Der Krieg am Rande der Stadt

Ökonomie der Ausgrenzung

Der globale Krisenkapitalismus und der Balkan.

Wie es scheint, hat der neue Balkankrieg das ohnehin längst fragwürdige politisch-ideologische Koordinatensystem endgültig gesprengt. Die Träger jener Friedensbewegung, die vor acht Jahren gegen den Golfkrieg deutsche Kinderangst beschwor und kein Blut für Öl sehen wollte, laufen heute großenteils als olivgrüne Staatsverantwortungspartei herum und diskutieren fachfrauisch engagiert die Dosierung von Militärschlägen wie früher nur die Betroffenheit stillender Mütter oder die Einrichtung von Vogelschutzgebieten.

Umgekehrt möchten etliche Bellizisten von damals heute nicht nur keine Atombombe, sondern gar keine Bombe fallen sehen, weil Belgrad ganz einfach nicht Bagdad sein kann. Die Konfusion ist perfekt; die aufbrechenden weltgesellschaftlichen Widersprüche finden keinen Begriff mehr. Und es gibt nichts, was auch nur entfernt als Kampf um gesellschaftliche Emanzipation interpretiert werden könnte.

In einer solchen Situation kann es nicht die Aufgabe von Gesellschaftskritik sein, sich in der altgewohnten Manier des gescheiterten Politizismus oberflächlich (und mittlerweile bloß noch hysterisch) zu positionieren. Statt dessen ist es zuerst einmal nötig, auf scharfe Distanz zu jeder immanenten Parteilichkeit zu gehen und die ganze Konstellation mit ihren falschen Alternativen zu verwerfen. Wer sich einer politischen Unmittelbarkeit verweigert, die nur noch in Sackgassen führt, versäumt nichts. Einzelne Ereignisse und Verlaufsformen können ohne eine Theorie und Analyse des Ganzen gar nicht beurteilt werden.

Deshalb ist die seit dem Epochenbruch von 1989 weitgehend verdrängte Frage zu stellen, mit welcher grundsätzlichen Veränderung des warenproduzierenden Weltsystems und seiner politischen Formen wir es zu tun haben.

Der Krisenkapitalismus der dritten industriellen Revolution

Je mehr sich die Katastrophen häufen, desto weniger ist von einer Krise der weltweit herrschenden Produktionsweise die Rede. Nach dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Systeme nachholender Modernisierung wurde ein überwältigender ideologischer Konsens durchgesetzt, der eine alternativlose Gesellschaft von "Marktwirtschaft und Demokratie" vorsieht.

Vor dem stummen Hintergrund des zur Naturtatsache sedimentierten Weltmarkts sollten die in der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte herausgebildeten Institutionen den unwandelbaren Rahmen abgeben: "Souveräne" Nationalstaaten mit "territorialer Integrität", zusammengefaßt in der "zivilisierten Staatengemeinschaft" der Uno, gebunden an das "Völkerrecht" und (zumindest perspektivisch) an demokratische Prozeduren sowie Rechtsstaatlichkeit auf dem Boden des warenproduzierenden Systems und seiner Subjektform.

In dieser schönen neuen Weltordnung macht sich aber leider ein grundsätzliches Problem bemerkbar, das durch noch so viel politische Gestaltungshuberei nicht weggedrückt werden kann. Es war eine Illusion, daß die kapitalistische Vernutzung menschlicher Arbeitskraft wieder in großem Maßstab in Gang gesetzt werden könnte, wenn man nur vermeintliche institutionelle Hindernisse beseitigt und ein einheitliches Weltsystem herstellt. In Wirklichkeit machen die Produktivitäts- und Rentabilitäts-Standards der mikroelektronischen dritten industriellen Revolution die Fähigkeit des Kapitals zur Reabsorption wegrationalisierter Arbeitskraft irreversibel zunichte.

"So many hands, so much money" - diese alte Formel des Manchester-Kapitalismus, die auch in der fordistischen zweiten industriellen Revolution noch darstellbar war, gilt nicht mehr. Die "hands" können in stets wachsendem Ausmaß nicht mehr "beschäftigt" werden, es entstehen immer neue Massen von "Überflüssigen".

Grundsätzlich führt sich damit die Akkumulation des Kapitals selber ad absurdum, die ja gerade in der Verwurstung von Arbeitskraft besteht, um abstraktifizierte menschliche Energie in Geld zu verwandeln. Da diese substantielle Realakkumulation nicht mehr ge-lingt, wird seit den achtziger Jahren das kommerzielle Finanzsystem aufgeblasen wie ein Luftballon.

Nicht mehr die Gütermärkte, sondern die Aktienmärkte bestimmen den ökonomischen Prozeß wesentlich. Freilich nicht im Sinne einer bloß äußerlichen Dominanz des Finanzkapitals über das Industriekapital (wie in der verkürzten Imperialismustheorie von Lenin und Hilferding), sondern als finanzkapitalistische Simulation und damit als Form des Krisenaufschubs.

Das ist nur logisch, denn je höher das Niveau des realen Wachstums bereits ist, desto schwieriger wird es, weiteres Wachstum zu erzielen, das zunehmend durch Kredit vorfinanziert werden muß. Nur durch den Vorgriff auf zukünftige "Arbeit" und damit auf zukünftigen Mehrwert kann das System weiter am Laufen gehalten werden. Bezog sich der Kredit jedoch in der fordistischen Ära tatsächlich noch auf die industrielle Produktion, so hat sich das Finanzsystem als Folge der dritten industriellen Revolution inzwischen völlig verselbständigt. Die Finanzmärkte sind daher an Stelle der Notenpresse zu einer scheinbar autonomen Geldschöpfungsmaschine mutiert ("asset inflation") - und das geht solange, bis eben die Blase platzt.

