) verfolgen, richtig ist, daß die Fundamentaldaten stimmen und daß die Angriffe, die wir erleben, angesichts dessen, was die Länder tun, nicht gerechtfertigt sind", erklärte er.

Mit derartigen Statements ist den Ländern allerdings nicht geholfen, denn die lokalen Börsen haben mit Verlusten von über 50 Prozent innerhalb weniger Wochen zu kämpfen. In Chile liegt der Index um mehr als 45 Prozent unter dem Vorjahresniveau, in Brasilien sank er im gleichen Zeitraum um die Hälfte.

Noch Anfang September waren sich die Spezialisten der Weltbank sicher, daß ein Dominoeffekt wie in Asien im vergangenen Oktober für Lateinamerika nicht zu befürchten sei, so Guillermo Perry, Chefökonom der Südamerika-Abteilung der Weltbank. Doch genau dieser Effekt zeichnet sich mittlerweile ab. Standard & Poor's und Duff & Phelps Credit Rating Company zogen vergangene Woche Moody's nach und stuften die brasilianischen Staatsanleihen herunter. Brasilien steht nun als Risikoschuldner auf einer Stufe mit Paraguay und Venezuela.

Der Startschuß für die kontinentweite Baisse bildete das Gerücht, daß die venezolanische Regierung den Bolivar um 15 bis 20 Prozent abwerten würde. Wilde Spekulationen und der Run auf vermeintlich sichere Papiere waren die Folge. Dabei galt das Bankensystem spätestens seit der mexikanischen "Tequila-Krise" von 1995 als weitgehend konsolidiert - mit faulen Krediten, geschönten Bilanzen und schmalen Devisenreserven hätten die beiden Sorgenkinder des Kontinents, Venezuela und Brasilien, nicht zu kämpfen, gab sich Weltbankexperte Perry vor kurzem noch zuversichtlich.

Doch allein die Hoffnung der Weltbank hat den Kapitalabzug aus Lateinamerika nicht stoppen können. Denn seitdem die asiatischen Volkswirtschaften ihre Währungen abgewertet und damit ihre Exporte verbilligt haben, wuchs der Druck auf die Exporteure zwischen Feuerland und dem Rio Grande. Insbesondere die brasilianische Wirtschaft hat darunter zu leiden, zumal der Real seit Jahren als überbewertet gilt. Demzufolge hat sich der traditionelle Exportüberschuß in ein Handelsbilanzdefizit verwandelt - mit negativen Auswirkungen für den Arbeitsmarkt und den Staatshaushalt.

Dies bekommen auch die Nachbarn im gemeinsamen Markt Südamerikas, dem Mercosur, zu spüren. In Brasilien lassen sich wesentlich weniger Waren absetzen als noch vor einem Jahr, worüber besonders Argentinien, aber auch Paraguay und Uruguay, stöhnen. Die Börse in Buenos Aires verlor am vergangenen Donnerstag satte zwölf Prozent.

Ein weiteres Problem der lateinamerikanischen Länder ist der Verfall der Rohstoffpreise. Der Index der Investmentbank J. P. Morgan weist für Rohstoffe einen Preisrückgang von mehr als einem Fünftel im Vergleich zum Vorjahr auf, was sich in den Kassen der Regierungen bemerkbar macht - 70 Prozent der Staatseinnahmen Venezuelas stammen aus dem Erdölgeschäft, aber auch Mexiko, Kolumbien oder Ecuador haben damit zu kämpfen. In Chile reißt der Fall der Kupferpreise Löcher in den Staatshaushalt. Argentinien exportiert vor allem Nahrungsmittel, wie Getreide und Rindfleisch, deren Absatz ebenfalls rückläufig ist.

Keine rosigen Aussichten also für den Kontinent. Unter Abwertung haben vor allem die unteren Schichten zu leiden, die immer weniger Güter für ihren kargen Lohn erwerben können. Große Hoffnung auf Hilfe von außen können sie sich jedoch nicht machen: Erfahrungsgemäß werden IWF und Weltbank auf harte Sparmaßnahmen drängen. Und Geld für Sozialprogramme haben die Organisationen ohnehin nicht zu vergeben.