Besetzer-Feeling für 600 Mark

Gefährliche Orte LXXV: Zur Untermiete im Prenzlauer Berg - ein Selbstversuch

Von der Fassade bröckelte der Putz ab. Die Balkone waren durch Gitter abgesperrt. Die Hoftür fehlte und vom Nachbarhaus hörte man leise Sanierungsgeräusche. Vor dem Haus wurde die Straße aufgerissen. "Willkommen im Prenzlauer Berg" stand auf einem Schild.

Die Wohnung war mir von einem Freund empfohlen worden. Gute Lage. Viel Platz. Er hatte lange in Berlin gelebt und kannte sich aus. Der Mietvertrag stammte noch aus DDR-Zeiten, der Vermieter war alt und wollte sich die veränderte Situation durch Untervermietung zu Nutze machen. Derselbe Freund warnte, ich dürfe nicht zu viel erwarten.

"Fahrradservice", so begrüßte mich mein künftiger Vermieter am Telefon. Das war natürlich nicht sein richtiger Name. Aber die Identifizierung mit seinem kleinen Dienstleistungsunternehmen am Rande der Stadt war weit fortgeschritten. Wir mussten oft telefonieren. Wegen der Renovierung, wegen der Miete und vor allem wegen ihm selbst. Alle paar Tage rief er an, um sich in Erinnerung zu bringen. Dabei war das gar nicht nötig. Er kam oft genug ohne Vorankündigung in die Wohnung, um nach dem Rechten zu sehen.

Obwohl ich beim Einzug alle Zimmer gestrichen, Türen ausgewechselt und Stromleitungen neu verlegt hatte, konnte ich es ihm nicht Recht machen. Meiner Mitbewohnerin war es egal, wie die Wohnung aussah. Als Punkerin war sie Schlimmeres gewöhnt. Sie war schon froh, wenn die Heizung funktionierte. Bei einem von ihr verursachten Kurzschluß zündete sie Kerzen an, statt die Sicherung wieder reinzudrehen. Sie wollte "Hausbesetzer-Feeling" und bezahlte dafür 600 Mark monatlich.

Ich wollte meine Ruhe, Wärme und Licht - und renovierte. Meist stand sie dabei, schüttelte ihre Henna-roten Haare und zupfte an ihren ausgefransten Achtziger-Jahre-Klamotten herum. "Was machst du da?" fragte sie. "Ich baue die Klotür ein", sagte ich. Sie hat sich nie an der kaputten Schiebetür gestört. "Na, dann", sagte sie, ging in ihr Zimmer und packte ein neues Puzzle aus. Die eingerahmten Puzzlebilder hätten mich gleich stutzig machen müssen. Oder die Mülltüten. Wie sie selbst bekannte, war sie zu faul, den Mülleimerdeckel zu heben und benutze deshalb nur die Beutel. Kein Wunder, dass wir bald Maden und Motten hatten. Ihr war es egal.

Kaum war das Ungeziefer weg, die Wohnung fertig und das Wohnzimmer eingerichtet, da regnete es durch. Ich muss dazu sagen, dass wir im ersten Stock wohnten. Wie sich herausstellte, waren die oberen Stockwerke unbewohnbar, in der Mitte eines jeden Raumes stand ein Holzpfahl, um die Decke abzustützen. Ein Anruf beim Vermieter, so glaubten wir, würde ausreichen, um den Schaden zu beheben. Der Schaden wurde behoben: Wir bekamen die Kündigung.

Um aber für die letzten drei Monate noch die volle Miete kassieren zu können, entschloss er sich dann doch, das Loch in der Decke zu stopfen. Das machte einen erneuten Anruf nötig. "Fahrradservice", meldete er sich wieder, und ich sagte, dass ich für diese dilettantische Arbeit nicht bereit sei, die volle Miete zu zahlen. "Was heißt hier delletantisch. Für mich hätte das ausgereicht. Und Sie? Möchte ick och bezweifeln, dass Sie renoviert haben. Det is och delletantisch, wenn ick das Wort mal gebrauchen darf." Er durfte, nur nicht falsch. Triumph und Niederlage des Intellektuellen ist die sprachliche Korrektur. "Und wenn Ihnen das nicht passt, wie gesagt, dann machen Sie den Raum leer, dann zieh ick da wieder ein."

