Bruder Schneider

Ein Fall von Komplizenschaft oder ein Vorbild deutscher Demokratisierung? Drei Veröffentlichungen zum SS-Mann und Germanistikprofessor Schneider/Schwerte kommen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen

Erinnern Sie sich? Ende April 1995, die Hochschule wollte gerade ihr 125jähriges Bestehen feiern, wurde in Aachen bekannt, daß einer der ehemaligen Rektoren nach Ende des Zweiten Weltkrieges inkognito aus dem Deutschen Reich in die Bundesrepublik gewechselt war. Unter Hitler war er in der schwarzen SS-Uniform als Hans Ernst Schneider in Europa unterwegs gewesen, in Westdeutschland wurde er als Hans Schwerte Professor.

Germanist war er immer: Bis 1945 im engeren Sinne als Funktionär der SS-Wissenschaftsorganisation Ahnenerbe (Abteilung Germanischer Wissenschaftseinsatz) und als Vordenker für den "Totalen Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften". Nach 1945 als Fachmann für Goethes "Faust" in Erlangen, Münster und Aachen, wo er von 1970 bis 1973 Rektor war. 1978 wurde Schneider emeritiert, 1983 erhielt er das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Heute lebt Schneider in Bayern, hat kein Verdienstkreuz mehr und keine Beamtenpension: Deren Entzug bestätigte das Verwaltungsgericht München vor einem Monat.

Nachdem sich Schneider 1995 selbst enttarnt hatte, um einer fast abgeschlossenen Recherche niederländischer Fernsehjournalisten zuvorzukommen, war in Aachen allerhand los. Am Germanistischen Institut brachte ein ehemaliger Student Schneiders ein Transparent an: "Voller Scham verfluche ich den SS-Schergen Schwerte", die Festschrift zum Jubiläum mußte rasch umformuliert werden, Professoren bezichtigten sich wechselseitig, von Schwertes wahrer Identität gewußt zu haben, Studenten richteten den Vorwurf der Mitwisserschaft an ihre Professoren. Nur die Hochschulleitung blieb cool und betrachtete trotz bundesweiter Schlagzeilen die Affäre als "Personalsache Hans Schwerte".

Die um ziemlich exakt 50 Jahre hinausgeschobene Rückmeldung des Hauptsturmführers Schneider warf natürlich eine Reihe von Fragen auf: Wer wußte - innerhalb oder außerhalb der Aachener Hochschule - von der Doppelidentität? Hat nicht Schwertes überaus anständige Nachkriegsexistenz den germanischen Wissenschaftseinsatz Schneiders gesühnt? Gab es alte Nazi-Verbindungen, die Schwertes Aufstieg förderlich waren?

Der Aachener Germanist Ludwig Jäger hat ein Buch vorgelegt, das den politischen und wissenschaftlichen Lebensweg Schneiders vom Studium in Königsberg bis zur Berufung nach Aachen fast lückenlos nacherzählt. Durch aufwendige Quellenstudien in einer Vielzahl von Archiven und einen systematischen Blick auf die Dynamik der personellen und wissenschaftlichen Konstellationen im Fach Germanistik ist Jägers Band "Seitenwechsel" ohne Zweifel dazu prädestiniert, als Grundstein einer umfassenden Fachgeschichte zu dienen, die - wie in den meisten anderen Disziplinen auch - in der Germanistik noch aussteht, weil mit Rücksicht auf Kollegen, Doktorväter und Karriere bisher niemand nach den Jahren zwischen 1933 und 1945 fragen wollte.

Zu Schneider enthält Jägers Recherche eine Reihe bislang unbekannter Fakten: Hatte der Hauptsturmführer antisemitische Aktivitäten immer vehement abgestritten, fand Jäger nun u.a. einen Brief, in dem Schneider auf Anregung des SS-Kollegen Hans Rößner 1941 fordert, die "Verjudung des George-Kreises" zu thematisieren. Vor allem aber gelingt es Jäger, jene akademischen Beziehungsgeflechte aufzudecken, die sich aus dem NS-Staat fast unbehelligt in die BRD retteten. Man erfährt, wie im April 1945 die Mitglieder und das Umfeld der "Nordgruppe Ohlendorf" des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin über die deutsche Europapolitik der Nachkriegszeit berieten und dabei jene - heute wohlbekannten - Formeln erfanden, die eine deutsche Hegemonie friedlich und eher diskret herbeiführen sollte. Immer wieder taucht hier an Schneiders Seite SS-Obersturmbannführer Rößner auf, der später nicht nur Leiter des Piper-Verlages werden sollte, sondern aus seiner Bonner Studienzeit mit Gerhart Lohse bekannt war, der in den sechziger Jahren, zur Zeit der Berufung "Schwertes", Direktor der Aachener Universitätsbibliothek gewesen ist.

Es sei "nun nachvollziehbar", kommentiert Jäger dieses Geflecht alter Kameradschaften, warum 1964/65 die Aachener Berufungsliste bereits "vor Beginn der Arbeit der Berufungskommission festzustehen schien". Dieses Ergebnis ist insofern eine kleine Sensation, weil sich damit ein von studentischer Seite früh geäußerter Verdacht bestätigt. War der Vorwurf der Komplizenschaft zuvor von akademischen und publizistischen Obrigkeiten immer wieder energisch als ungeheuerliche Unterstellung zurückgewiesen worden, interessierte seine Verifizierung später niemanden mehr. Schon gar nicht die Wissenschaft: Die hatte gerade befunden, daß Schneiders heimlicher Wechsel aus Himmlers Uniform in den Talar fortan als Muster einer gelungenen Versöhnung zu betrachten sei.

