Die Kinder von 1974

Das Verschwinden des "schöpferischen Marxismus" und der linksradikalen Bewegung in Jugoslawien.

'Jukebox'Jugoslawien

Wir trafen Dragan Ambrozic im Wohnzimmer seiner Eltern, da die Miete für eine eigene Wohnung in der momentanen ökonomischen Situation zu einer Investition geworden ist, die überlegt werden muss. Wir sitzen zwischen alten Möbeln und gestickten Deckchen, trinken Mamas Tee und sprechen über die siebziger Jahre.

Dragan Ambrozic war unsere Kontaktperson bei B-92. Bis vor dem Nato-Bombardement war B-92 das Monopolunternehmen der Belgrader Subkultur: Radiostation, Musiklabel, Verlag, Internet-Provider, Filmproduktionsgesellschaft und Betreiber eines Kulturzentrums in einem. Anfang April wurde die gesamte Infrastruktur vom regierungsnahen Rat der Belgrader Jugend gehijackt. Umbenannt in B2-92, wichen sie in den zwölften Stock des Beogradjanka-Towers aus und senden seither von acht Uhr morgens bis zwölf Uhr Mitternacht auf dem dritten Programm von Studio B.

So haben sie über den Dächern der Innenstadt mit freiem Blick auf das durch Bomben zerstörte Verteidigungsministerium und das seit Jahren im Bau befindliche Glas- und Stahlimperium der neuen Nationalbank ein seltsames Exil im Rundfunkhaus von Vuk Draskovic gefunden, dem Vorsitzenden der monarchistischen Serbischen Erneuerungsbewegung. 1997 ließ Draskovic die oppositionelle Zajedno-Koalition platzen und wechselte in die Regierung Milosevics über, aus der er im Frühjahr dieses Jahres wieder herausflog.

Dragan Ambrozic ist mit Jukebox groß geworden, der einzigen Musikzeitschrift der siebziger Jahre: "Wir haben alle Jukebox gelesen. Die Auflage lag bei 100 000 Stück. Jukebox war die Zeitschrift der vierten Generation, der Generation der letzten ökonomischen Aufschwungphase in Jugoslawien. Fernsehen, Pop und das Gefühl ökonomischer Sicherheit und kultureller Freizügigkeit waren unsere Geschwister. Punk und New Wave Ende der Siebziger war unser Aufbruch. Wir sind ins Studentische Kulturzentrum SKC gegangen. 1969 gegründet, war es der Ort der radikalen Kunst-Avantgarde, vor allem der jugoslawischen Konzeptkunst. Dann wurde es unser Ort: Punk-, New Wave-, Independent-Konzerte und Treffpunkt der neuen sozialen Bewegungen. In den Neunzigern wurde es wie fast alle Kultureinrichtungen von regierungsnahen Personen übernommen."

In der Wohnung angekommen, hatte uns Dragans Mutter auf den Balkon ihres Siebziger-Jahre-Hauses gezogen, das am Rande des jüdischen Viertels Dorcol liegt, um uns den gigantischen Ausblick auf die Sava-Donau-Mündung zu zeigen. Während ich auf die riesige Wasserfläche und das Stadion des 25. Mai mit dem leer stehenden Drehrestaurant blicke, denke ich, dass Dragan eines der Kinder von 1974 ist, und dass ich ihn nach den späten siebziger und den achtziger Jahren fragen muss, nach der Zeit, in der er groß geworden ist, jenen Jahren nach der Verfassungsänderung von 1974, nach dem Verbot der linksmarxistischen Praxis-Gruppe und nach der Repression der linksradikalen studentischen Szene.

Politischer Filmriss 74

1974 war ein Kristallisationspunkt in der jugoslawischen Geschichte. Ab Mitte der sechziger Jahre war immer deutlicher geworden, dass unterschiedliche Entwicklungstendenzen die Gesellschaft durchzogen: Zum einen war da die linksmarxistische Kritik der Praxis-Gruppe am Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ).

Praxis war ein Zusammenschluss von ProfessorInnen aus Zagreb, Belgrad und Ljubljana. Inspiriert von den Schriften des jungen Marx formulierten sie eine scharfe Kritik an der Bürokratisierung der sozialistischen Gesellschaft. 1968 folgten auf diese Kritik gemeinsame Aktionen von ArbeiterInnen und StudentInnen, die die Einlösung des Selbstverwaltungs-Versprechens auf allen sozialen Ebenen forderten. Gleichzeitig wurde im Bund der Kommunisten Serbiens (BdKS) die Bewegung der "serbischen Liberalen" stark, die sowohl ökonomisch als auch politisch liberal orientiert war.

