Das Off im On

Die Décollage des Kapitalistischen Realismus

Der Künstler als politisches Neutrum, oder: Wie ein sozialer Lebensstil gegen das zum ästhetischen Ornamentdegenerierte Politische eingetauscht wurde.

Berliner Kunstherbstâ 1998: Berlin Biennale, Kunstmesse Art Forum, "Sensations" im Hamburger Bahnhof und Galerien-Rundgänge. Berlin, die undefinierte Stadt, entwickelte sich nach Mauerfall und im Schatten des Baubooms zur Kunstmetropole. Verliererin des nicht für möglich gehaltenen Aufstiegs der Kunst zum kulturellen Leitmedium: die Off-Kultur. Gewinner: ein neuer Phänotyp des Künstlers, der die sozialen und politischen Folgen der Wiedervereinigung restlos partikularisiert hat.

In Berlin-Mitte, dem East Village Europas, haben sich zwischen all den Galerien, Boutiquen und Clubs die bohemistischen Lebensstile überlagert und einen neuen Großstadt-Typen hervorgebracht, den Limer (less income more experience), der minimal verdient und maximal sein Projekt auslebt. Die Zeit der Party-Hänger aus dem Milieu der Spaßguerilla und der Depri-Kreativen aus der Hausbesetzer-Szene ist vorbei. Um die politische Mechanik zu veranschaulichen, die künstlerische Aktivitäten in den sechziger und siebziger Jahre entfalteten und wie sie in den neunziger Jahren in die Berlin-ist-eine-Hauptstadt-Ideologie eingebaut worden sind, hier zwei Beispiele.

Burn, ware-house, burn!

1967 lancierte die Kommune 1 ein Flugblatt ("Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?"), das einen Großbrand in einem Brüsseler Kaufhaus mit dem Vietnam-Krieg und der Situation in Berlin verband: "Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam zu beteiligen: Sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi." Das Flugblatt fordert indirekt zur Brandstiftung auf ("In der Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Bilka oder Neckermann diskret eine Zigarette in der Umkleidekabine anzünden") und endet mit dem Aufruf: "burn, ware-house, burn!" Für dieses Flugblatt werden Rainer Langhans und Fritz Teufel vor Gericht gestellt. Der Staatsanwalt beantragt zwölf Monate Haft.

Statt sich aber zu rechtfertigen oder zu verteidigen, nehmen die Angeklagten die Verhandlung als surrealistisches Theaterstück und agieren bei der Befragung entsprechend. Richter: "Was sind die Ziele der Kommune? Ich möchte wissen, wie es bei Ihnen aussieht." - Teufel: "Besuchen Sie uns doch mal. So ist es schwer zu erklären." Usw. Zum Schluß der Verhandlung sollen die Angeklagten psychiatrisch untersucht werden, wogegen Verteidiger Horst Mahler protestiert. Unterdessen stellt sein Assistent einen großen schwarzen Koffer auf den Verteidigertisch. Richter: "Wem gehört der Koffer?" - Mahler: "Meiner." - Richter: "Was ist da drin, in dem Koffer, meine ich?" - Mahler: "Keine Bomben." - Richter: "Was dann?" - Mahler: "Surrealistische Literatur." Unter allgemeinem Gelächter und Beifall läßt der Richter den Saal räumen. Langhans und Teufel werden freigesprochen.

Remake des Situationismus: Spaßguerilla

Den ästhetischen Hintergrund dieser Gegen-Inszenierung im Gerichtssaal bildet nicht die Vorstellung vom Leben als Kunstwerk, wie sie die historischen Avantgarden prägten, sondern in Anlehnung an die Situationisten die Als-ob-Mechanik der Verfremdung von Situationen. Langhans und Teufel drehen die Rollen nicht einfach um, sie agieren so, als ob sie auch Richter wären. Sie halten sich streng an ein Diskussionsmuster von gleich zu gleich, was ihre vorgeschriebene Rolle als Angeklagte in Schieflage bringt. Als Folge büßt der Richter an Autorität ein, die gesamte Situation erscheint absurd und lächerlich.