War das dominierende Interessenmoment unter dem Diktat der Konkurrenzgesetze bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vom industriellen Management auf das Bankenmanagement übergegangen (das empirische Substrat der verkürzten alten Finanzkapital-Theorie), so liegt es nun beim Management von transnationalen Anlagefonds. Deren Interesse an einer permanenten Steigerung der Kurswerte von Aktien, die an die Stelle der Realakkumulation getreten ist, bestimmt die gesamte Reproduktion ("Shareholder value").

Das Verhältnis von Gütermärkten und Finanzmärkten hat sich auf den Kopf gestellt. Es kann praktisch nur noch real produziert werden, wenn ein Zufluß transnationalen Fondskapitals stattfindet. Dieses global fluide Geldkapital schlüpft allerdings selber nicht mehr in die Haut von Realinvestitionen, sondern macht diese von sich abhängig (sie werden de facto aus Aktienemissionen und Kurssteigerungen bezahlt). Aber das Geld der Fonds kann in jedem Moment abgezogen werden und schlagartig ruinierte Industrien zurücklassen, deren scheinbar intakte Fassaden gar nicht mehr auf dem Boden einer gelingenden Realakkumulation stehen.

Die andere Seite desselben Prozesses, die zunehmende strukturelle Massenarbeitslosigkeit, läßt gleichzeitig die Binnenmärkte für reale Güter austrocknen. Getrieben von den realwirtschaftlich bizarr erscheinenden Interessen des Fondskapitals und dem Abschmelzen der Kaufkraft verlagert sich auch die Produktion und Distribution realer Güter auf einen unmittelbar globalen Funktionsraum.

Transnationale Wertschöpfungsketten, die großenteils der Simulation durch fiktives Fondskapital unterliegen, haben in den letzten 15 Jahren die nationalökonomische Kohärenz aufgesprengt. Damit werden auch die Staaten als "ideelle Gesamtkapitalisten" degradiert: Sie können ihre Einnahmen (Steuern und Kredit) nicht mehr aus einem von ihnen kontrollierten und kohärenten politisch-ökonomischen Funktionsraum beziehen, sondern sind ebenso wie Industrie und Bankensystem auf Gedeih und Verderb von den transnationalen Fonds abhängig geworden ("Standortdebatte").

Diese krisenhafte Entwicklung ist allerdings in ihrer Wirkung gestaffelt nach Weltregionen. Wie die verschiedenen Gesellschaften historisch ungleichzeitig in das moderne warenproduzierende System hineingezwungen wurden, so stellen sich auch Grad und Ausmaß der Krise entsprechend ungleichzeitig dar.

Im Westen fällt zunächst eine wachsende Masse von Individuen aus der kapitalistischen Reproduktionsfähigkeit heraus; in den angelsächsischen Ländern, die das sozialstaatlich-keynesianische Netz am konsequentesten abgebaut haben, kehrt sogar schon die verslumte Massenarmut des 18. Jahrhunderts auf höherer Stufenleiter wieder. Gleichzeitig geht der industrielle Abschmelzungsprozeß unvermindert weiter; gemessen an den Grenzen der Simulationsfähigkeit existieren weltweit immer noch riesige Überkapazitäten. Die Konzerne bereiten sich mit historisch beispiellosen Fusionswellen gewissermaßen auf das "letzte Gefecht" um das betriebswirtschaftliche Überleben vor.

Oberflächlich betrachtet berührt dies aber das System als solches vorläufig nicht, weil sich das transnationale Fondskapital mit seiner Simulationspotenz in den westlichen Ländern konzentriert, die daher den Schein kapitalistischer Normalität am längsten aufrecht erhalten können.

Die Letzten dürfen also die Ersten sein, denn die historischen Nachzügler der kapitalistischen Peripherie werden zeitlich vor den westlichen Zentren von der Systemkrise in den Abgrund gerissen. Der Kapitalstock kann mangels Bonität des jeweiligen "Standorts" nicht auf die Erfordernisse der dritten industriellen Revolution hochgerüstet werden. Bei steigenden Importen von Kapitalgütern verfallen die eigenen Exportpreise und die Außenverschuldung explodiert.

Die jeweilige nationale Währung bricht zusammen und wird zum Arme-Leute-Geld oder sogar ganz abgeschafft, Dollar und DM übernehmen die eigentlichen Geldfunktionen. So verwandeln sich die Gesellschaften in Modernisierungsruinen unterschiedlichen Grades; eine Zeitlang noch mit Geisterindustrien, in denen faktisch keine Löhne mehr gezahlt werden. Die Infrastruktur verlottert, Wasser und Strom fließen nur noch sporadisch, es kommt keine Müllabfuhr mehr und in vielen Regionen verschwindet auch die Post. Der Staat zieht sich zurück und die Reste seiner Wirtschaftspolitik werden mehr oder weniger vom IWF bestimmt.

Nachdem der allgemeine Ruin vollstreckt ist, darf um ein paar Investitionen für Schraubenzieherfabriken der transnationalen Konzerne gebuhlt werden. Die Perspektive einer nachholenden nationalökonomischen Entwicklung ist vollständig zerstört.

Weil dieses Schicksal in den achtziger Jahren neben den ärmsten Ländern der Dritten Welt vor allem die staatskapitalistischen Industriegesellschaften traf, darunter auch Jugoslawien, wurde die Weltkrise der dritten industriellen Revolution ideologisch verzerrt interpretiert: nämlich ausgerechnet als Beweis für die Überlegenheit der freien Konkurrenz und des nunmehr überall einzuführenden Privatkapitalismus westlicher Prägung.