In Kroatien hingegen artikulierte die Parteispitze ihren Marktliberalismus in nationalistischen Begriffen. Diese Mischung fand bei vielen Leuten große Unterstützung. Die "Kroatische Massenbewegung", Maspok, mündete 1971 in den nationalistischen "Kroatischen Frühling". Im Kosovo hatten 1968, zwei Jahre nach der Absetzung des autoritären jugoslawischen Innenministers Aleksander Rankovic, eine Reihe von Demonstrationen stattgefunden, die soziale, kulturelle, ökonomische und nationalistische Forderungen in einem Atemzug formulierten.

So erschien Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger das Soziale wie in einem Film, der immer schneller läuft, bis er reißt. Die politische Führung des BdKJ unter Josip Tito unterdrückte alle oppositionellen politischen Artikulationen. Tausende wurden als albanische Separatisten, kroatische Nationalisten oder serbische Liberale festgenommen. Die Parteiführungen Kroatiens und Serbiens wurden abgesetzt. Die linke Belgrader Hochschulzeitung Student wurde zensiert. Schließlich wurde 1975 auch die Praxis-Gruppe verboten. Acht ProfessorInnen der Belgrader Universität wurden relegiert. Ihre Zeitschrift Praxis musste eingestellt werden, und auch ihr undogmatisches marxistisches Diskussionsforum auf der Insel Korcula konnte nicht mehr stattfinden. Innerhalb weniger Jahre wurde das soziale Feld, das emanzipatorisch geöffnet worden war, autoritär geschlossen. Gleichzeitig mit der Umgestaltung der kroatischen und serbischen Parteiführungen unterdrückte der BdKJ alle politischen Bewegungen, die sich von unten formulierten.

Institutionelle Nationalisierung

Die Verfassung von 1974 ist ein trauriges, bürokratisches Feedback auf die Entwicklungen der sechziger Jahre. Sie verwandelte Jugoslawien in eine Konföderation aus Teilrepubliken und autonomen Provinzen, zu welchen die Vojvodina und das Kosovo innerhalb Serbiens ernannt wurden. Der Nationalismus, der mit der Repression des Kroatischen Frühlings äußerlich liquidiert war, kehrte als inneres politisches Moment wieder: Politik wurde in eine Verhandlung nationaler Positionen der Republiken und Provinzen verwandelt.

Es war zwar ein positiver Schritt, dass das Kosovo nach einer langen Phase politischer Repression 1974 den Status einer autonomen Provinz innerhalb Serbiens erhielt. Aber der Kontext dieser Autonomie lautete: institutionelle Nationalisierung und Repression der politischen Bewegungen auf der Straße. "Das war der Anfang vom Ende Jugoslawiens", sagte Rastko Mocnik, studentischer Aktivist der sechziger Jahre und Mitbegründer der Sozialdemokratischen Union 1990, in einem Gespräch mit Ursula Rütten: "Das ist ein bizarres Ergebnis, wie der Kommunismus zu jener Zeit auf den Nationalismus reagierte. Er inkorporierte nationalistische Positionen und verwandelte sich in eine Konföderation verschiedener Republikparteien, die ganz Jugoslawien mit Repressionen überzogen."

"Jede Frage wurde notwendigerweise nationalisiert", beschreibt Vesna Pesic, Vorsitzende des Bürgerbundes Serbiens, heute die latente Konsequenz von 1974: "Die Nationen waren die Träger der Souveränität in den Republiken, sodass sich für jede Entscheidung sechs Nationalstaaten einigen mussten und zwei autonome Provinzen, was unausweichlich in tägliche und offene nationale Konfrontationen mündete. Betrachtet man diese Institutionalisierung des Politischen, konnte es keine a-nationalen Fragen mehr geben."

