Eiserne Ratlosigkeit

Die IG Metall brauchte sieben Tage, um mit dem "Doppelcharakter der Solidarität" ins nächste Jahrtausend zu finden.

Ein einziges Mal versagte die Technik im Hamburger Kongress-Zentrum: Als zum Schluss des Gewerkschaftstages der IG Metall am vergangenen Samstag rund 50 Kinder für wenige Minuten die Bühne eroberten, um ein Lied vorzutragen, war das nur in unmittelbarer Nähe der Bühne zu verstehen. Anschließend spielte eine Band "We Are the World", und einige Vorstandsmitglieder schnappten sich ein Kind und setzten es sich auf die Schulter. Vom Bildregisseur wurde diese Szene eindrucksvoll auf den Großbildleinwänden gezeigt. Das hatte schon etwas Symbolisches: Da zelebrieren vorwiegend mittelalte Männer sieben Tage lang ihre seit über einem Jahrhundert einstudierten Rituale und ganz zum Schluss menschelt es dann.

Verbal wurde an diesen sieben Tagen viel über die Zukunft fabuliert. Die Kinder, die in der Schluss-Veranstaltung fröhlich auf den Schultern der Vorstandsmitglieder thronten, müssen irgendwann mit der Hinterlassenschaft ihrer Eltern klar kommen. Für sie war während des Gewerkschaftstages ein eigenes und nach eigenem Bekunden "aufregendes Programm" gestaltet worden. Im Info-Dienst des Kongresses hieß es: "Sie staunen über die eigenartige Beschäftigung ihrer Eltern auf Gewerkschaftstagen." Die war in der Tat so eigenartig, dass zum Schluss ziemlich unklar blieb, was die Delegierten in Hamburg eigentlich umgetrieben hat.

So gelobte der wieder gewählte Chef der 2,75 Millionen Metallerinnen und Metaller, Klaus Zwickel, in seiner Schluss-Ansprache, der Vorstand werde dem nächsten Gewerkschaftstag in vier Jahren eine bessere Strukturierung vorlegen, damit mehr Zeit für eine inhaltliche Debatte bleibe. Auch werde man, so Zwickel, "die Präsenz der Politiker und den Stellenwert der Parteien überdenken." Gerhard Schröder (SPD), Angela Merkel (CDU), Antje Radcke (B90/Die Grünen) und Gregor Gysi (PDS) hatten den knapp 600 Delegierten und über 1 000 Gästen des Kongresses nicht wirklich etwas zu sagen, was die nicht schon wussten. Zusammengerechnet mit den obligatorischen "Parteienabenden" und weiteren "Grußworten" des Bundespräsidenten und des Hamburger Bürgermeisters wurde so ein ganzer Tag vertrödelt.

Ein weiterer Tag verstrich mehr oder weniger nutzlos, weil jedes der zehn Vorstandsmitglieder einen Rechenschaftsbericht ablegte, den eigentlich niemand hören wollte. Zeitraubend auch die Wahl der diversen Gremien, die leidige Satzungsdebatte und andere Formalien - insgesamt eineinhalb Tage kostete das. Knapp gerechnet blieben den Delegierten ganze zwei, um inhaltlich zu diskutieren.

In der Frage "Rente mit 60" zeigte sich der Kongress ambivalent: Angemerkt wurde, dass das Zwickel-Modell noch gar nicht durchgerechnet sei. Bemängelt wurde auch, dass es kaum vermittelbar sei, wenn man den heute jüngeren Arbeitnehmern zumute, einen Teil der Lohnerhöhung in den Fonds-Topf für die Tarifrente zu zahlen, es aber unklar bleibe, was die jungen Einzahler als Gegenleistung bekommen. An "die Politik" ging der Auftrag, dies doch bitte ernsthaft zu prüfen und auszurechnen, die IG Metall werde dann das Ihre tun, damit die Sache klappt.