Inzwischen steht fest, daß die liebevoll ausgemalten marktwirtschaftlichen Reformen nach westlicher Anleitung in Rußland und ganz Osteuropa an die Wand gefahren sind. Gerade Jugoslawien war ein früher Modellfall für das klägliche Scheitern dieser sogenannten Transformation. Spätestens der Kollaps der asiatischen Tigerländer und anderer kapitalistischer Musterschüler in den "emerging markets" hätte deutlich machen müssen, daß es längst nicht mehr um einen Wettstreit zwischen staats- und privatkapitalistischen "Modellen" geht, sondern um eine viel allgemeinere Krise des globalen Produktions-, Kredit- und Währungssystems.

Demokratische Gesellschaftsphysik

Wenn die negative Realität des globalen Krisenkapitalismus systematisch verdrängt wird, so hat das den einfachen Grund, daß es für die Bewältigung der massenhaften "Überflüssigkeit" von Menschen keinerlei demokratisches Instrumentarium geben kann. Denn die Demokratie ist nichts anderes als die politische Form eines objektivierten fundamentalistischen Terrorsystems, das die Produktivkräfte allein für den abstrakten Selbstzweck der Verwertung des Werts entwickelt, niemals für mehr Muße und gutes Leben der Gesellschaftsmitglieder.

Das bedeutet, daß die gesellschaftliche Reproduktion nicht durch bewußte gemeinsame Entscheidung der Gesellschaftsmitglieder gesteuert wird, sondern durch die blinden Pseudo-Naturgesetze einer Gesellschaftsphysik von anonymen Märkten. Die demokratische Prozedur ist den Wirkungen dieser absurden "Weltmaschine" nicht vor-, sondern nachgeschaltet. Alle Entscheidungen demokratischer Institutionen stellen somit keine autonome Verfügung über den sinnvollen Einsatz der Ressourcen dar, sondern sind immer schon präformiert durch den kapitalistischen Selbstzweck, der als solcher nicht verhandelbar ist (in der politischen Theorie firmiert die vorausgesetzte stumme Fetischgesetzlichkeit seit Rousseau als abstraktes "Gemeinwohl").

Demokratisch verhandelt werden immer nur Scheinalternativen, die von den gesellschaftsphysikalischen "Naturprozessen" gesetzt sind. Einerseits ist in diesem System "Arbeit" immer schon Zwangsarbeit, weil es keine freie Entscheidung der Produzenten über das Zweck-Mittel-Verhältnis ihrer Tätigkeit gibt. Andererseits wird diese fremdbestimmte "Arbeit" zum ersten Lebenszweck, für die alle auch noch dankbar sein müssen, weil es keinen anderen Zugang zu den Ressourcen gibt. Das heißt gleichzeitig, daß Produktion und Verteilung selbst der lebensnotwendigsten Güter Restriktionen unterworfen sind, die weder von den Bedürfnissen noch von den technologischen Möglichkeiten bestimmt werden.

Es gibt kein Butterbrot umsonst; ganz unabhängig von den Potenzen der Produktivität. Eher werden die Butterbrote als unverwertbarer Müll entsorgt, wenn sich herausstellt, daß sie sich mangels Arbeitssubstanz nicht in Geld zurückverwandeln lassen. Die Produktivkräfte müssen gebannt bleiben in das System der abstrakten Selbstzweck-"Arbeit" und werden doch durch die Zwangsvermittlung der Konkurrenz darüber hinausgetrieben. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen; aber gleichzeitig wird die "Arbeit" überflüssig gemacht.

Die Demokratie kann in dieser Gesellschaftskatastrophe nichts als objektivierten Zynismus bieten. Wer herausfällt, hat das hinzunehmen und sich weiterhin an die Spielregeln zu halten. Die marktwirtschaftliche Verelendung soll gut postmodern als "Pluralität der Lebensentwürfe" und als eine Art "Differenz"-Folklore wahrgenommen werden. Leuten, die ihre Miete nicht mehr zahlen können und denen der Standort-Staat zwangsweise das Brot vom Mund wegspart, werden feierlich auf den "zivilen Umgang mit Dissens" vergattert. Sie sollen womöglich noch in bürgernahen Strukturen der Armutsbürokratie darüber mitdiskutieren und mitentscheiden, wie ihr eigenes Elend am kostengünstigsten verwaltet werden kann.

Daß den "Überflüssigen" de facto das Lebensrecht abgesprochen ist, erscheint als Triumph rechtsstaatlicher Verfahrensregeln der liberalen Demokratie; daß ihnen lächerliche Abfallbrocken eines von der kapitalistischen Weltmaschine strangulierten Reichtums hingeworfen werden, als ethischer Standard der "sozialen Marktwirtschaft". Es ist einleuchtend, daß diese demokratische Interpretation der Welt nicht mehr durchhaltbar ist, wenn die "Überflüssigkeit" eine bestimmte kritische Masse überschreitet. Das gilt auch im großen Maßstab der ideologisch beschworenen "weltdemokratischen" Ordnung mit ihren ungleichzeitigen Krisenverhältnissen.

