Black Maria Rave

Der Ruf der katholischen Kirche ist auch in Polen leicht beschädigt, doch der Zulauf zur Nationalwallfahrt von Czestochowa steigt.

Czestochowa, Samstagnacht, 23 Uhr: In der Hauptstadt des polnischen Katholizismus schläft noch keiner. Youngsters in Fishbone-Sweatern und Prodigy-T-Shirts, in tiefhängenden HipHop-Hosen und Markenturnschuhen, mit Ghettoblastern und Ziegenbärtchen bevölkern in dieser lauen Nacht die kilometerlange Aleja Najswietszej Marii Panny, die Allee der Allerheiligsten Jungfrau Maria, die hier alle nur Aleja NMP nennen. Sie drängen sich in den Kneipen und den paar improvisierten Techno-Clubs, sie stehen Schlange an den Eisständen, bei McDonald's, bei Burger King und Pizza Hut. Sie knutschen auf den Bänken entlang der Hauptstraße und kiffen im Park.

Düster erhebt sich über ihnen die mächtige befestigte Klosteranlage der Jasna G-ra, des "Hellen Berges". Von Paulinermönchen im 14. Jahrhundert gegründet, von Räubern verwüstet, Angriffen der Schweden, der Russen und der Österreicher getrotzt, über die Jahrhunderte zu unermeßlichem Ruhm gekommen durch das Gnadenbild der Muttergottes, das Erzherzog Wladislaw Opolczyk den Mönchen im Jahr des Herrn 1383 vermachte. Der Volksglaube will, daß das Bild von Lukas dem Evangelisten nach dem Vorbild Mariens auf eine Tischplatte in Bethlehem gemalt wurde; tatsächlich handelt es sich wahrscheinlich um eine byzantinische Ikone aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends, mehrfach zerstört, geflickt, übermalt, restauriert, durch chemische Veränderungen der Wachsfarben nachgedunkelt, bis schließlich die geheimnisvolle "Schwarze Madonna" mit den charakteristischen Schmissen auf der rechten Backe entstanden war: ein Gesamtkunstwerk aus 13 Jahrhunderten.

Die Gottesmutter ist reich: Sie besitzt sieben kostbare Gewänder, besetzt mit Opfergaben der Pilger: mit Diamanten und Korallen, mit Eheringen, Gold und Rubinen. Wie bei einer Anziehpuppe werden die Gewänder, je nach Anlaß, mit Klammern an der alten Ikone befestigt. Mittags und nachts wird Maria mit einem silbernen Vorhang verhüllt. Zwei Kronen, auch sie aus purem Gold und mit Juwelen besetzt, bezeugen, daß die Maria von der Jasna G-ra seit 1656 ganz offiziell die Königin Polens ist.

Und sie war - Zehntausende von

Votivgaben an den Wänden der Gnadenkapelle bezeugen es - immer da für ihre Polen. Ob das Vaterland in Not war oder nur etwas Ablaß vonnöten, ob Hunger, Pest oder Beinbruch, ob Krieg, Drogensucht oder Kommunismus: Nie blieb ein Gebet zur Heiligen Jungfrau - wenn es denn mit Inbrunst gesprochen ward - unerhört; kaum je eine Wallfahrt ohne Folge. Mögen andere Marien ruhig blutige Tränen weinen. Die Schwarze Madonna von der Jasna G-ra hat das nicht nötig. 4 bis 5 Millionen Polen pilgern jedes Jahr nach Czestochowa, dazu, sagen die Kirchenleute, auch immer mehr Nichtpolen.

Und so sind sie auch an diesem Wochenende wieder zu Hunderttausenden auf den Hellen Berg gekommen - eine halbe Million? Die freundlichen Nonnen von der Informationsstelle sagen es, und wer die Menschenmassen erlebt, hat keine Schwierigkeiten, es ihnen zu glauben. Morgen jährt sich jener Tag, an dem die Gottesmutter zum Himmel fuhr, in voller Bekleidung, wie das Zweite Vatikanische Konzil verkündete. Wer an diesem Tag nach Czestochowa geht, der darf sich der besonderen Gnade Mariens erfreuen. Denn in der Sprache der Theologen ist der 15. August, das Fest Mariä Himmelfahrt, einer der jährlich drei Hauptablaßtage. Zwischen 300 000 und 500 000 Menschen kommen zu diesem Anlaß jedes Jahr auf die Jasna G-ra. Dieses Jahr sollen es mehr sein als je zuvor.