Mit Spannung wurde die Debatte um die Arbeitszeitverkürzung erwartet. Ein Teil der Delegierten wollte sich nicht auf konkrete Schritte festlegen, ein anderer drängte darauf, dass klarere Aussagen gemacht werden. Man versuchte, es beiden Seiten recht zu machen, und im nebulösen Vorstandspapier stehen jetzt noch mehr Allgemeinplätze. Der Gewerkschaftstag musste um gut drei Stunden unterbrochen werden, bis hinter den Kulissen die Kompromissformel gefunden war.

"Herrschende Meinung" in der IG Metall ist jetzt, dass dort, wo die 35-Stunden-Woche ausgehöhlt ist, stabilisiert werden soll. Auch weiterhin sei die Arbeitszeitverkürzung ein wichtiges Mittel, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Doch für eine weitere Wochenarbeitszeitverkürzung brauche die Gewerkschaft zunächst "die Zustimmung der Mitglieder" - also zuerst eine nach innen gerichtete Debatte.

Einziger Glanzpunkt des Kongresses war die Durchsetzung der Frauenquote. Zukünftig müssen Metallerinnen entsprechend ihrem Mitgliederanteil von 19,6 Prozent in allen Gremien vertreten sein. Zunächst hatten sich einige ostdeutsche Kolleginnen gegen die Quote ausgesprochen und geltend gemacht, sie seien durch ihre persönlichen Qualifikation Delegierte des Gewerkschaftstages geworden und wollten keine "Quotenfrauen" sein. Ein Delegierter entgegnete, es könne nicht so bleiben, dass neben der katholischen Kirche nur noch die IG Metall keine Frauenquote habe.

Traditionell gehört zu einem Gewerkschaftstag auch das Grundsatzreferat des Vorsitzenden. Diesmal überraschte Zwickel mit seiner Wortschöpfung "Doppelcharakter der Solidarität". Im Zusammenhang mit der Debatte über die Zukunft des Sozialstaates brachte er damit auf den Punkt, was von den Neoliberalen, Bündnis 90/Die Grünen bis zu Kanzler Schröder längst propagiert wird: Die Starken müssten die Schwachen stützen. Also könnten die "Besserverdienenden" auch eher zu eigenen Vorsorgeleistungen herangezogen werden, damit man die Schwächsten zumindest in Grenzen unterstützen könne. Hier greift nicht die lange erwartete "Umverteilungsdebatte"; vielmehr wird fortgeführt, was bereits im Slogan "Teilen in der Klasse" enthalten ist: Nicht mehr der tatsächlich vorhandene gesellschaftliche Reichtum wird umverteilt, sondern die abhängig Beschäftigten teilen sich den Rest.

"Soziale Sicherungssysteme haben in einer Gesellschaft", führte Zwickel aus, "die insgesamt auch dank der Tarifpolitik reicher geworden ist, eine andere Funktion als noch vor 50 oder 100 Jahren." Es gehe jetzt nicht mehr nur um die Frage, was die Gesellschaft für den Einzelnen tun, vielmehr müsse sich jeder fragen, was er für die Gesellschaft tun könne. Diese Redepassage rief bei den Delegierten keine Reaktion hervor.

Zwei Ereignisse sorgten am Rande des Gewerkschaftstages für Aufregung: Angeblich plane Daimler-Chrysler die Verlegung des Firmensitzes von Stuttgart in die USA. "Nein, das sind Gerüchte, da ist nichts dran", beharrte Betriebsratsvorsitzender Erich Klemm auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Die zweite Aufregung: Die Besetzer des Kabelwerkes von Alcatel in Berlin-Neukölln statteten dem Gewerkschaftstag einen Besuch ab. So kam zumindest für eine knappe Stunde ein wenig klassenkämpferische Stimmung auf. Doch vom "Aufbruch ins neue Jahrhundert" - wie es die grossen Lettern an der Bühnenwand verkündeten -, war in Hamburg nichts zu spüren. Die IG Metall ist immer noch die Gewerkschaft der "Blaumänner" und hat die veränderte Arbeitswelt noch nicht wirklich realisiert.