Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Ein sonniger Sommertag. Ich hänge in meinem liegestuhlähnlichen Ruhesessel und verdaue ein spätes Mittagessen. Wegen der Wärme sind alle Fenster sperrangelweit offen. Das kollektive Stöhnen, Seufzen, Jubeln schallt über den Hof. Fußball-WM. Soll mir recht sein. Das Gekicke ist mir ziemlich schnurz. Macho-Gehabe, sagt die angehende Feministin in mir (Junglesben, die bei Meisterschaften vorm Fernseher kleben, und Frauenfußball waren damals noch weitgehend unbekannt). Auch ist mir das sich am Fußball langsam, aber sicher wieder aufrichtende (westdeutsche) Nationalgefühl eher peinlich. Und ein bißchen unheimlich.

Heute ist "Deutschland", die Bundesrepublik, "Wir" gegen die DDR. Soviel weiß ich immerhin, denn politisch ist das ja irgendwie pikant, der kapitalistische DM-Riese gegen den kleinen, grauen sozialistischen Zwerg, der immer so gerne mit "uns" konkurrieren möchte. In meinem Sessel genieße ich das Gefühl, da zu sein und doch nicht da zu sein. Sollen sich doch die Prolos und Spießer in Dresden oder in Köln an dem Gerenne gutbetuchter junger Männer delektieren. Plötzlich eine Art kollektives Aufstöhnen, dann Stille, lastende, greifbare Stille ringsum.

Irgendwas Bedeutsames muß passiert sein. Ich mache das Radio an: Unwahrscheinliches ist eingetreten. Die kleine, graue DDR hat die große, starke BRD besiegt. Das gefällt mir: Der bundesdeutsche Spießer und sein an Fußball und DM orientiertes "Wir sind wieder wer"-Gefühl haben einen netten kleinen Dämpfer verpaßt bekommen. Für einen Augenblick scheint die Normalität in Frage gestellt zu sein. Das kann einer unangepaßten Feministin nur recht sein. Soweit meine Erinnerung. Was die Gefühle anbelangt, trügt sie nicht. Aber die Fakten?

Am 22. Juni 1974, als Jürgen Sparwasser für einen Moment das kapitalistische System ein- und überholte, kann ich gar nicht zu Hause in meinem Sessel gelegen haben. Laut Auskunft eines alten Kalenders und nach einem Blick in alte Aktenordner war ich damals nicht in Köln, sondern viele Kilometer weiter östlich, fast schon im Zonenrandgebiet, nämlich im niedersächsischen Loccum, wo die dortige Evangelische Akademie ein interessantes Experiment startete: Vertreterinnen der "neuen", jungen, bunten, schrägen, feministischen zweiten Frauenbewegung, also meine Freundinnen und ich, wurden auf die Überreste der "alten" Frauenbewegung losgelassen, auf Vertreterinnen des Akademikerinnenbundes und des Deutschen Staatsbürgerinnen-Verbandes.

Alice Schwarzer brachte es mit einer Mischung aus Charme und Schock zustande, daß ihr alle heftig applaudierten, nicht nur unser Grüppchen der aus Köln angereisten Aktion 218, auch die gediegenen bürgerlichen Damen der traditionellen, an sklerotischer Auszehrung leidenden Verbände waren hingerissen. Feministinnen, alles ein Haufen hysterischer, frigider, lesbischer Weiber?

"Ja", sagt Alice, "das sind wir: alle hysterisch, lesbisch und frigide. Und dazu haben wir auch allen Grund." Frenetischer Applaus aller anwesenden Frauen von 18 bis 80. Wir hatten ein neues Gefühl entdeckt: "Wir Frauen". Jenseits von DM-Nationalismus, Block-Denken oder Fußballhysterie.

Und was war an jenem Tag, an dem ich faul im Sessel lag, Datum nicht rekonstruierbar? Irgendwer muß den hochbezahlten Kickern in den preußischen Farben schwarz-weiß eins auf die Mütze gegeben haben.