Die Verwilderung der Konkurrenz

Das Fehlen jeglicher Alternative, die weitgehende intellektuelle Verweigerung einer Diskussion darüber und die allgemeine Befangenheit in den Kategorien des warenproduzierenden Systems bis in die Psyche hinein können nur noch in eine ausweglose Situation führen. Dabei zeigt die kollabierende unentwickelte Peripherie, in Umkehrung der Perspektive von Marx für das 19. Jahrhundert, den entwickelten kapitalistischen Zentren ihre Zukunft. Das Muster ist überall dasselbe. Die staatskapitalistische Variante ist bankrott, die privatkapitalistisch reformierte kommt schon auf den ersten Metern zum Stehen, das warenproduzierende System als solches hört auf zu funktionieren - aber die Menschen bleiben auf die sozialökonomische Subjektform dieses Systems festgenagelt.

Es entsteht das Paradox von Geldsubjekten ohne Geld, von Konkurrenzsubjekten ohne Konkurrenzfähigkeit. Wenn die Konkurrenz keine ökonomische Substanz mehr hat, kann sie nur noch verwildern: Hinter dem Verträge schließenden bürgerlichen Rechtssubjekt kommt wieder die ursprüngliche kapitalistische Gewaltfratze hervor, um die Konkurrenz mit anderen Mitteln fortzusetzen; jetzt freilich nicht mehr die konstituierende Gewalt der bürgerlichen Aufstiegsgeschichte gegen die Produzenten, sondern die dekonstituierende wechselseitige Gewalt des kapitalistisch domestizierten Menschenmaterials in einer Zerfalls- und Abstiegsgeschichte.

Diese gewaltsame Fortsetzung der Konkurrenz findet unter den Bedingungen eines rapide zunehmenden Mangels und einer auch materiellen Entzivilisierung statt. Auffällig ist zum Beispiel der desolate Gesundheitszustand - erkennbar am Zustand der Zähne - der Akteure bis hinauf zu den mittleren Führungskadern. Das Gesundheitswesen bricht als einer der ersten Sektoren zusammen. Es geht ums elementare Überleben. Aus den Geisterfabriken sickern nur noch sporadisch Löhne in der nahezu wertlosen Landeswährung oder in weiterzuverscherbelnden Naturalien der rettungslos unrentablen Produktion (vom Kugellager bis zum Büstenhalter), die zusammen mit den Notverkäufen von Gebrauchsgütern aus besseren Zeiten einen Elendsmarkt hervorbringen.

Familien gehen zur Subsistenzwirtschaft über, Rentnerehepaare ernähren sich aus Schrebergärten, und nicht nur die jugoslawische Armee züchtet seit langem in der Umgebung ihrer Kasernen Schweine und baut Kartoffeln an. Begehrt sind auch die Naturalgüter westlicher Hilfsorganisationen. "Richtiges" Geld kommt auf der Mikro-Ebene nur noch durch die Überweisungen von Verwandten und Freunden, die im westlichen Ausland arbeiten; auf der Makro-Ebene sind es Hilfskredite von IWF und Weltbank. Um die wenigen Arbeitsplätze der transnationalen Lohnfertigung gibt es einen Kampf bis aufs Messer.

Die ganze Situation reizt zu Raub auf allen Ebenen und wechselseitigem Terror. Unter den ehemaligen Funktionseliten bricht eine Überlebenskonkurrenz aus, deren Inhalt die Ausschlachtung der Modernisierungs-Wracks ist und die mit Mafiamitteln einschließlich Mord oder sogar regelrechten Feldzügen ausgetragen wird. Schon im libanesischen Bürgerkrieg der achtziger Jahre waren Artillerieduelle zwischen Innenministerium und Verteidigungsministerium nichts Ungewöhnliches.

Es geht um die Kontrolle über die Restbestände der Geisterindustrien inklusive einzelner Joint ventures mit westlichen Investoren, über die internationalen Hilfskredite, über die kriminellen Wachstumssektoren (Prostitution und Menschenhandel, Drogengeschäft, Waffenschmuggel) und über die Restmasse kapitalistischer Reproduktionsfähigkeit (z.B. Tourismus). Derselbe Prozeß spielt sich an der sozialen Basis der Gesellschaftspyramide ab. Massenhafte Kleinkriminalität vorwiegend männlicher Jugendlicher und Bandenbildung sind an der Tagesordnung.

Zwangsläufig muß die Verwilderung der Konkurrenz mit ideologischen Mustern besetzt werden. Diese können, ja dürfen nicht mehr die Kohärenz der kapitalistischen Konstitutions- und Aufstiegsgeschichte besitzen. Nicht historische Begründung, sondern unmittelbare Scheinlegitimation ist das Ziel, um für den Überlebenskampf die Identität eines "Wir" gegen "die anderen" herzustellen. Die soziale Demoralisierung und Entsolidarisierung nach dem Pyrrhussieg des westlichen Kapitalismus schließt die Möglichkeit weitgehend aus, für die ideologische Definition der Krisenkonkurrenz soziale Gegensätze von Arm und Reich zu mobilisieren.

Statt dessen werden nationale, "ethnische" und religiöse Differenzlinien gezogen. Die Träger der entsprechenden Fundamentalismen haben aber nichts Archaisches an sich; es sind Leute mit Reebok- und Adidas-Turnschuhen an den Füßen, die Hiphop hören und Dollars wollen.

Nirgendwo geht es dabei mehr um eine traditionelle Ablenkung des Konflikts nach außen. Die beiden Golfkriege des Irak waren vielleicht der letzte Versuch dieser Art, der sich inzwischen in einen schleichenden inneren Zerfall verwandelt hat. Expansionsgelüste und entsprechende Feinddefinitionen machen im globalisierten Krisenkapitalismus der dritten industriellen Revolution keinen Sinn mehr. Es handelt sich um gesellschaftliche Implosionen, in denen die gewaltsame Verdrängungskonkurrenz nach innen gerichtet wird.

