»Do We Truly Need a True Sex?«

Thomas Meineckes Roman "Tomboy" ist Trivial Pursuit für Gender-Fans.

Wer mag das eigentlich noch hören, diese halbgar-halbneue Geschwätzigkeit in Sachen Gender Studies, Gender Trouble, anatomisches und soziales Geschlecht, Körper, Identität, Subjekt, kulturelle Konstruktion und geschlechtliche Relation der relativen Geschlechter? Gender, fuck the hell.

Aber was in der Theorie ein zart angestaubtes Orchideendasein zu führen begonnen hat, muß für die literarische Rohstoffverwertung noch längst nicht verloren sein. Mit "Tomboy" hat Thomas Meinecke den Diskurs über die Geschlechterverhältnisse trendy aufbereitet. Meinecke, geboren 1955, ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch DJ und Musiker bei FSK.

Er hat sich so tief in die spröde Materie eingearbeitet, daß er sie nun geschickt zum Schwingen bringen kann, fachgerecht, kompakt und korrekt im Jargon. "Tomboy" ist eine endlos lange, souverän in sich variierende Minimal Music. Man muß das Buch nicht am Anfang beginnen, man kann vor- und zurückspringen und hat dabei keinen Verlust. Es passiert wenig, erzählt wird kaum, gequatscht wird unaufhörlich. Geschickt hat sich Meinecke eine Strategie des Fragezeichens zugelegt, mit der er die unvermeidlichen theoretischen Abgründe überwinden kann: "Wie hatte es kommen können, daß das Männliche, als lauthals tönendes, identitätsstiftendes Prinzip, dem Weiblichen lediglich die stille Nebenrolle als dessen diffuses Anderes eingeräumt hatte? Beziehungsweise: Lag in der damit identitätszersetzenden Funktion des Femininen nicht gerade dessen Qualität?"

Diese und weitere Probleme beschäftigen auch die weibliche Hauptfigur Vivian Atkinson, genannt Tomboy. Nach einigen Versuchen hat "die Studentin mit der strähnigen Übergangsfrisur" ihren Professor überredet, "den zentralen Gedankengang ihrer Magisterarbeit ausschließlich interrogativ formulieren zu dürfen". Wegen des männlichen Vornamens mit dem Zusatz Boy beginnt der große Fragen-Kanon: Warum gilt der Ausdruck Tomboy ausschließlich für Mädchen? Was ist ein Hemdblusenkleid? "War Vivians Vulva ein materiell-semiotischer Erzeugungsknoten? Fraukes Busen nichts als das zwingende Resultat einer ausschließlich diskursiven Konstruktion? Was sollte an Homosexualität perverser sein als an Heterosexualität mit Verhütungsmitteln? Gilt denn der Dildo als Dekonstruktion oder Rekonstruktion des männlichen Kostüms, und was steckt da nun eigentlich in mir drin: ein Penis oder der Phallus?"

Die Figuren sind Sprechblasen: Die Lesbe Frauke Stöver, Angelo/Angela, der/die "ganz einfach Frau" sein möchte, die bisexuelle Korinna Kohn, die sich wissenschaftlich der "Kolonialisierung von Leibesinseln" widmet, der feministische Arzthelfer und "Sissy Boy" Hans, ferner der "strumpfsockige" BASF-Mitarbeiter Bodo Petersen und die radikale Anti-BASF-Aktivistin Pat Meier.

Gemeinsam bilden sie in und um Heidelberg und seine berühmte Universität lockere "bohemistische Kreise" und frönen dabei ihrer eigenen fröhlichen Wissenschaft. Die Themen stammen von Judith Butler & Co., das versteht sich. Angereichert mit allem, was irgendwie mit Gender, Travestie und zahlreichen Variationen des rollenspezifischen "Schönen Scheins" zu tun haben könnte, wie z. B. Silvia Bovenschen, Otto Weininger, Luce Irigaray, Lacan und der ganzen Psychoanalyse-Tafelrunde, Hildegard von Bingen, Valerie Solanas, Madonna, Leni Riefenstahl, Richard Wagner, Sartre ("Kindheit eines Chefs"), Kant, Hegel, Marx, k.d. lang und stapelweise "lärmenden Mädchenpunkrockplatten von der nordamerikanischen Pazifikküste".

So viel Realitätsgehalt muß ein Roman erstmal aushalten, und Meinecke kennt wirklich kein Pardon. Nazi-Deutschland und Pinochet-Chile, BASF und RAF, Dianas Unfalltod und der Studentenstreik anno 1997 - unaufhörlich raspelt es, unvermittelt ineinander greifend, von der raffinierten, musikalisch gesampelten, permanent Bedeutung und deren ironische Dekonstruktion mixenden Textspur. Alles ist da, und was man nicht geschmeichelt wiedererkennt, kann man ja dazulernen.

Meineckes Kunstfiguren artikulieren sich in einer extrem künstlichen, barock ausufernden Sprache, die vor allem eines betont: Wie sehr diese sich auch um Wesen und Wirkung von Körper und Sex bemühen, sind sie doch zuallererst pure Theorie.

Die Leistung des Autors besteht darin, daß die Theorie nicht trocken raschelt, und wenn, dann mit Absicht. Getragen von einer ironisch-groovigen Baßlinie, kommt "Tomboy" wunderlich leicht daher. "Tomboy" ist als Trivial Pursuit für Gender-Fans von beachtlichem Gebrauchswert. (Wer schrieb 1980: "Do We Truly Need a True Sex?" - Richtig, Foucault im Vorwort zu den Memoiren des 1868 verstorbenen Hermaphroditen Herculine Barbin.)

Thomas Meinecke: Tomboy.Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998, 251 S., DM 36