Gemessen allerdings am ästhetischen Rigorismus der Situationisten, ist die Spaßguerilla ein flaches Remake. "Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß", so beginnt der "Rapport über die Konstruktion von Situationen" von Guy Debord (1957). Vor die Wahl zwischen den Existenz-Verfälschungen des Kapitalismus und den kleinbürgerlichen Lebensformen des Stalinismus gestellt, schlagen die Situationisten einen dritten Weg vor, den "unitären Urbanismus", ein theoretisches Konzept zur Herstellung eines neuen, dynamischen Lebensmilieus.

In insgesamt zwölf Ausgaben ihrer Zeitschrift Situationistische Internationale (S.I.) analysieren sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, kritisieren den Okkultismus der Surrealisten und begrüßen den wilden Generalstreik vom Mai '68 in Frankreich.

Die praxisnah und erstaunlich klar formulierten Ideen der Situationisten haben zwar die "künstlerischen" Aktivitäten der deutschen Linken in den siebziger Jahren beeinflußt (Spaßguerilla), aber nicht zu einer grundlegenden ästhetischen Neuorientierung beitragen können, weder auf dem Höhepunkt der Hausbesetzerbewegung noch nach dem Burnout des Staatssozialismus. Ein Grund für die schwache Rezeption liegt im starren Gruppenkodex der Situationisten selbst begründet. Die Situationistische Internationale verzeichnete 70 Mitglieder, 45 Ausschlüsse (u.a. Armando, Dieter Kunzelmann und Hans Platschek), 19 Austritte (u.a. Asger Jorn) und zwei Abspaltungen. Die persönlichen Zwistigkeiten blockierten die angestrebte Agitation der Öffentlichkeit.

Die in der Praxis kaum erprobten Ideen der Situationisten unterscheiden sich vom verkürzenden Konzept der "Gegenöffentlichkeit" aus den siebziger Jahren (ein von Oskar Negt und Alexander Kluge entwickeltes Modell linker Medienpraxis, das sich ausschließlich auf die alten Medien der One-to-Many-Kommunikation bezieht und das Anfang der Neunziger durch die kunstaktivistische Fraktion ein Revival erlebte), eher beflügelten sie die Spaßguerilla und deren Methode der "Entfremdung von Situationen" Anfang der achtziger Jahre. Eigentlich ein produktives Mißverständnis, denn die Situationisten hatten ein weitreichendes, in drei Phasen gegliedertes Auflösungsverfahren der herkömmlichen Kulturformen entwickelt, um die "revolutionäre Liquidierung des Kapitalismus" voranzutreiben.

Marx-Brothers Karl und Erich

Zweites Beispiel. Als Joseph Beuys 1982 die Ausstellung "Beuys, Rauschenberg, Twombly, Warhol" mit Werken aus der Sammlung des Berliner Bauunternehmers und Rehakliniken-Betreibers Erich Marx in der Berliner Nationalgalerie eröffnete, tobte in Berlins Stadtteilen Kreuzberg und Schöneberg der Hausbesetzerkampf. Es herrschte akuter Wohnungsmangel, da die Immobilienspekulanten die Häuser lieber leer und herunterkommen ließen, als sie auf Dauer zu vermieten, zumal die Mieten gesetzlich niedrig gehalten wurden. Diese Mietpreisbindung war soziales Regulativ und politisches Instrument zugleich; das insulare Berlin sollte für Zuzügler attraktiv gehalten werden. Eine Sanierung mit staatlichen Zuschüssen brachte den Spekulanten bei Weiterverkauf instandgesetzter Häuser höhere Gewinne ein. Wohnungssuchende besetzten kurzerhand leerstehende Häuser, setzten sie instand und verhandelten mit den Eigentümern um Verträge. Die sogenannte Berliner Linie, von der regierenden SPD getragen, bevorzugte zunächst die Besetzer; aber nach und nach setzten die Eigentümer ihre Interessen durch und die Häuser wurden polizeilich zwangsgeräumt.