Dabei ist es ziemlich egal, ob dieser binnengesellschaftliche Überlebenskonflikt die Form des Separatismus, des nationalistischen Antiseparatismus oder der Vertreibung ganzer Bevölkerungsteile annimmt. Stets geht es darum, die jeweils andere religiöse oder ethnische Gruppe als zu jagenden Feind und als Freiwild zu definieren. Das ist in Jugoslawien nicht anders als in Indonesien am anderen Ende der Welt, wo sich auf Borneo die Dajaks alter Vätersitten erinnern und mit den aufgespießten Köpfen ihrer Nachbarn Autokorsos veranstalten, wo überall die chinesische Minderheit gehetzt wird, auf den Molukken Christen und Moslems sich gegenseitig die Häuser anzünden und in Osttimor separatistische gegen antiseparatistische Milizen kämpfen. In ganz Südosteuropa unter Einschluß der Türkei kann diese auch sonst zu beobachtende Ethnisierung und "Theologisierung" der Überlebenskonkurrenz auf der verbrannnten Erde des Kapitalismus ältere Muster der nationalstaatlichen Gründungsgeschichte wiederaufnehmen.

Ursprünglich kam die ethno-kulturelle Legitimierung der sogenannten Nation aus Deutschland, wo im Unterschied zu England und Frankreich der Nationalstaat als Apparat und territorialer Bezugsraum der warenproduzierenden Nationalökonomie nicht vorausging und die Nation daher gewissermaßen als ideelles Konstrukt erfunden werden mußte. Diese von Herder und Fichte begründete "deutsche Ideologie" einer "völkischen" Homogenität wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts bluts- und rassentheoretisch aufgeladen, um die Staatsbürgerlichkeit schließlich als irrationale biologisch-kulturelle "Abstammungsgemeinschaft" zu definieren.

Die nationalistischen Modernisierungs-Intellektuellen auf dem Balkan und im Osmanischen Reich übernahmen bei einer strukturell ähnlichen Ausgangslage (mangelnde Vorgängigkeit des Nationalstaats) diese deutsche Definition, was die gesamte Region angesichts ihrer sprachlichen, religiösen und kulturellen Inhomogenität in ein Pulverfaß verwandelte.

Bevölkerungsgruppen, die schon jahrhundertelang einigermaßen friedlich zusammengelebt hatten, machten sich nun unter verschiedenen Nationalflaggen das gemeinsame Territorium streitig. Kemal Atatürk, allenthalben gelobt als großer "Modernisierer", ließ unter schauerlichen Gemetzeln armenische und griechische Bevölkerungsteile aus dem frisch gegründeten türkischen Nationalstaat vertreiben. Ebenso brutal umkämpft waren die albanischen, serbischen und kroatischen Nationalgebilde, ohne daß jemals Sprachräume, Siedlungsräume und Nationalstaaten zur Deckung gebracht werden konnten.

Schien diese unselige, aus Deutschland importierte Ideologie in der Nachkriegszeit mit ihren diversen Entwicklungshoffnungen allmählich zu verblassen und auf dem Balkan in Titos Gesamtjugoslawien einem integrativen Verständnis Platz zu machen (die sogenannten Nationalitäten heirateten sogar untereinander), so brach der völkische Wahn unter dem Eindruck des ökonomischen Zusammenbruchs in den achtziger Jahren abermals los; diesmal freilich nicht als Gründungsfieber einer terroristischen nachholenden Modernisierung, sondern als Todeskampf zusammenbrechender, von den Kriterien des Weltmarkts ruinierter warenproduzierender Gesellschaften.

Es sind nur die beiden Seiten derselben Medaille, wenn einerseits die völkische Staatsräson der türkischen Nomenklatura ihre letzten Reserven damit verpulvert, die Kurden Ostanatoliens als "Bergtürken" zu definieren, sie wie Vieh zu behandeln, zu massakrieren, zu vertreiben usw. und andererseits die separatistische kurdische PKK unter sinnlosen Blutopfern einen gar nicht lebensfähigen Pseudo-Nationalstaat anstrebt. Solche Konflikte sind historisch ziellos geworden. Dasselbe gilt für das wechselseitig ethno-nationalistisch vergiftete Verhältnis der paramilitärisch bewaffneten Serben und der Kosovo-Albaner mit ihrer Mafia-Armee UCK.

Die Ausweglosigkeit der ökonomisch substanzlos gewordenen Konkurrenz führt in einen uferlosen Wahnsinn, der sogar die irrationale kapitalistische Rationalität der abstrakten Selbstbehauptung gegen "die anderen" hinter sich läßt. Wenn Milosevic sein persönliches Schicksal von der Beschwörung einer Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389 abhängig macht, dann ist das natürlich jenseits von Gut und Böse.

Trotzdem birgt der selbstzerstörerisch revitalisierte völkische Wahn eben jenes binnenrationale Moment der Krisenkonkurrenz. Denn die verwilderten ehemaligen Funktionseliten tragen auf diese Weise teils den Kampf um die Verwertung der Restmasse aus, teils schaffen sie so eine Verlaufsform für die Schübe des sozialökonomischen Zusammenbruchs, die identitär formuliert werden kann.

Für die Banden, Milizen und natürlich gleichfalls verwilderten "Sicherheitsapparate" von Polizei und Militär dient das ethno-religiöse Feindbild als ziemlich durchsichtiger Vorwand für schlichte Plünderungsinteressen. Wenn die jugoslawischen Militärs und Paramilitärs den vertriebenen Kosovo-Albanern systematisch Kopfkissen-Ersparnisse von Devisen, Autos, Haushaltsgeräte und sogar Nahrungsmittel abnehmen (in dieser Reihenfolge), dann spitzt sich damit nur eine Praxis zu, die bereits die gesamte kapitalistische Peripherie erfaßt hat.