Bürokratischer Optimismus

Gleichzeitig stärkte die Verfassung von 1974 die Selbstverwaltung der Produktion. Aber dem Selbstverwaltungsversprechen fehlte die soziale Basis, aus der Subjekte hervorgehen, die eine radikale Selbstverwaltung von unten realisieren können. In seinem Text "Die Institutionalisierung der revolutionären Bewegung", kritisierte Veljko Rus, Soziologe und Mitglied der Praxis-Gruppe, 1971 die geplante Verfassungsänderung. Die soziale und politische Mobilisierung beziehe sich nicht auf die Massen, sondern auf die Institutionen: "Ein neuer sozialer Komplex breitete sich aus, den manche 'bürokratischen Idealismus', andere 'bürokratischen Aktivismus' nannten. Er gründete sich auf der Illusion, dass man durch unaufhörlichen institutionellen Wandel soziale Trägheit verhindern und soziale Mobilität aufrecht erhalten könne. Der institutionelle Wandel aktivierte jedoch nur die institutionelle Maschinerie und nicht die soziale Infrastruktur jenseits der Institutionen. Resultat war eine optische Täuschung. Unsere politischen Führer sprachen von der esoterischen Realität der Institutionen, die nur sie selbst erfahren hatten. In dieser Zeit wuchs der Abstand zwischen Elite und Masse, zwischen Institutionen und gesellschaftlichem Leben."

Zur gleichen Zeit wie die italienischen OperaistInnen im Umfeld der Quaderni Rossi verfasste Veljko Rus politische Mikroanalysen über die Situation in den selbstverwalteten Betrieben. Dabei stieß er auf eine fatale Asymmetrie: Auf der einen Seite stand die Aufforderung, die Produktion selbst zu verwalten. Auf der anderen Seite stand das Faktum, dass die reale Entscheidungsgewalt in den Fabriken bei der Betriebsleitung, dem so genannten Technomanagement lag: "Im Regelfall behielt die Führungsgruppe die ganze Macht, die sie früher ausgeübt hatte und wurde von der Verantwortung für alle die Entscheidungen und Maßnahmen befreit, für die nun die Selbstverwaltungsorgane zuständig geworden waren. So begann in vielen Fällen ein völlig unerwarteter Prozess, den man die 'Illegalisierung der Betriebsführungen' nennen könnte: Die Selbstverwaltungsorgane übernahmen die volle Verantwortung für alle wesentlichen Entscheidungen, ohne dass sie das hierzu erforderliche Spezialwissen oder die gesellschaftliche Macht für die Ausübung dieser Verantwortlichkeit gehabt hätten; und so wurden sie in wachsendem Maß zu einer Fassade für die Führungsgruppe." Ein Jahr nach der Veröffentlichung dieser Thesen verlor Rus 1972 seine Lehrbefugnis an der Universität Ljubljana.

Sava-Centar-Gefühle

Nach dem Filmriss des Sozialen im Jahr 1974 beginnt Dragan Ambrozics Geschichte. Sie heißt "Shoppen in London" und erzählt von dem Gefühl, in Jugoslawien nach der autoritären Schließung des sozialen Feldes groß geworden zu sein. Dragan Ambrozic erklärt, dass er mit dem Sava-Centar-Gefühl aufgewachsen ist. Mit dem Spirit dieses radikal-modernistischen Siebziger-Jahre-Gebäudes in Neu-Belgrad, das Tito 1977 zum KSZE-Folgetreffen einweihte, ein riesiges Kongress-Zentrum mit offen liegenden, farbigen Versorgungsrohren, Rolltreppen, automatisch schließenden Türen, Geschäften und Bars: "Jugoslawien war in den siebziger Jahren international respektiert. Tito war eine der wichtigen Figuren der Blockfreien-Bewegung. Der Nachhall dieser äußeren politischen Konstellation prägte meine Sozialisation. Jugoslawien nahm während der siebziger Jahre eine Reihe westlicher Kredite auf, von denen wir noch nicht wussten, dass sie uns in den Achtzigern in eine neokoloniale Schuldenkrise führen würden. Mein Gefühl aus den späten Siebzigern, das ich in die Achtziger herüberrettete, war das Gefühl, reisen zu können, wenn man das Geld dafür zusammenkriegte, das Gefühl, nach London fahren zu können, um Platten zu kaufen. Aber genauso alles hier in Belgrad zu bekommen, Melody Maker oder New Musical Express lesen und die neuen Plattenproduktionen kaufen zu können. Das legte die Grundlage für den Aufstieg der Alternativkultur der achtziger Jahre. Wir haben ein Gefühl kultureller Liberalität genossen, solange wir die Autorität der einen und einzigen Partei nicht in Frage stellten. In den Achtzigern hat sich das geändert. Mit den unabhängigen Medien, mit den studentischen Zeitungen und Radios entstand eine Bewegung, die sich auch politisch artikulieren wollte. Die slowenische Zeitung Mladina war das Modell dieser Art 'neuer demokratischer Schule'. B-92 in Belgrad ist Erbe dieser Achtziger-Jahre-Tradition."