Die Marx-Brothers Karl und Erich standen sich also unversöhnlich gegenüber. Wo aber war der Platz des Künstlers, auf seiten der Kommunarden oder des Kapitals?

Indem Beuys einerseits die Hauspatenschaft des besetzten Hauses Bülowstraße 52 übernahm und sich sogar mit den Besetzern der zum Marx-Besitz gehörenden sogenannten Villa Schilla solidarisierte, andererseits aber am Abend desselben Tages auf der Vernissage die Huldigungen seines Sammlers vor geladenem Publikum entgegennahm, vollbrachte er eine diplomatische Meisterleistung. Equilibristen unter sich. Der Freundeskreis der Nationalgalerie, eine vielgliedrige machtpolitische Verflechtung von Personen, Parteien und Ämtern, und Beuys, der für die Grünen kandidierte, für eine dezentrale Politikauffassung und eine soziale Kunstauffassung geworben hatte, zusammen tafelnd.

Die Grünen hatten wohl recht, als sie trotz seines im Fernsehen vorgetragenen Pop-Songs ("Lieber Sonne statt Reagan") darauf verzichteten, Beuys auf die Kandidatenliste für den Bundestag zu setzen. Nachzutragen bleibt auch, daß die Hausbesetzer der Bülowstraße 52 die Beuyssche Solidarisierungsgeste, die darin bestand, eine von Beuys signierte Plakette am Haus anzubringen und es somit unter seinen Schutz zu stellen, zurückwiesen.

Sammler Erich Marx bekam 1996 mit dem Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart Berlin - ein Mausoleum auf Staatskosten (Baukosten 100 Millionen Mark). Zu seinen Spitzenwerken zählen Beuys, Warhol, Rauschenberg, Kiefer, Twombly und Baselitz. Ex-Finanzsenator Elmar Pieroth gestattete Marx die Vorauszahlung der Erbschaftssteuer in Form von Kunstwerken. Das Environment "Unschlitt" von Beuys wurde auf sieben Millionen Mark Nominalwert festgesetzt und gehört jetzt dem Land Berlin. Bis dahin war es im Museum Abteiberg Mönchengladbach, wohin Marx die Arbeit zeitweilig verliehen hatte, mit nur 3,5 Millionen Mark versichert. Die Differenz ist der Mehrwert des Berliner Baubooms.

Hausbesitzer locken Hausbesetzer nach Mitte

Nur zehn Jahre später in Berlin-Mitte schien die Situation ideal für eine Revitalisierung zumindest der Ost-Hausbesetzerszene; im Westen hatte es sich die erste Hausbesetzer-Generation in ihren senatsgeförderten Schöner-Wohnen-Etagen gemütlich gemacht. Während sich Ende der achtziger Jahre in West-Berlin Stagnation und Langeweile ausbreiteten (die Produzentengalerien "Moritzplatz", "1/61" und "Büro Berlin" hatten ihr Pulver verschossen, Martin Kippenberger sein Erbe im SO 36 durchgebracht), war im Osten ein Neuanfang möglich. Wendejahr 1989: im Westen eine subventionierte Off-Kultur, im Osten eine von der Stasi kontrollierte Dissidenten-Gemeinde. Dann fiel die Mauer, und nichts war mehr so wie zuvor. Ob den Mauerspechten wohl bewußt war, daß sie mit jedem Stein auch ihre Identität knackten? Wer zu spät auf den Zug der Zeit aufsprang, den bestrafte das Arbeitsamt.

Ein vager Hinweis auf IM-Tätigkeit genügte, um aus dem Staatsdienst entlassen zu werden. Die Ostler fühlten sich über den Runden Tisch gezogen, während die Westler deren Anspruchdenken kritisierten. Die Wiedervereinigung ging für beide Seiten mit hohen Verlusten einher: Die Westler verloren nach der Währungsunion ihre Kaufkraft und ihre Geduld, und die Ostler ihre Arbeitsplätze, ihre Denkmäler und ihr Selbstbewußtsein.