Zugegeben, wir rechneten nicht damit, dass er seine Drohung wahr machen würde. Meine Mitbewohnerin kümmerte sich nicht weiter darum. In aller Ruhe las sie entweder Ratgeber ("Wie werde ich glücklich?") oder Fantasy-Romane. Meist aber sah sie Daily-Soaps und arbeitete nebenbei an ihrem 3D-Puzzle. Ich schaute ihr dabei zu - immer die Frage im Hinterkopf, wie sie das wohl einrahmen und aufhängen würde. Zu dieser Zeit herrschte eine Art Waffenstillstand zwischen uns, und ich ließ mich sogar dazu hinreißen, mit ihr "Siedler" zu spielen.

An einem Wochenende im April, wir waren beide nicht zu Haus, räumte der Vermieter das Zimmer aus und richtete es wie ein billiges Hotel ein. Später bezeichnete er den Vorfall als Missverständnis. Auf unseren Protest hin, gab er das Fahrrad, das er mitgenommen hatte, zurück. "Wir wollen ja deswegen keinen Ärger haben."

Ärger gab es trotzdem. Ein paar Tage später klingelte es an der Tür. Eine alte Frau mit zwei Koffern stand im Flur. "Guten Abend, ich bin die Tante Ihres Vermieters. Und ich wohne jetzt hier." "Das glaube ich nicht", sagte ich und rief beim Fahrradservice an, drohte mit Wohnungsbaugesellschaft und Polizei, und am nächsten Tag war die Frau verschwunden. Dafür war der Vermieter wieder öfter da und wollte noch mehr Missverständnisse klären. Die Kaution, meinte er, sei nicht eingezahlt worden. Mit der Telefonrechnung müsste auch eine Regelung getroffen werden. Und überhaupt. So nicht.

"Berlin ist Scheiße", der Lieblingssatz meiner Mitbewohnerin war von nun an wieder öfter zu hören. Von Puzzles war sie inzwischen sie ganz auf Mandalas umgestiegen, die sie farbig ausmalte und überall in der Wohnung verteilte, damit sich die positiven Energien verbreiten konnten. Was sie nicht beachtet hatte, war, dass sie jede Art von Energie mit ihrer Trägheit und schlechten Laune sofort wieder nivellierte.

Als ein Arzt ihr sagte, sie müsse sich mehr bewegen, ging sie nicht etwa in den Park, obwohl das bei 30 Grad angebracht gewesen wäre, sondern machte Dehnübungen in ihrem Zimmer und kaufte sich Zehn-Kilogramm-Sandsäcke, die sie sich an die Füße schnallte. Selbst für Kniebeugen hingen Schaubilder an der Wand.

Mit ihrem Freund, der, weil sie nicht mehr zu ihm ging, gezwungenermaßen bei uns wohnte, schien es auch nicht mehr so aufregend zu sein. Meist unterhielten sie sich über Fäkalien.

Er: "Komm, laß uns jetzt endlich gehen."

Sie: (piepsig) "Nein, warte noch. Ich muß noch mal aufs Klo."

Er: (streng) "Schon wieder! Was denn? Groß oder Klein?"

Sie: (wieder piepsig) "Groß, aber wenn du mit rein kommst, mach' ich auch ganz schnell."

Einmal saß ich mit dem Freund im Wohnzimmer. Wir tranken Bier. Sie kam hinzu, setzte sich neben ihn und schwieg auffällig. Er fragte: "Was ist los?" Sie, kaum hörbar: "Mir geht es nicht gut. Ich geh' ins Bett. Kommst du mit?" "Gleich, wenn ich mein Bier ausgetrunken habe." "Na, gut", sagte sie verärgert, ging in ihr Zimmer, seufzte übertrieben laut und wälzte sich im Bett, damit alle erkannten: Ich leide. Nach fünf Minuten kam sie zurück, setzte sich neben ihn und schob die Unterlippe vor. Da saß sie wie ein kleines Kind, das seinen Willen nicht hat durchsetzen können, und schmollte. "Soll ich mitkommen", fragte er. Sie nickte, und ihr kamen fast die Tränen. Mir nicht.

Die gleiche Show hat sie bei mir auch abziehen wollen. Sie fühle sich von mir nicht genug beachtet, sagte sie. Ich sagte: "Dies ist eine Zweck-WG." Da war alles aus. Mir war es egal. Ich hatte Besseres zu tun. Das Telefon klingelte. "Fahrradservice. Wollte nur noch mal wegen der Kaution nachgefragt haben." Ich legte auf.

Es war Zeit, den Versuch abzubrechen und sich eine neue Wohnung zu suchen.