Die tolle Zeit

Die unvollständigen Erinnerungen an 1968.

"Studentenbewegung - ist das nicht die Folge der großen Koalition '68 gewesen, oder Ö?" meinte zweifelnd ein Bekannter. Heißt das, daß Menschen den Aufruhr nach dreißig Jahren aus den Augen verloren haben, weil er nichts bewirkt hat? Daß man ihn dem Vergessen überantworten sollte, weil er von den Ereignissen danach überwuchert ist? Oder daß man ausdrücklich an die Revolte erinnern sollte?

"'68 und die Folgen" ist, teilt der Argon-Verlag mit, "ein Buch für Nostalgiker und Nachgeborene - für alle, die mehr wissen wollen über die Revolte und ihre Nachwirkungen in der Bundesrepublik." Die Neuerscheinungen über 1968 - wer kauft sie heute? Ein Buchhändler in Berlin-Schöneberg sagte mir: "Ein Pädagogikprofessor, Jahrgang '49, hat in diesem Jahr ein Buch über '68 bei mir gekauft - sonst nichts. Aber alles, was Politik ist, findet keine Nachfrage. Am leichtesten kann ich noch ein Buch über einen toten Politiker verkaufen, Bismarck z.B. Aber bitte glauben Sie nicht, daß mein Laden irgendwie repräsentativ ist!" Er hat sich getäuscht. Eine Umfrage bei 14 anderen Buchhandlungen in Berlin ergab: Es werden wenig Bücher über '68 gekauft und fast nur von Zeitgenossen der Studentenbewegung.

Zurück zu dem Buch vom Argon-Verlag. Es gibt darin kritisch reflektierte Beiträge, erzählende und das Geplapper der Zaungäste von '68. "Ein unvollständiges Lexikon" heißt es im Untertitel. Das hört sich an wie eine Bitte um Vergebung und hat zur Folge, daß die meisten Beiträge nur drei Druckseiten umfassen. Sie sind leicht zu lesen, nur manchmal wünscht man sich noch etwas mehr von der Autorin, dem Autor. Bebildert wurde das Werk mit Fotos, die man schon hundertmal gesehen hat, Bilder, geeignet als Titelbilder von konkret in den Sechzigern.

Ich lese in dem Buch z.B. ein literarisches Feuilleton von Burkhard Spinnen, Jahrgang 1956, der im Museum seiner Stadt in einer Vitrine ein Foto seines letzten Deutschlehrers entdeckt, auf einer Demonstration, der Lehrer als '68er - der er freilich erst im nachhinein wurde, denn zu solchen Jahrgangsexemplaren wurden Menschen erst Jahrzehnte später.

Oder Wolfgang Kraushaar, der beschreibt, wie aus dem langen Marsch der Roten Armee, dem Triumph des Überlebenswillens Tausender bewaffneter Chinesen, eine Phrase des Oberstudienrats in Göppingen oder Emden wurde: "Der lange Marsch durch die Institutionen". Übrigens sprach Dutschke nie von einem "Marsch in die Institutionen".

Christian Semler schreibt über maoistische Sekten und ihr Nachleben. Niemand habe daran gedacht, "die Geschichte dieses Großversuchs aufzuschreiben". Gottseidank, sage ich. Es besteht auch kein Anlaß dazu. Es gibt keine politischen Folgen der ML-Sekten. Es gibt nur psychische Folgen, Deformationen bei den Menschen, die diesen Sekten angehörten.

Gerburg Treusch-Dieter geht in ihrem Beitrag auf den berühmten Tomatenwurf auf die SDS-Leader ein - die Tomate traf Hans-Jürgen Krahl - und beschreibt Irrungen und Wirrungen der Frauenbewegung, die mit der weiblich selbstbewußten Definierung der Frau begann und schließlich unversehens auf die Debatte über die Klonierung des Menschen stieß: "Die geschlechtslose Vermehrung ersetzt die sexuelle Fortpflanzung." Als die Frauen 1971 für das Recht auf Abtreibung ("Mein Bauch gehört mir") gingen, wurde in England der erste Embryotransfer durchgeführt.