Im Wohnzimmer seiner Eltern reden wir mit Dragan über diese zweite Runde emanzipatorischer Praktiken in Jugoslawien, die seine Runde sein wird. Sie ist subkulturell und mikropolitisch orientiert. Sie artikuliert sich nicht mehr linksmarxistisch. Sie tritt nicht mehr gegen ökonomische Privatisierung an, sondern gründet selber eine Reihe privater Initiativen: Plattenvertriebe, Labels, Galerien, unabhängige Zeitungen. Theoretisch bezieht sie sich auf Poststrukturalismus, Feminismus und Psychoanalyse. Politisch orientiert sie sich in zwei Richtungen, einmal in Richtung Bewegungspolitik, direkte Aktionen, Alternativkultur, zum anderen in Richtung "Demokratisierung", "Zivilgesellschaft" und Mehrparteiensystem.

Ende der achtziger Jahre wird sie von einer massiven Nationalisierung überrollt, die sie nicht aufhalten kann. Wurde die linke Bewegung der sechziger Jahre von staatlicher Repression suspendiert, crashte die mikropolitische und zivilgesellschaftliche Bewegung der Achtziger in die populistische Nationalisierung Jugoslawiens, in der sich die verhinderte Möglichkeit der sechziger Jahre negativ realisierte.

Wozu Praxis?

Die Praxis-Gruppe war eine Gruppe von ProfessorInnen der Philosophie und der Soziologie, die Mitte der Sechziger mit einem humanistisch-marxistischen Programm antraten. Sie waren Mitglieder des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. Sie hatten Zentren in Ljubljana, Zagreb und Belgrad. Sie bezogen sich auf die Frühschriften Marx', auf die "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte". Ihre Konzeption eines "schöpferischen Marxismus" verband sie mit einem subjektiven Utopismus. Sie rezipierten Sartre und den Existenzialismus. Ihre Arbeit konzentrierte sich darauf, die Spuren der Entfremdung und der Verdinglichung im Subjekt und in der neuen jugoslawischen Gesellschaft aufzuspüren. Die Gründung der Praxis-Gruppe 1964 in Zagreb und ihr erstes Heft unter dem Titel "Wozu Praxis?" war Ergebnis einer Neu-Erfindung marxistischen Denkens in Jugoslawien nach dem Bruch mit Stalin 1948 und der Einrichtung der sozialistischen Selbstverwaltung 1950. Die Praxis-Gruppe hat dem Denken der Selbstverwaltung viele Anstöße gegeben. Ihre Mitglieder waren nicht von Anfang an philosophische Outsider. Vor ihrem Zusammenschluss als Gruppe leisteten sie eine radikale philosophische Kritik am Stalinismus, die offiziell rezipiert wurde. Auf den Unwillen der Partei stießen sie, weil sie das Fortbestehen von Bürokratismus und Stalinismus im BdKJ thematisierten, weil sie eine politische Radikalisierung der Gesellschaft von unten einforderten und weil sie die ökonomische Liberalisierung und die Einführung von Marktmechanismen seit der Wirtschaftsreform von 1965 angriffen.

Dieser Unwillen explodierte, als Ende der sechziger Jahre die theoretische Kritik mit Protesten der Arbeitenden und der StudentInnen zusammentraf. Zarko Puhovski, eines der jüngsten Praxis-Mitglieder analysiert dieses Zusammentreffen im Nachhinein als Riss im ideologischen Universum des BdKJ, den die Partei nicht mehr in der Lage war zu kitten: "Alle Praxis-Leute wollten den Sozialismus verbessern. Sie wollten keine Liberalisierung. Das war keine post-sozialistische Kritik. Nehmen Sie als Beispiel die Studentenbewegung in Belgrad und Zagreb Ende der sechziger Jahre. Die hat sehr viel mit der Praxis zu tun. Das war ein Signal für die politische Führung, dass die sozialistische Legitimation der Herrschaft nicht mehr stimmte. Man kann in Jugoslawien genau das Datum festmachen, wo die Parteiführung verstanden hat: Jetzt geht es nur mit Sozialismus nicht mehr weiter. Wir müssen eine Reservelegitimation finden. Und das war dann die Legitimation über die Nation. Fünfzehn Tage nach den Studentenunruhen hat die oberste politische Führung Jugoslawiens mit Tito an der Spitze Gesetzentwürfe veröffentlicht, in denen bereits die Grundlagen für die neue Verfassung von 1974 enthalten waren."