"Indem Jäger", schreibt Ulrich Greiner in der Zeit, "furchtsam Distanz hält und in Schneider/Schwerte immer nur den abschreckend anderen sieht, bleibt er im Muster eines beruhigenden Antifaschismus befangen, der aber nur das bereits Bekannte wiederfindet und sich in moralischer Abwehr erschöpft." Schneider aber "ist unser Bruder oder könnte es sein". Deshalb empfiehlt Greiner ein anderes Buch zum Thema: Zwar sei Claus Leggewie, Politikprofessor in Gießen, "ein rasch produzierender und in Details nicht sonderlich seriöser Zeitgenosse. Aber obwohl sein Buch teilweise nachlässig geschrieben ist, Wiederholungen nicht scheut und seine Quellen ausnutzt, ohne sie immer genau zu benennen, ist es dem von Ludwig Jäger (fast muß man sagen: leider) weit überlegen, weil es einen neuen, kalten Blick ermöglicht (...). Leggewies Leistung (...) besteht darin, daß er es dem Leser ermöglicht, sich selber in dieser Figur wiederzuentdecken (...). Er rekonstruiert den Lebenslauf dieses Mannes mit den zwei Biographien."

Genau das leistet Leggewies Buchs "Von Schneider zu Schwerte" jedoch nicht: Der Verfasser hat das heute im bayerischen Aschau wohnende Ehepaar Schneider häufig besucht und kolportiert nun seitenlang jene Lügen und lückenhaften Erinnerungen, welche Jäger gerade als Legenden entlarvt. So findet Leggewie u.a. in Schneiders Kindheit - die Mutter strahlte "wenig Herzlichkeit und Wärme aus" - Ursachen für die "fehlgegangene Suche nach (Volks-) Gemeinschaft". Zugleich sträubt sich Leggewie mit nahezu pathologischer Vehemenz dagegen, die neueren Fakten zur Schneider-Biographie zur Kenntnis zu nehmen, und polemisiert gegen die jüngeren Forschungsergebnisse, wonach Schneider durch die (systematische) Hilfe alter Kameraden in seiner neuen Identität wie in seinem beruflichen Fortkommen im demokratischen Sektor gestützt worden ist: Überall identifiziert Leggewie "Schneider-Detektive" und "Schneider-Fahnder", die stur, irre und wider besseres Wissen nach einer "Rattenlinie" alter Nazi-"Seilschaften" suchen.

Die von Leggewie und Greiner betriebene Denunziation einer Forschung, die nach historischen Zusammenhängen fragt, korrespondiert mit der jüngst debattierten Forderung, das Denken durch das "Gewissen" (Walser) zu ersetzen, und appelliert damit an jene urdeutsche Tradition, noch das mieseste Interesse, sobald es sich emotional oder moralisch legiert, als inneres und damit glaubwürdiges Anliegen zu ehren.

Bei Leggewie klingt das im Schlußsatz seines Buches so: Schneider habe durch seine Tätigkeit als linksliberaler Hochschullehrer Schwerte seine SS-Zeit "zwar nicht (...) aufgearbeitet, er hat sie aber professionell und im Rahmen seiner Institution abgearbeitet. Und damit hat er sich um die Bundesrepublik sogar verdient gemacht."

Die Bundesrepublik mag Leggewie im großen und ganzen: Die Wandlung von Schneider zu Schwerte war nach Darstellung Leggewies "einzig im Rahmen des kollektiven und institutionellen Wechsels in Deutschland" möglich, "der sich genauso unsauber anließ und vollzog wie dieser Neubeginn eines einzelnen SS-Mannes. Die Parallele zwischen dem individuellen und kollektiven Namenswechsel ist unübersehbar". Das Ergebnis dieses Wechsels war die "Bonner Republik", in der der "Nationalsozialismus unmöglich (wurde) und eine sozialistische Revolution nicht stattfinden (konnte)." Was will man mehr?

Ähnlich ärmliche Identifikationsmuster bietet der Aachener Professor Helmut König, wie Leggewie 1950 geboren und Politologe, in seinem Buch zum Fall Schneider/Schwerte an. In ihren Anfängen sei die BRD durch die "Kontinuität der funktionalen Eliten" zu Recht "Skepsis, Empörung und erhöhter Aufmerksamkeit" ausgesetzt gewesen. "Heute" aber ist aus "zeithistorischer und politikwissenschaftlicher Sicht (...) die Frage wichtiger, wie es trotz dieser Belastungen durch das Personal und das politische Bewußtsein zugegangen ist, daß die Bundesrepublik im Laufe ihrer Entwicklung eine alles in allem stabile Demokratie hat werden können". Das ist Suggestion mit Esprit, denn: "Das Doppelspiel, von dem für Schneider/ Schwerte oft die Rede ist, ist eine tief in die strukturellen Fundamente der Bundesrepublik eingelassene Verhaltensanforderung."

Hätte der Hauptsturmführer also anders gekonnt? Schneider, sagt Leggewie, war im Grunde gezwungen, seine Identität geheim zu halten: wegen der "geringen und seit den sechziger Jahren eher schwindenden Duldsamkeit des deutschen Publikums, eine solche Geschichte und damit die Ambivalenz der eigenen politischen Entwicklung zu ertragen". Sind wir nicht alle ein bißchen Schwerte?

Ludwig Jäger: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, 360 S., DM 58

Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte. Hanser, München 1998, 363 S., DM 45

Helmut König (Hg.): Der Fall Schwerte im Kontext. Westdeutscher Verlag, Opladen/Wiesbaden 1998, 174 S. DM 29,80