Längst gilt in Rußland oder Brasilien die Devise, niemals die Polizei zu rufen, wenn man nicht anschließend im Hemd dastehen will. Wo immer sich die binnengesellschaftliche Überlebenskonkurrenz in ethno-religiösen Konflikten entlädt, wühlen die Aktivisten der Pogrome noch in den verkohlten Trümmern nach Raubgütern.

Ausgrenzungs- und Sicherheitsimperialismus

Der westliche Kapitalismus weigert sich natürlich auf der ganzen Linie, das globale Scheitern seines Gesellschaftssystems anzuerkennen. Ethno-Kriege, Bandenherrschaft und Mafia-Diktaturen werden unter grotesker Verdrehung der Tatsachen als Ursache für die lodernden sozialökonomischen Krisen ausgegeben, statt umgekehrt diese destruktiven Phänomene als unvermeidliche Wirkung eines nicht mehr reproduktionsfähigen Kapitalverhältnisses zu begreifen.

Diese absolut lernunfähige Ignoranz kann bei jedem neuen Zusammenbruch immer nur die stereotype Forderung nach abermals "mehr Marktwirtschaft" wiederholen. So werden weiterhin Luftschlösser für eine völlig illusorische marktwirtschaftlich-goldene Zukunft gebaut und der deutsche Ober-Irrealo Joseph Fischer schwadroniert von einem "Marshall-Plan" für die Balkan-Länder, um ein späteres "Wirtschaftswunder" (vielleicht in 100 Jahren) zu suggerieren, wenn nur erst einmal der böse Ungeist samt den Resten der jugoslawischen Infrastruktur aus der Welt gebombt sei.

Inzwischen weiß jedes Kind von Belgrad bis Djakarta, daß diese Verheißungen nicht mehr ernstzunehmen sind. De facto läuft die marktwirtschaftliche Zukunft darauf hinaus, daß der westliche demokratische Krisenkapitalismus dieselbe bodenlose Frechheit, die er gegenüber seinen eigenen "Überflüssigen" an den Tag legt, auch im Umgang mit ganzen Ländern und Weltregionen fortsetzt, die aus der marktwirtschaftlichen Reproduktionsfähigkeit herausfallen.

Samt ihren degradierten Funktionseliten sollen sie sich ebenfalls schiedlich-friedlich in ihr nun einmal unvermeidliches Marktschicksal fügen, eifrig nach noch so kleinen globalen Marktlücken schnüffeln, um den Zufluß von ein paar Tropfen transnationalen Simulationskapitals betteln und ihre ruinierten Ökonomien vollends "öffnen" für das segensreiche Wirken der "unsichtbaren Hand", die schwärzer ist als alle Tschetniks dieser Welt es jemals sein könnten.

Dummerweise äußert sich aber nun einmal das Credo der freien Konkurrenz in den Zusammenbruchsregionen ganz und gar nicht als "fröhlicher Dissens" in zivilen Umgangsformen. Es entsteht also ein globales "Sicherheitsproblem", das den weltweiten "Friedenseinsatz" herausfordert. Die Kriege dieses neuen Sicherheitsimperialismus werden aber nicht mehr um die Aneignung von Territorien geführt. In einem globalisierten, betriebswirtschaftlich durchschnittenen ökonomischen Raum ist ein expansionspolitischer Kampf um äußere Territorien nicht nur für die Zusammenbruchsstaaten, sondern auch für den westlichen Kapitalismus selber sinnlos geworden.

Die national zentrierten territorialen Imperien und "Einflußzonen" haben ausgedient, auch wenn diverse Abteilungsleiter in Staatskanzleien und auswärtigen Ämtern, konservative "Geopolitiker" und ein gewisses linksradikales Veteranentum noch immer gewohnheitsmäßig über den strategischen Blaupausen eines vergangenen Zeitalters brüten. Statt dessen geht es darum, die kapitalistisch noch reproduktionsfähigen Segmente, die wie ein Ausschlag über die Welt verteilt sind, gegen störende unkontrollierte Gewaltausbrüche der Herausgefallenen und ihrer Überlebenskonkurrenz zu sichern. Die Fertigungs- und Dienstleistungsinseln für den Weltmarkt sollen unbehelligt von "Neid" und womöglich mangelnder "Zivilität" der ringsherum brandenden ozeanischen Armutspopulationen weiterwursteln dürfen, bis auch sie "überflüssig" gemacht worden sind.

Dieser Sicherheitsimperialismus ist gleichzeitig ein Ausgrenzungsimperialismus im Namen der "Festung Europa" und der "Festung Nordamerika". Nicht Eroberung und Eingemeindung wird angestrebt, um sich bestimmte Ressourcen (schon gar nicht menschliche) unter den Nagel zu reißen. Im Gegenteil bezieht sich die strategische Orientierung darauf, dem System die als bedrohlich erlebte ungeheure Massierung der "Überflüssigen" in der Peripherie vom Leib zu halten. Die von der universellen Marktwirtschaft selbst erzeugten Katastrophen sollen möglichst draußenbleiben.