Weil Verluste nach wie vor vergesellschaftet und Gewinne privatisiert werden, gab es auch Gewinner: die Künstler. Während die Mainzer Straße geräumt wurde, durften die Künstler ihre besetzten Häuser behalten und sogar für Ausstellungen oder Parties nutzen. Mit Mietpreisen von ca. acht Mark pro Quadratmeter von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte angelockt, ließ sich eine ganze Szene nieder. Berlin-Mitte war undefiniert und für soziale und künstlerische Experimente bereit. Weil Spekulanten zu dieser Zeit massenhaft Rückübereignungsansprüche aufkauften, benötigten sie für einen profitablen Weiterverkauf eine kulturelle Kulisse. Künstler gründeten Galerien und Clubs, organisierten Partys und pflegten den Lebensstil des Bohemiens. Die Generationen tauschten sich aus, die Szenen mischten sich. In der Gentrifizierung der Spandauer Vorstadt zwischen Rosenthaler-, Oranienburger und Auguststraße liegt die Erfolgsstory eines Konzerns wie "Kunst-Werke" begründet.

Auch wenn mechanisch bei Langhans / Teufel und doppelbödig bei Beuys - das ästhetische Konzept vieler Vorwende-Künstler, ob sie nun aus dem Bezugsfeld des Sozialen oder des Kunstmarktes kommen, war zumindest politisch imprägniert. Nun, nach der kurzen Blüte einer "repolitisierten Kunstpraxis" - die US-amerikanische Issues in die hiesige Diskussion einbrachte, die Mehrheit der "traditionellen" Künstler zwar nicht agitieren konnte, aber stilbildend wurde ("Zettelästhetik") und mittlerweile in der Marginalität des Kunstmarktes operiert -, haben wir es mit einem neuen Phänotypen zu tun, der den sozialen Lebensstil gegen das zum ästhetischen Ornament degenerierte Politische eingetauscht hat. Dabei hatten die neunziger Jahre so hoffnungsvoll angefangen - mit Re-Politisierung, Zusammenschlüssen zu Künstlerkollektiven und selbstverwalteten Netzwerken. Kunstbetrieb und Ausstellungswesen wurden in einer Fülle von Projekten, in Symposien und Vortragsreihen durchreflektiert.

Die von der Postmoderne elektrisierte Junggeneration schien einen wilden, die Institutionen nachhaltig verunsichernden Interdisziplinarismus hervorgebracht zu haben. Doch jede importierte Revolte - ob Rap, Zapatista oder PC - lenkte nur von den Verhältnissen hierzulande ab. Die Kontrollgesellschaft konnte ihre Dissidenten in die Selbstkontrolle entlassen. Nicht der Stützpfeiler des bürgerlichen Kunstbegriffs - die Autonomie - wurde ins Wanken gebracht, sondern die Körperpolitik nach dem Club-Besuch. Die zeitweilige Besetzung politischer, sozialer, medialer Zonen durch die Bildende Kunst brachte einen neuen Kulturproduzenten hervor, den "Poplinken" - Kunstakademien, Popkongresse und Raves sind seine Clubs Med.

Wie mixe ich meine Lebensfragmente zu einem Track?