Sie sind aus ganz Polen nach Czestochowa gereist: Aus Gdansk und Swinoujscie an der Ostsee, aus Szczecin an der deutschen und Bialystok an der belorussischen Grenze, zu vielen Tausenden aus dem nahen oberschlesischen Bergbaurevier und aus der Hauptstadt Warschau, aus Chicago, Illinois, der zweitgrößten polnischen Stadt, und aus den Tausenden kleiner Dörfer, in denen der Katholizismus mit Hilfe der Muttergottes den Realsozialismus überdauert hat. 95 Prozent der Polen sind katholisch; jeder sechste von ihnen unternimmt jedes Jahr eine Pilgerfahrt. Sie sind mit der Bahn gekommen, mit Bussen und auf den Ladeflächen von Lkw, die mit ein paar Bierbänken in provisorische Pilgertransporter umgewandelt wurden. Zwanzig- bis dreißigtausend von ihnen werden auch heuer wieder zu Fuß gekommen sein, in Tagesmärschen von rund 35 Kilometern auf einem Netz von mehr als 50 Pilgerwegen, die ganz Polen wie ein Spinnennetz überspannen.

Die Nacht verbringen sie - wenn nicht zusammen mit einigen Tausend anderen im Gebet in der Basilika - in einer der riesigen Pilgerunterkünfte. Ein paar Hundert Leute schlafen in der Sala Papieska auf Pritschen, dicht an dicht, in voller Kleidung. Es riecht nach Landluft. Über ihnen wacht, fünf Meter hoch und zehn Meter breit, das Porträt Johannes Pauls II., des polnischen Papstes. Machen Sie nie den Fehler, einen Polen für so links zu halten, daß sie meinen, ihm gegenüber Karol Wojtyla kritisieren zu können.

Außerhalb der Festungsmauern dehnt sich ein gewaltiger Campingplatz aus. In mitgebrachten Zelten und Schlafsäcken landen hier zu später Stunde die Raver aus den Diskos und die Pfadfinder. An Lagerfeuern sieht man auch einige Punks und Leute, die man zumindest in Deutschland für Autonome aus der Hausbesetzer-Szene halten würde. Nachts um zwei knien noch immer einige Unentwegte an der Säule der Immaculata. In das Gitarrengeklimper aus dem nahen Park mischen sich Mariengesänge, die aus der Basilika hinter den Klostermauern herüberdringen.

Dieselben Lieder erfüllen am kommenden Morgen ab acht Uhr den ganzen Ort. In der Ulica Marszalkowska J-zefa Pilsudskiego - der Bahnhofsstraße, die erst kürzlich nach dem klerikalfaschistischen, antisemitischen Diktator der Zwischenkriegszeit benannt wurde -, dringen die Gesänge aus den wartenden Taxis, sie jauchzen aus den Lautsprechern der Eisdielen und Bier-Bars: Radio Maryja, 100,6. Wer sich dem Klosterberg nähert, erlebt einen merkwürdigen Effekt: Die allgegenwärtigen Lautsprecher singen die frommen Texte vor, und aus der Ferne antwortet, immer lauter werdend, das Original.

Auf den mächtigen Befestigungsmauern der Jasna G-ra, die erst in den letzten Jahren mit Spendengeldern von Polen aus Chicago neu hochgezogen wurden, thronen gewaltige schwarze Boxentürme, die dem marianischen Liedgut die Power einiger Zehntausend Watt verleihen. An ein Rockkonzert erinnert auch die Atmosphäre auf der Wiese am Fuß der Festung. Auf einer Fläche, groß wie fünf Fußballfelder, drängen sich Hunderttausende von Gläubigen. Viele beten kniend, den Blick nach innen gekehrt. Die meisten Blicke richten sich aber auf die Priester, die, von der Menge durch eine 15 Meter hohe Mauer getrennt, seit dem frühen Morgen einen Gottesdienst nach dem anderen abhalten.

"Maryjo Prowadz Nas Do Boga Ojca" fürbittet es von einem 50 Meter breiten Transparent an der Klostermauer: "Maria Muttergottes, sei unsere Führerin". Um 10 Uhr vormittags ist kein Durchkommen mehr. Die Wiese ist schwarz vor Gläubigen. Alte Leute aus Polens armem Osten, die Frauen mit Kopftüchern und geblümten Schürzen, die Männer in ihren Sonntagsanzügen, deren Hochwasserhosen den Blick aufs derbe Schuhwerk lenken, stehen neben Studentencliquen aus Krak-w im Benetton-Look. Häufig sieht man Gruppen junger Leute, zu denen wie selbstverständlich ein paar gleichaltrige Nonnen und Priester in Soutane dazugehören. Zwar hat der Ruf der Kirche auch in Polen gelitten, seit sich die Gottesmänner nach der Wende wie eine zweite Staatsführung gerieren. 79 Prozent der polnischen Katholiken, so eine von der Kirche in Auftrag gegebene Untersuchung, hätten sich innerlich bereits ganz von der Kirche abgewandt und glaubten nicht mehr an ein Leben nach dem Tode.