Von diesem Standpunkt aus müssen die Flüchtlingsströme vor den westlichen Grenzen gestoppt und die Zusammenbruchsregionen auf Elendsniveau "befriedet" werden. Das implizite Ziel kann nur eine weltregional gestaffelte Ausgrenzungshierarchie sein, die von einigen wenigen an Nato und EU assoziierten Ländern (etwa vom Typus Ungarn) über einen Gürtel von Satrapen- und Operettenstaaten (etwa vom Typus Kroatien) bis zu völlig unselbständigen, von internationalen Organisationen oder Bandenkriegern "verwalteten" Protektoraten und "Homelands" (etwa vom Typus Kosovo) reichen und die gleichzeitig eine Verelendungshierarchie bilden.

War die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Blöcken der USA und der EU seit 1945 vom gemeinsamen Interesse der Systemkonkurrenz gegen den östlichen staatskapitalistischen Block überlagert, so konstituiert nach dem Ende des kalten Kriegs die Logik des globalen Ausgrenzungs- und Sicherheitsimperialismus ein neues gemeinsames Meta-Interesse, dessen Motor die verleugnete Krise des warenproduzierenden Weltsystems ist.

Die innerkapitalistische Konkurrenz wirkt zwar weiterhin, unter der Herrschaft des transnationalen Fondskapitals vor allem auf der währungs- und geldpolitischen Ebene. Aber darüber schiebt sich, vermittelt durch die objektivierte Logik der Globalisierung, eine gesamtkapitalistische Geopolitik. Die Nato verwandelt sich aus einem Instrument des kalten Kriegs einer bipolaren Welt in die gemeinsame westliche Weltpolizei einer unipolaren Welt; natürlich unter Führung der letzten Weltmacht USA, ohne deren Militärpotential gar nichts mehr geht.

Das Ende der Souveränität

Der Sicherheits- und Ausgrenzungsimperialismus kann nur funktionieren, wenn die Weltpolizei Nato in der Manier eines nicht vorhandenen Weltstaats eine Art globales Gewaltmonopol beansprucht. Das bedeutet, daß im Prinzip die Militärapparate aller Staaten, die nicht in die Nato integriert werden können oder wollen, zwangsabgerüstet werden müssen.

Das Vorgehen gegen den Irak und Rest-Jugoslawien hat insofern exemplarischen Charakter. Diese Logik ist allerdings völlig unvereinbar mit den überkommenen kapitalistischen Kategorien von nationalstaatlicher "Souveränität" und "territorialer Integrität". Der Golfkrieg konnte noch formal mit dem "Völkerrecht" begründet, also auch offiziell unter Ägide der Uno geführt werden. Ein weiterer Beweis dafür, daß das ein Konflikt an der Grenze der alten Weltordnung war. Der Angriff auf Rest-Jugoslawien dagegen stellt bereits den offenen Bruch von "Völkerrecht" und Uno-Charta dar.

Mit dem Terminus der "Schurkenstaaten" wurde ein negativer völkerrechtlicher Begriff geschaffen, der ein nicht mehr kodifiziertes Interventionsrecht der westlichen Weltpolizei impliziert. Damit ist auch die Uno obsolet geworden, die ja aus der Gesamtheit der "souveränen" warenproduzierenden Nationalstaaten bestehen soll. Die Fiktion einer Konsensbildung über den Weltsicherheitsrat wird unter den neuen globalen Krisenbedingungen aufgegeben. Der Kapitalismus kann seine eigene internationale Rechtsordnung nicht mehr anerkennen.

Das ist die immanente Logik, die unabhängig von Absichtserklärungen und politischen Autosuggestionen letztendlich die westliche Weltpolitik strukturiert, was die neue Nato-Doktrin allerdings auch in kaum noch diplomatisch verbrämter Weise sagt. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, ob sich diese Politik wirklich durchsetzen läßt. Der gigantische Aufwand, der nötig wäre, um den fortschreitenden globalen Krisenprozeß militärisch unter Kontrolle zu halten, ist auch für die westliche Allianz ökonomisch nicht mehr darstellbar.

Schon die bisherigen weltpolizeilichen Ergebnisse lassen zu wünschen übrig. Das ohnehin weitgehend abgeschriebene Afrika kann man vielleicht still vor sich hin massakrieren lassen. Aber was ist mit dem Alptraum Rußland samt seinen riesigen atomaren und anderen Waffenarsenalen, da die Geldwirtschaft völlig zusammengebrochen ist? Und was ist mit den asiatischen Atom- und Raketenmächten China, Indien und Pakistan, die ebenfalls längst auf der Agenda der globalen Krisendynamik stehen? Was sich dort überall anbahnt, wird Milosevic als kleinen Fisch erscheinen lassen.

Gleichzeitig verfällt auch die "Souveränität" der westlichen Staaten selbst. Sie sind nicht weniger als die Krisenstaaten der Peripherie von der verselbständigten Bewegung des transnationalen Fondskapitals abhängig. Der aberwitzige Versuch, das Leben von mehr als fünf Milliarden Menschen der Geisterakkumulation von fluiden Finanzwerten unterzuordnen, die elektronisch gesteuert um den Globus gejagt werden, treibt den Fetischismus des Kapitalverhältnisses auf die Spitze. Hier haben wir es nicht mehr mit eigenständigen strategischen Motiven der "Souveräne" gegen andere "Souveräne" zu tun, sondern mit einer blinden Treibjagd des "automatischen Subjekts" in seiner bis zur Absurdität entwirklichten Form.

Diese Entwirklichung der "Souveränität" reproduziert sich auch in der schleichenden Verselbständigung der westlichen supra-nationalen Institutionen und ihrer eher osmotischen Entscheidungsprozesse. Das gilt zunehmend auch für den Nato-Militärapparat und seinen High-Tech-Entwirklichungskrieg.