Natürlich gibt es auch manches Überflüssige in diesem Buch, z.B. Peter Köhler, Jahrgang 1957, der auf vier Seiten die Worte der Apo nachplappert, die er irgendwo nachgelesen hat, oder Rolf Schneider, Jahrgang 1932, über "Marxismus", ein Schriftsteller aus der ehemaligen DDR, der keine Ahnung hat von den Entdeckungen, die westdeutsche Studenten im Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte oder in den Archiven der eigenen Universität machten. Daß es "kaum eine marxistische oder radikallinke Doktrin gab, die von den Studenten nicht ausgebeutet wurde", kann nur jemand behaupten, der im eindimensionalen Denken des Staatsmarxismus zu Hause war.

Als erstes trifft der Leser auf den Beitrag von Peter von Becker: "Mythos, Heldenlied, Verwünschungsarie". In Deutschland, heißt es, waren politische Erfolge gleich null (anders als in den USA) - aber: "Es war eine tolle Zeit. Toll in der schillerndsten, in des Wortes vielfältiger Bedeutung: also närrisch und verblendet, fabelhaft und verrückt, verspielt und fanatisch, (...) zugleich erfahrungssüchtig und praxisfern, weltoffen und verbohrt. (...) Nie gab es so viel intellektuelle Schärfe, so viel sprühende Intelligenz, gepaart mit ideologischer Blindheit."

Dieses Buch ist "unvollständig", wie die Herausgeber Christiane Landgrebe und Jörg Plath prophylaktisch mitteilen. Trotzdem will ich auf den Mangel aufmerksam machen, durch Hinweis auf ein anderes Buch: Reflexionen über Linke und Antisemitismus sind eigentlich nichts Neues, aber Esther Dischereit schreibt in ihrem Aufsatz in dem Buch "Übungen jüdisch zu sein" auch über jenes spezifische Manko: Juden, Jüdischsein gab es als Thema oder als Realität unter den '68ern so wenig wie unter deren Eltern nach dem Krieg.

Ich erlebe das heute wieder bei den PDS-nahen Berlinern: Sie weisen den Vorwurf des Antisemitismus weit von sich. "Antizionismus, ja." Und wie heute bei deutschen Reformkommunisten kamen Juden '68 nicht vor, weil sie nicht gekämpft, sondern nur gelitten hatten. Die Forschung über den Nationalsozialismus, auch den jüdischen Widerstand, setzte erst nach '68 ein. Das "Dritte Reich" kam in der Revolte vor, weil der Vater mit seinem hakenkreuzgeschmücktem Orden in der Zigarrenkiste im Wäscheschrank unter Verdacht stand, weil Studenten eine braungefärbte wissenschaftliche Arbeit ihres Professors entdeckten, weil ein Richter oder ein Polizeioffizier eine Funktion in den verbrecherischen Zeiten hatten. So wenig wie das Wort "Holocaust" gab es '68 ein historisches Bewußtsein über den Massenmord an jüdischen Männern, Frauen, Kinder und Greisen.

"Genocicium" war der klinische Begriff, und der 9. Oktober war bei den revoltierenden Studenten der Tag, an dem der Kaiser zurückgetreten ist. Daran hat auch der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt oder der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer nichts geändert. Wir waren hinreichend damit beschäftigt, den Schock zu verarbeiten, daß es "in Deutschland nicht nur den Nazi Hitler und nicht nur den Nazi Himmler gab". "Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben." (Fritz Bauer, 1963) Bauer aber war ein einsamer Rufer in der Wüste, der sich bei den Juristen ebenso wenig Gehör verschaffen konnte wie in der Gesellschaft.

Christiane Landgrebe / Jörg Plath (Hg.): '68 und die Folgen - Ein unvollständiges Lexikon. Argon, Berlin 1998, 144 S. DM 34

Esther Dischereit: Übungen jüdisch zu sein. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998, 214 S., DM 18,80