1968: Althusser statt Marcuse

1968 stand die Praxis-Philosophie in gleißendem Licht. Die studentische Bewegung griff ihre Kritik auf und radikalisierte sie. Streiks und Proteste in den Fabriken zeigten, dass es in der Selbstverwaltungsgesellschaft Arbeitslosigkeit und Armut gab. Nach den Juni-Aktionen der Belgrader StudentInnen begann Tito 1968, die Praxis-Gruppe in einem Aufwasch mit der Bewegung der "serbischen Liberalen" als imaginäre Feinde der Gesellschaft anzugreifen: "Genossen", sagt er auf dem 6. Kongress des Gewerkschaftsverbandes, "ihr wisst, dass es im Augenblick alle möglichen Bestrebungen unterschiedlicher Elemente gibt. Da sind diejenigen, mit denen wir es an der Universität schon vor der Studentenrevolte zu tun hatten. Das sind isolierte Professoren, einige Philosophen, Praxis-Leute und andere Dogmatiker. All das hat sich mehr oder weniger vereinigt. Sie verkünden jetzt die Bewegung an den Universitäten. Das kommt nicht von den Studenten, sondern von Leuten, die den Ansatz zum Mehrparteiensystem schaffen wollen."

Die studentische Bewegung hatte die Praxis-Philosophie kritisch rezipiert. Ganz anders als Tito es darstellte, schloss sie sich deren Kritik am ökonomischen und politischen Liberalismus an, verwarf aber den humanistischen Utopismus der Praxis, ihren frühmarxistischen Idealismus des nicht-entfremdeten Subjekts. Die Lektüre von Althusser und Lacan, ihre Nähe zum strukturalistischen Marxismus und zur Psychoanalyse führte sie in ein anderes theoretisches Universum: Sie diskutierten die Wahrheit des Althusserschen Subjekts, das sich auf den Zuruf eines imaginären Polizisten - "Hey, Sie da!" - umdrehen, sich schuldig und unterworfen fühlen wird.

In diesem Sinne diskutierten sie das Subjekt als Produkt und Effekt der Verhältnisse. Im Althusserschen Universum existiert keine vergangene Zukunft eines nicht-entfremdeten Subjekts; es gibt nur die emanzipatorische Reflexion des jeweils neuen ideologischen Verhältnisses, das ein Subjekt zu seiner Gesellschaft ausbildet. Die Psychoanalyse verhalf der studentischen Bewegung zu dem klugen Tipp, dass das Subjekt strukturell gespalten ist, dass es nie zu einer einheitlichen Nicht-Entfremdung finden wird. Politisch führte das zu der Entscheidung, die soziale Auseinandersetzung an den feinsten Mechanismen der alltäglichen Macht anzusetzen, die sich in den Poren des Subjekts festgesetzt und es konstituiert haben. Für einen Teil der linksradikalen Studentenbewegung verfolgte Praxis einen "abstrakten Humanismus", der einfach aus der Philosophie gewonnen und praktisch nicht erprobt war.

Rastko Mocnik erzählt, dass die Attraktivität der Praxis-Gruppe darin lag, eine internationalistische Diskussion zu organisieren: "Als ich anfing, mich mit theoretischer Arbeit zu befassen, das war in den späten sechziger Jahren, war die Praxis-Philosophie zumindest von unserem Standpunkt her betrachtet, bereits anachronistisch. Sie hatte eine große Nähe zum jungen Marx und zur Frankfurter Schule, die damals sehr einflussreich war, mehr Marcuse als Adorno, würde ich sagen. Wir waren ihren Positionen gegenüber sehr reserviert. Wir lasen damals Althusser, Lévi-Strauss, wir wurden eher strukturalistisch gepägt, was eine gute methodologische Grundlage ist. Später kamen Derrida und Lacan. Aber alles, was damals intellektuell lebendig war, trat in die Reihen der Zeitschrift Praxis ein."