Davon merkt man aber hier und heute nichts. Gut fünf Minuten braucht der Priester, nur winzig klein zu erkennen auf der Festungsmauer, um die Liste all der Kardinäle, Bischöfe und Erzbischöfe zu verlesen, die zu diesem Fest der Himmelfahrt Mariä gekommen sind. Polnische Fahnen knattern, die weißen Kutten der Paulinermönche flattern im Wind, während eine Blaskapelle aus Gdansk das nächste Marienlied anstimmt. Der Priester fällt ein, ein Mönchschor nimmt das Thema auf, die Lautsprechertürme und Radiosender blasen es in die Welt hinaus: Gegrüßt seist Du, Maria. Ein Regenguß verwandelt die Menschenmenge in ein Meer von bunten Schirmen.

Die Hunderttausende sprechen, ein mächtiges Raunen, das Glaubensbekenntnis. Schon nach wenigen Minuten scheint die Sonne wieder. Ein Zeichen? Ergriffen lauschen sie der Predigt des Primas Kardinal J-zef Glemp. Er spricht vom Morden im Kosovo und anderswo, von Abtreibung und der Informationsgesellschaft und Pornographie im Internet: Teufelszeug. Maria, Muttergottes, errette uns. Lasset uns beten. Wer jetzt nicht niederkniet, der ist kein guter Christ.

An den Toren zur Klosterfestung herrscht großes Gedränge. Soldaten der polnischen Armee regeln den Verkehr. Das Abzeichen auf ihrem linken Oberarm weist darauf hin, daß sich ihre Einheit der Jungfrau Maria gewidmet hat. Wenn man es endlich ins Innere dieser Trutzburg des Glaubens geschafft hat, dann hat das Schlangestehen noch kein Ende: Schlangestehen am Kessel mit dem besonders segensreichen Weihwasser der Mutter Maria, Schlangestehen am Tor der Basilika, Schlangestehen zum Beichten, Schlangestehen zum Kommunizieren. Es herrscht eine Atmosphäre frommer Entspanntheit, keiner drängelt, kein lautes Wort ertönt. Nicht hier, nicht im Heiligen Bezirk, den Karol Wojtyla schon viermal seit seiner Papstkür besucht hat.

Am greifbarsten ist die Religiosität in der Gnadenkapelle selbst. Fast kein Licht dringt in das düstere Gebäude, um so heller leuchtet das geschmückte Marienbild vor dem Hintergrund seines schwarzen, silberbeschlagenen Barockaltars aus reinem Ebenholz. Die Bänke sind dicht besetzt, überall auf den Gängen und in den Seitenkapellen knien Betende. Votivgaben bedecken die Wände: Hände, Füße, Köpfe, aus Blech getrieben, Orden von Soldaten, Krücken, jahrhundertealte bemalte Holztafeln. Kein Geräusch ist zu hören außer dem leisen Murmeln der Gebete und den verhaltenen Schritten derer, die kommen und gehen. So gehet denn hin in Frieden.

Schnell hat sich die Wiese vor dem Kloster nach der vormittäglichen Messe geleert. Nur zwanzig, dreißig Betende verharren statuengleich kniend im zertretenen Gras. Doch schon ruft ein neuer Priester zum neuen Gottesdienst. Das weite Feld füllt sich wieder, erneut erklingen Marienlieder. Und das ist nicht die letzte Messe an diesem Augustsonntag. Als die Lautsprecher am Abend endlich abgeschaltet werden, haben die Priester einen 13stündigen Gottesdienst-Marathon hinter sich. Und eine halbe Million Polen macht sich, frisch mit Glauben aufgetankt, auf den Heimweg. Der Straßenverkehr bricht kurzfristig zusammen, in Zügen, die aus Richtung Czestochowa kommen, ist noch vier Stunden später im nordpolnischen Bydgoszcz kein Sitzplatz zu bekommen. Aber am 26. August werden viele von ihnen wieder da sein: Das ist der Tag der Muttergottes von Czestochowa. Und der soll besonders viel Gnade bringen.