Der Limer der Endneunziger, der sich in der Figur des umherschweifenden Künstlers verdichtet, ist das lebendig gewordene Projektil seines Selbstbildes, ein Begehren in Aussicht stellendes und zugleich Begehren verschlingendes politisches Neutrum. Seine ausgefeilte soziale Kompatibilität manifestiert sich in der Fähigkeit, Widersprüche zu delegieren, statt sie - wie noch in den punkig angehauchten Jugendkulturen der achtziger Jahre - im jeweiligen sozialen Set selbst aufscheinen zu lassen. Das politische Neutrum Künstler hat morgens einen Termin beim Art Consultant, geht mittags jobben, abends ins Atelier und nachts in einen Club. Er kondensiert scheinbar widersprüchliche Beziehungen zwischen Fremd- und Eigeninteressen, zwischen künstlerischer Autonomie und finanzieller Abhängigkeit, lebt so, wie die Lebensumstände es erlauben und bejaht sie dadurch. Die Frage, warum er statt den Widerstand gegen seine Lebensumstände lieber seine Existenz als McJob organisiert, stellt er sich als Exekutor des Avantgarde-Modells, dessen Du-mußt-nur-wie-ein-Künstler-leben-dann-wirst-du-automatisch-ein-Künstler-Maxime ihn motiviert, als Cover-Version: Wie mixe ich meine Lebensfragmente zu einem Track?

Die höchst entwickelte soziale Kompatibilität gibt dem Begehren und der Kreativität zwar eine cosy Form, aber keine wirkliche Sprache, die auf die Form einwirkt, sie zur Disposition stellt oder gar sprengt. Die Form ist das politische Neutrum Künstler selbst, das seinen Körper als urban-kulturelles Ornament durch die Szene trägt, eine semiotische Höhle voller Zeichen, die auf Kommunikation warten. Weil das Soziale nicht als Kategorie des Politischen verstanden wird, sondern als deren Auflösung, ist das Politische für den Künstler auch nur ein weiteres Tattoo im Diskursdschungel.

Ob das politische Neutrum Künstler, das mittlerweile alle freien Parkplätze insbesondere in Berlin-Mitte besetzt hat, eine Gießform der flexibilisierten Produktivkräfte, ein dereguliertes und zu innerer und nur seinem Selbstbild verpflichteter Globalität konvertiertes Subjekt-Objekt-Wesen ist, mag ein Thema für marxistische Soziologie-Seminare sein, wo alle vom Erkenntnisinteresse abweichenden Lebensformen mit Vorliebe denunziert werden, zum tieferen Verständnis des Phänotypen Künstler taugt die Neoliberalismus-Schablone nicht. Auch die Sache mit der ästhetischen Erfahrung als Ersatz des Politischen hilft nicht weiter, kann doch die Ästhetik nach wie vor ein Ort partikularen Widerstands sein. Seit die Demo von den Grünen zur höchsten Form der Öko-Spießigkeit entwickelt wurde, kann man selbst eine Menschenansammlung im Bus-Wartehäuschen für subversiver halten, zumal, wenn der Bus Verpätung hat.

Peircing-Muster als Zeichen des Aufruhrs

Ästhetik ist dehnbarer als jeder Gummi-Paragraph. Ihr Appeal ist sprunghaft gestiegen. In Shell-Studien der letzten Jahre geben Schüler mehrheitlich Künstler als Traumberuf an. Künstler ist ein Ideologem geworden, das in jedes Parteiprogramm eingebaut werden kann. Der Künstler ist längst kein Exponent der Kunstszene mehr, er hat seine Exklave verlassen und die Lehrpläne an Schulen und Hochschulen infiltriert, wo Kreativität angeregt, gesellschaftliche Rollenmodelle diskutiert, historisches Wissen weitergegeben und schließlich Fragen der Selbstorganisation im Hinblick auf das spätere Berufsleben geklärt werden.

Weil sich das Verwalten eines Kanons, der die gesellschaftliche Komplexität in einen ästhetischen Leitentwurf zu reduzieren vorgibt, als Imagination herausgestellt hat, wohingegen die Realität des Lebens und Arbeitens als Künstler von politischen Faktoren, nämlich von gesellschaftlich in Aussicht gestellter Selbstverwirklichung und einem zugleich ökonomisch eingeschränktem Freiheitsbegriff, bestimmt wird, deshalb übt die Figur des Künstlers - die zwar ein Leben in Widersprüchen, aber dafür in vollen Zügen verspricht -, eine so hohe Anziehungskraft aus.

