Martin Wuttke liest von Gagern

Für Müller am Marterpfahl

Vermutlich war dies die einzig wirklich passende Veranstaltung zum 70. Geburtstag des vor drei Jahren gestorbenen Dramatikers Heiner Müller. Am 9. Januar las der Schauspieler Martin Wuttke in der Berliner Volksbühne dessen Lieblingserzählung "Der Marterpfahl". Geschrieben hat sie 1925 Friedrich Freiherr von Gagern, ein ziemlich vergessener österreichischer Abenteuerschriftsteller (1882-1947).

Der Ansturm zur Lesung war so groß, daß sie aus dem Roten Salon auf die Hauptbühne verlegt werden mußte. Wuttke kam aus dem Berliner Ensemble herübergeeilt, wo er am selben Abend die Titelfigur in der 200. Aufführung des 1995 von Müller inszenierten Brecht-Renners "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" gespielt hatte. Mit zotteliger grauer Langhaarperücke und braunem Mantel als Lonesome Cowboy verkleidet, in der Faust eine Dose Cola, schlurfte er zum rot gepolsterten Stühlchen an der Rampe und grinste. Im Hintergrund reckte gerade Gojko Mitic das mächtige Kinn in den strahlend blauen Himmel. "Die Spur des Falken" (1968), einer jener wehmütig-wundersamen DDR-Indianerfilme, begleitete den gesamten "Marterpfahl"-Vortrag.

Das paßte gut und lenkte angenehm von der heroisch verquasten Wildwest-Moritat ab. Müller gab 1995 zum besten, kein Literat hätte seine Sprache und Themen wie Gagern geprägt. Der setzte auf martialische Einfalt, auf gruselige Größe und en gros auf triviale Männerphantasien am Rockzipfel der Geschichte.

Wuttke grinste noch öfter, Mitic schaute zunehmend besorgt, an Müller wagte man nicht mehr zu denken. Johann Ludwig Wetzel war unumgänglich. Die tragisch umflorte Hauptfigur in Gagerns Erzählung ist ein Mann so hart wie Kruppstahl, so zäh wie Büffelleder und insgesamt so ein rechter "wilder Deutscher". Die Indianer töten ihm Eltern und Ehefrau. Er selbst kann mit letzter Kraft dem Tod am Marterpfahl entkommen.

Der Pelzjäger wird zum unbarmherzigen Indianerjäger, der einsam rastlos die Wälder durchstreift und schon bald eine gespenstische Legende ist: "Von seinem Ende ist nichts bekannt." Es dräut das Schicksal, die Natur tobt. "Fahle Frühe und Vogelflug", Stromschnellen, hungrige Bären, donnernde Büffel und die "bemalten Teufel" auf Kriegspfad: West Virginia ist nicht nett zu den bleichgesichtigen Okkupanten - wortkarge Männer, die ihre bibelfesten Frauen wie die weiten Felder mit schwieliger Faust und lockerer Schußhand beschützen, gelegentlich zum Rumtopf greifen, entschlossen Nachwuchs produzieren. Wie bei Karl May ist auch hier der Starke am stärksten allein. Wetzel ist es natürlich am meisten und außerdem sehr gern.

Müller hinterließ viel Literatur und kryptisches Spruchwissen, eine treue, Anekdoten wiederkäuende Gemeinde - und raffiniert verwischte Spuren. Einen undatierten Entwurf, derzeit erstmals in der Akademie der Künste ausgestellt, beschließt er mit den Worten: "IM BAUM DIE VÖGEL SCHWIRRN / WER HAUST IN MEINER STIRN". Wuttke hat seine Perücke, Mitic die gerechte Sache, das Publikum hat's warm. Müller hatte es nicht leicht, ist aber bis heute nicht zu fassen, ob mit Marterpfahl oder ohne. Was durchaus beklatscht wurde.

Fundsachen Heiner Müller. Ausstellung aus dem Nachlaß. Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Berlin-Tiergarten. Bis 14. Februar