Weder zwingt ein übermächtiger US-Imperialismus etwa der BRD seine spezifischen Interessen auf, noch ziehen umgekehrt deutsche Außenminister den US-Koloß listig über den Tisch, um eine teutonische Geopolitik auf dem Balkan durchzusetzen. Vielmehr ist es der dumpfe Drang, die ausufernde Krise des warenproduzierenden Weltsystems weltpolizeilich einzudämmen, der (analog zu den Finanzmärkten) eine verselbständigte Eigendynamik gewinnt.

Dieselbe Entwirklichung der westlichen "Souveränität" setzt sich auch nach innen fort, denn die Krise kann natürlich nicht draußengehalten werden. Nicht nur Verarmungsschübe wachsender Bevölkerungsteile destabilisieren den Westen selbst. Individualisierte Totalkonkurrenz und Mobbing vom Kindergarten bis zum Regierungskabinett setzen ein Angst- und Haßpotential frei, das bereits die Konturen von ethnischen Bandenkriegen und Ausgrenzungsterror angenommen hat.

Das Schulmassaker von Littleton und die Ausländerhatz deutscher Jugendbanden sind erst der Anfang. Es zeichnet sich die Entwicklung ab, daß auch die westlichen Staaten Elemente der "Souveränität" an das Bandenwesen abgeben. In Deutschland revitalisiert sich dabei genau wie auf dem Balkan der nie überwundene völkische Wahn.

Damit lassen sich bereits Wahlen gewinnen, wie die Kampagne von CDU/ CSU für die Beibehaltung des rassistischen Abstammungsrechts gezeigt hat. Noch während die rot-grüne Regierung martialisch zum Kampfeinsatz gegen Serbien mobilisierte, knickte sie zu Hause vor den ersten Ansätzen der ethnischen Säuberung ein. Bei Krisenverhältnissen wie in Rest-Jugoslawien wird es auch hierzulande mit Sicherheit nicht bei Unterschriftenkampagnen und einzelnen Brandanschlägen bleiben.

Die neue Kreuzzugsmoral

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sich die "deutsche Ideologie" der völkischen Blutsnationalität zumindest teilweise durchaus für den gesamtwestlichen Ausgrenzungsimperialismus instrumentalisieren läßt, der keine universelle Freizügigkeit dulden kann. Dabei sind widerstreitende Optionen möglich, deren schlichte Logik lautet: Wer sich der Nato unterstellt, darf in aller Gemütsruhe massakrieren und vertreiben; wer sich nicht der Nato unterstellt, ist prinzipiell "Schurkenstaat", egal was er tut.

Im einen Fall soll die Überlebenskonkurrenz durch befreundeten ethnischen Staatsterror unter Kontrolle gehalten werden (Typus Türkei), im anderen durch die Abspaltung diverser "Homelands" vom "Schurkenstaat" (Typus Jugoslawien), deren Elendsinsassen sich dann für die stolzen "Bürger" eines ethnischen Vaterlands halten dürfen, wo sie einfach hingehören.

Nicht wegen seiner ethno-nationalistischen Orientierung schlechthin wurde Milosevic zur Unperson, sondern weil er den EU- und Nato-Vorstellungen in die Quere kam, sich durch die gleichfalls ethno-nationalistisch legitimierten Sezessionen Sloweniens und Kroatiens ein halbwegs politisch-ökonomisch angebundenes Vorfeld in dieser Krisenregion zu schaffen und den weniger entwickelten Rest seinem Schicksal zu überlassen.

Natürlich hätte man nach Vollzug das Milosevic-Regime nach Herzenslust Bosnier und Albaner in den abgeschriebenen Regionen abschlachten lassen können. Aber da die Unperson nun schon einmal aufgebaut war, konnte sie (ähnlich wie Saddam Hussein) dazu dienen, ein dringendes westliches Bedürfnis nach zwei, drei, vielen "Hitler"-Figuren zu befriedigen. Denn das medial inszenierte Feindbild eines dämonisierten Großschurken wird benötigt, um den Sicherheits- und Ausgrenzungsimperialismus als Kampf fürs Menschenrecht und die weltpolizeilichen Interventionen als selbstlose "humanitäre Einsätze" zu legitimieren.

Je auswegloser die Krisenkonstellationen und je irrationaler die westlichen Interessen selber werden, desto mehr muß der Kampf mit dem selbstproduzierten Chaos den Charakter eines Kreuzzugs annehmen. Gerade weil die "humanitären Katastrophen" nicht mit der globalen Krise des warenproduzierenden Systems erklärt werden dürfen, können sie nur als Ausbruch eines atavistischen Bösen erscheinen, das manichäisch zu veräußerlichen und zu verdammen ist. Dafür sind Clinton-Demokraten, New Labour und Rot-Grün als gelernte Virtuosen der Betroffenheitsmoral weitaus besser geeignet als Konservative oder Liberale.

Keineswegs zufällig beginnen die affirmativen Zwangsoptimisten der "Zivilgesellschaft", der "offenen Gesellschaft", der "zweiten Moderne" usw. selber in fundamentalistischen Kategorien zu denken, weil ihre Rechnung unbegreiflicherweise nicht aufgeht.

Wenn Politik durch Moral (nicht zu verwechseln mit Solidarität und Mitgefühl) ersetzt wird, ist das Ende der Politik nicht mehr weit. Es ist mit Händen zu greifen, daß die weltgesellschaftliche Entwicklung aus der politischen Beherrschbarkeit durch die demokratischen Institutionen herausfällt. Das linksdemokratische Gegacker von der "politischen Gestaltung" blamiert sich an der Macht, die trotz lasergesteuerter High-Tech-Bomben schon keine mehr ist.