Da hilt auch nichts, daß die Situationisten gegen den "originellen Lebensstil", der aus diesem Antagonismus hervorgeht, polemisiert haben: "Armutskult und Bohème. Die Bohème, die schon lange keine originelle Lösung mehr ist, wird nur nach einem völligen und unabänderlichen Bruch mit dem Universitätsmilieu gelebt." ("Über das Elend im Studentenmilieu", 1967) Diese im Vorfeld des Pariser Mai-Aufstands formulierte Zustandsbeschreibung ruft in der heutigen Jugendkultur Achselzucken hervor. Daß in Ermangelung gesellschaftlicher Perspektiven sowohl die realen Konflikte als auch die ästhetischen Kriterienkataloge verschwimmen, who cares?

Der Künstler ist der Vorbote der in Tribes zersplitterten Öffentlichkeit, der kreativste Agent eines neuen Partikularismus, der die Revolte in die Subjekte hineinleitet und auf deren Körpern Peircing-Muster als Zeichen des Aufruhrs hinterläßt. Der Widerspruch des politischen Neutrums Künstler ist ein doppelter. Es lebt die gesellschaftlich in Aussicht gestellte Selbstverwirklichung aus, obwohl es weiß, daß die reale Welt mit ihren realen Konflikten eine daraus resultierende Imagination ist. Die perfekte ästhetische Selbstkontrolle. Der Künstler ist ein Zombie der Kulturindustrie, würde Marcuse sagen, welche die Ideale der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - zu seelischen Qualitäten pervertiert hat. Aber auch das hilft nicht weiter. Der Künstler wendet sich von der Theorie ab, er liest lieber Design-Magazine.

Der Künstler hat einen Bruder, den Studenten

Der Künstler hat einen Bruder, den Studenten, der 30 Jahre nach der Apo den Bildungsnotstand in den Mittelpunkt seiner Proteste stellt. Sein Protest ist die Imagination einer Revolte, deren Gegenstand - "die Bildungskrise" - genau seinen Phänotypen hervorgebracht hat. Ein eklatantes Beispiel dieser neuen Protestform zeigte sich auf dem Höhepunkt der "Let's putz"-Kampagne in Stuttgart. In der von Graffitis und Obdachlosen gesäuberten Innenstadt wirkten die Abiturienten-Demos für bessere Mathe-Zensuren wie eine freiwillige Putzkolonne, die auch noch von der Polizei exkortiert wurde. "Wir fordern Notendurchschnitt 1,5! Jetzt!", "Mathe - nein danke!" und "Treten Sie bitte zurück, Herr Kultusminister!" - so lauteten die Parolen. Die Lichterkette war von der Polizei vorab konfisziert worden.

Die Unzufriedenheit unter den Studierenden ist derart stark angewachsen, daß sie z.B. in Berlin geschlossen in die FDP eintreten wollen. Die Wut über die eingespielte und Widersprüche versöhnende Mechanik eines Lehrbetriebs, der soziale Aspekte und politische Fragen nicht mehr erfaßt und statt dessen Snowboarder-Seminare anbietet, drängt zur Tat. So wurde die Snowboarder-Bewegung entpolitisiert, durch Streichung von Doktorandenstellen. Und wie immer, wenn es um die symbolische Tat geht, übernehmen Kunststudierende die Vorreiterrolle. Sie verweigern alles, was vereinnahmt werden könnte, sogar Soli-Adressen. Denn Universitäten sind kein Orte gesellschaftlicher Totalität mehr, sie sind Orte der Freizeitgestaltung geworden, wo die spätere McJob-Existenz schon mal eingeübt wird.

Daß insbesondere die ästhetische Produktion dann eine gesellschaftliche Situation sein und somit die symbolische Ebene verlassen kann, wenn die künstlerische / theoretische / politische Auseinandersetzung mit der Realität des Lebens und Arbeitens des Studenten verknüpft ist, diese Erkenntnis ist bestenfalls in der Organisationsform des Begehrens als Erinnerung eingekapselt, die vielleicht irgendwann wieder aktiviert werden kann.