Korcula, die Sonne der Theorie

Agnes Heller, Schülerin von Lukacs und in den sechziger Jahren Marxistin der Budapester Schule, beschreibt in ihrer jetzt erschienenen Biografie, dass gerade der marxistische Humanismus sie für die Praxis-Gruppe eingenommen hatte. 1965 besuchte sie das erste Mal die internationale Sommerschule auf Korcula, in der politische AktivistInnen, westliche MarxistInnen und osteuropäische KommunistInnen miteinander diskutierten. Nach ihrem Ausschluss aus der ungarischen KP bedeutete das die ersehnte Rückkehr zu einer radikalen undogmatischen marxistischen Debatte: "Ich hatte lange keinen Pass bekommen. Unter Berufung auf das Einladungsschreiben nach Korcula reichte ich nun meinen Antrag ein. Die Abteilung 'Inneres', erfahren in subtiler Schikane, gab ihm sogar statt - nur eben 'zufällig' erst nach dem Beginn der Konferenz. Aber eine Woche Sommeruniversität lag noch vor mir . 'Von euch lass ich mich nicht austricksen', dachte ich und sprang in den nächsten Zug - eine sehr richtige Entscheidung, die mein ganzes weiteres Leben beeinflussen sollte."

Auf Korcula trifft sie Lucien Goldmann, Ernst Bloch, Ernest Mandel, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Iring Fetscher, Leszek Kolakowski. Sie ist begeistert von der internationalen Beteiligung und der Lektüre des jungen Marx durch die Zagreber und Belgrader Praxis-Leute. Ganz im Gegensatz zu Rastko Mocnik stellt der frühe Marx für sie einen produktiven Kurzschluss zwischen dem Aktivismus der Neuen Linken und der marxistischen philosophischen Szene her: "Damals begann auch mein Interesse für Geschichtsphilosophie und Utopie: für den utopischen Aspekt im Marxschen Denken. Die Althussersche Marx-Interpretation, derzufolge das Wesentliche bei Marx seine Kapitalismuskritik und damit 'Das Kapital' sei, lehnte ich ab. Für mich war das Bestimmende bei Marx die utopische Dimension: dass in der Vision des Kommunismus der Widerspruch zwischen Individuum und Gattung und damit die Entfremdung aufgehoben wird. Das war reiner Messianismus. Die jüdische, messianische, talmudische Botschaft des Marxismus lag mir wie der ganzen Budapester Schule sehr nahe."

1968 erlebte Heller die Sommerschule mit ungeheurer politischer Intensität. Im August jenes Jahres trafen auf Korcula die Energien des Pariser Mai, des Belgrader Juni und des sowjetischen Einmarschs in Prag aufeinander. Die Konferenz wurde unterbrochen. Ein Protestschreiben wurde verfasst. Die ungarischen TeilnehmerInnen schrieben nach der Erfahrung von 1956 eine eigene Erklärung: "Wir saßen dort im Schatten, vor uns das weiße Papier, und überlegten, welchen Charakter unser Text haben sollte. Es musste klar werden, dass wir nicht nur gegen die Intervention der Sowjetunion, sondern auch gegen die Ungarns protestierten. Und es sollte herauskommen, dass wir diese Erklärung im Interesse des Sozialismus verfassten. Am Tage des Einmarsches in Prag waren unsere Illusionen verflogen. Es war unmöglich, weiter an die Reform zu glauben. Wir verteidigten nicht mehr die Reform der kommunistischen Gesellschaft, sondern folgten dem Denken der Neuen Linken."

Im warmen Wind des Pariser Mai und des Prager Frühlings hatten die Belgrader StudentInnen auf das Pflaster des Campus "Weg mit den Lehrern, weg mit den alten Lehrmethoden!" geschrieben. Auf die Forderung nach Beseitigung sozialer Ungleichheiten, mehr Stellen für Jugendliche aus Arbeiter- und Bauernfamilien, mehr Demokratie und Selbstverwaltung reagierte die Regierung mit einem Gesetz zur erleichterten Anstellung von Jugendlichen.