Der "Akt der simultanen Zerlegung"

Das vielleicht folgenschwerste Grundmuster des politischen Neutrums Künstler lieferte der Poststrukturalismus, insbesondere Roland Barthes. "Die Sprache ist das Depot der Lautbilder und die Schrift die greifbare Form dieser Bilder", hatte Ferdinand de Saussure, der Begründer der neueren Sprachwissenschaft, 1907 gesagt. Saussure, der die Prager Schule um Roman Jakobson und die französischen Poststrukturalisten inspirierte, unterscheidet zwischen der Ausdrucksebene des Sprachzeichens, dem Signifikanten, und der von ihr assoziierten Inhaltsebene des Sprachzeichens, dem Signifikat. "Bedeutung" entsteht in einer für die betreffende Sprachgemeinschaft repräsentativen Weise. Für diese Operation führt Saussure einen aus der Ökonomie entlehnten Begriff ein, den "Wert". Der Wert spricht das Austauschverfahren der Zeichen untereinander an, ihre Gleichgewichtung im System, aber nicht ihren inhaltlichen Stellenwert. So wird es möglich, Phänome losgelöst von ihren ideologischen Überfrachtungen, eben struktural zu beschreiben. In "Elemente der Semiologie" verfeinert Roland Barthes diesen Ansatz dahingehend, "daß die Bedeutung mit der Substanz des Inhalts und der Wert mit dessen Form verwandt ist". Während der Wert jene für die Bildung von Bedeutung unentbehrliche Disposition der Sprachzeichen zur Linearität und zur formalen Gleichgewichtung im System meint, ist die Bedeutung der Sprachzeichen demgegenüber ein "Akt der simultanen Zerlegung", und zwar mittels Selektion und Kombination.

Der "Akt der simultanen Zerlegung" begründet strenggenommen den sprachlichen Strukturzusammenhang jeder poetischen Technik, und er läßt sich auf andere Felder übertragen, die - einmal semiotisch abgesteckt - als neues Untersuchungsgebiet, das der Kulturanthropologie, erscheinen. So wird es möglich, "Substanzen" in andere "Formen", auch ihnen widersprechenden, zu bringen. Dadurch verschieben sich auch "Bedeutung" und "Wert" der nun zu Artefakten mutierten sozialen und politischen Phänome, die ursprünglich in klarer Hierarchie standen. Roman Jakobson spricht davon, daß z.B. das Brüllen eines Löwen von dessen mächtiger Präsenz zeuge, und Barthes bezeichnet den Citro'n DS als die neuzeitliche Kathedrale.

Diese kulturanthopologischen Operationen laufen darauf hinaus, daß die Imagination eines Löwen letztlich der Löwe selbst ist. Bezogen auf den Künstler, der seine Revolte in einer "Form" zum Ausdruck bringt, der ästhetischen, die der ursprünglichen "Substanz" nicht adäquat ist, ergeben sich eine Fülle von Rekombinationsmöglichkeiten, sowohl seine Produktions- als auch seine Lebensformen betreffend. Das Politische ist eine weitere "Substanz" im ästhetischen Formenkanon, ein bedeutungsvolles Ornament ohne Rückbezug auf den ursprünglichen Kontext.

Décollage des Kapitalistischen Realismus

Die Rekombination sozialer und politischer Rahmenbedingungen - Wiedervereinigung, Bauboom, ökonomisches Versprechen der Hauptstadt - hat eine dem bohemistischen Künstlerbild entlehnte Lebensform hervorgebracht, die eben diese Rahmenbedingungen künstlerisch substantiiert. Das Alltagsleben des Künstlers ist zum Inbegriff der Generation Berlin geworden: jung, erfolgreich und spaßorientiert. Davon profitieren insbesondere die Investoren, die, um ihre Milliardengräber loszuwerden (nach Schätzung des empirica-Instituts stehen in Berlin derzeit 1,5 Millionen Quadratmeter Büroflächen leer), die bis Ende 1996 steuerlich abgeschrieben werden konnten, verstärkt Kunst fördern und also die Lebensform Künstler mitfinanzieren. Im Frühjahr 1995 eröffneten gleich zwei Häuser mit einem Kunst / Büro-Mischnutzungskonzept, das Haus Pietzsch Unter den Linden und ein 80 Millionen teures Sanierungskomplex der Gruppe Gädeke & Landsberg im ehemaligen Heeresproviantamt in Potsdam.

Mit dem Haus Pietzsch errichtete Architekt Jürgen Sawade ein 50 Millionen teures Büro- und Geschäftshaus inklusive Privatmuseum. Das erste Neubauvorhaben in Mitte machte Schlagzeilen, weil hier das Bundesverfassungsgericht erstmals der Investition Vorrang vor Restitutionsansprüchen eingeräumt hatte. Kunst spielte bei dieser Entscheidung - wie auch beim Zuschlag der Sophien/Gips-Höfe durch die Treuhand an die Sammler Hoffmann -, eine wichtige Rolle, wurde sie doch von den Investoren als Stadtentwicklungsfaktor in die Verhandlungen eingebracht.

Der Fall der Mauer im November 1989, als West-Abiturienten nach Mitte strömten und dort Galerien und Clubs gründeten, bedeutete das Ende der Off-Kultur in dem bis dahin geltenden Sinne, daß man seine kulturellen Aktivitäten, seien sie noch so dilettantisch, als oppositionelle politische Akte verstand. Tatsächlich war zumindest die West-Berliner Kultur bereits in den achtziger Jahren mit Senatssubventionen zur entmilitarisierten Zone der Hochkultur befriedet worden. Doch der Künstler in Berlin-Mitte gab selbst diesen Minimalkonsens auf. Seine Orientierung gilt weder der Kunst, noch der Politik, sie ist ausgerichtet auf eine Décollage des Kapitalistischen Realismus, der ihn nach seinem Ebenbild geformt hat: wettbewerbsfähig und risikoreich, selbstverliebt und publikumsorientiert zugleich. Der Künstler ist der fleischgewordene Kriterienkatalog öffentlicher Bauaufträge.

Anfang der Neunziger hatte es der Künstler noch schwer, denn spätestens mit dem Untergang des Sowjetimperiums schwand das Vertrauen in den Kunstmarkt. Die Mafia fand im Osten profitablere Geldwaschanlagen, wie der 1992 gestorbene Kunstkritiker Wolfgang Max Faust behauptete. Allerdings strich ihm der Verlagsjustitiar die Anschuldigungen gegen Museen, auch Berliner, aus dem Buchmanuskript "Dies alles gibt es also. Kunst, Alltag, Aids" wieder heraus.

Um den Preisverfall Ende der achtziger Jahren aufzuhalten, wurden auf Auktionen manche Bilder von den Anbietern selbst zurückgekauft. Die Sammler investierten in alte Kunst und in Kunsthandwerk. Doch mittlerweile sind Linien- und Auguststraße zu Boulevards der Besserverdienenden aufgestiegen, wenn auch in imaginierter Form, denn die Ausstellungsräume werden auf niedrigem ökonomischem Niveau betrieben, was wiederum die Lebensdauer erhöht. Galerien, Feinkostgeschäfte, Cafés und Boutiquen schlucken die Touristenmassen.

In den topsanierten Appartments und Fabriketagen lebt jetzt die dynamische Handy-Generation das Abziehbild des Künstlers, während die übriggebliebenen Fahnenträger der Off-Kultur entweder nach Prenzlauer Berg verdrängt wurden oder im Tacheles seit Jahren überwintern dürfen, und das auch nur, weil dem Investor die Kohle ausgegangen ist. Die Off-Kultur, von der Entwicklung überrollt und dem Subventionsdenken verhaftet, ist im alten Sinne verschwunden. Sie reißt sich mittlerweile um öffentliche Bauaufträge, doch ihre Form ist falsch substantiiert und deshalb nicht mehr kompatibel.