Gleichzeitig gab es auch Versuche regimetreuer Kräfte, den Prozess aufzuhalten. So organisierte Vuk Draskovic im Juni 1968 an der Juristischen Fakultät eine Veranstaltung zu Ehren Titos, an der ein Großteil der StudentInnen des Fachbereichs teilnahm. Der radikalere Teil der Bewegung organisierte sich an der Philosophischen Fakultät und um die Zeitung Student, die als unabhängige Wochenzeitung eine Auflage von 40 000 erreichte. Die Zeitung unterstützte die streikenden Bergarbeiter in Bosnien-Herzegowina. Sie schrieb über den Prager Frühling und gegen die Intervention der Sowjetunion. Sie thematisierte das Tabu Goli Otok, eine Gefängnisinsel im Mittelmeer, auf der zwischen 1948 und 1955 Zehntausende KommunistInnen wegen angeblich stalinistischer Umtriebe interniert worden waren.

Nach dem Verbot der Praxis-Gruppe 1975 stellte sich keine stärkere Gleichzeitigkeit mehr zwischen linker politischer Bewegung und der Praxis-Philosophie ein. Die Belgrader Philosophen Mihajlo Markovic, Svetozar Stojanovic und Ljubomir Tadic unterstützten ab Mitte der achtziger Jahre offen den serbischen Nationalismus. Markovic wurde Berater Milosevics und Vize der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS). Stojanovic wurde Berater des nationalistischen Schriftstellers Dobrica Cosic. Die zweite Generation der Praxis-Philosophie, Leute wie Nebojsa Popov oder Vesna Pesic, die bei Markovic und Stojanovic studiert hatten, verfolgten das Projekt einer linksmarxistischen Kritik nicht mehr weiter.

Rastko Mocnik sagt, dass "ihre Positionen leider unfähig waren, die Faschisierung Serbiens zu verhindern. Sie kämpften gegen diese Faschisierung, gegen diese eigenartige Mischung aus Nationalismus mit sozialen Implikationen, mit einem liberalen Diskurs. Das geht nicht, Faschismus mit Liberalismus zu bekämpfen, denn der Faschismus ist ja bereits eine Antwort auf die Widersprüche des Liberalismus. So musste diese Schlacht verloren gehen."

Kroatischer Frühling

Im Jahr 1971 fand eines der Crossover von Praxis-Philosophie und linker studentischer Bewegung statt: Zusammen gegen den Nationalismus des Kroatischen Frühlings! Danko Grlic schrieb im Praxis-Heft 3-4/1971, "Ein Augenblick des jugoslawischen Sozialismus", dass der "Kampf gegen das Alte, gegen alle Formen des Etatismus, Bürokratismus und Zentralismus, gegen alle verknöcherten und schon ziemlich ausgeleierten Machtzentren, dieser gesunde Kampf, mit demokratischen Impulsen geführt, um die alten Hypostasen und dogmatischen Konzepte zu zerstören, sich sowohl auf ein wirklich neues wie auf ein scheinbar neues Konzept stützen könne. Wurde nicht die Mystifizierung mit dem Nationalen deshalb geschaffen und so besorgt umhegt, gerade damit dieser Kampf nicht von den viel gefährlicheren linken Kräften theoretisch und praktisch seinen Sinn erhält, damit durch dieses scheinbar Neue die Unzufriedenen unmöglich gemacht werden, jene, die schon seit Jahren von der Position der Linken, also der Position des Sozialismus aus, kritisch über diese alten Strukturen und die Etablierung des Status quo sprechen?"

Der Kroatische Frühling hatte sein Vorspiel 1967, als kroatische LinguistInnen und SchriftstellerInnen das serbo-kroatische Sprachabkommen von 1954 angriffen. 1967 waren die ersten beiden Bände eines gemeinsamen Wörterbuchs erschienen, das sie als sprachliche "Vermischung" kritisierten, die die Tradition der kroatischen Schriftsprache außer Acht ließe. Sie erhielten Unterstützung von der Zagreber Parteileitung unter Savka Dabcevic-Kucar und Staatsminister Mirko Tripalo, die eine nationalistische Variante des politischen und ökonomischen Liberalismus verfolgten.

Eine ihrer Hauptforderungen bestand darin, über Deviseneinkünfte und Investitionsentscheidungen selber bestimmen zu können. Die Teilrepubliken konnten 15 Prozent der Devisen selber verwalten, der Rest wurde zentral umverteilt. Viele Leute luden diese Forderung mit nationalistischen Rhetoriken auf: Kroatien werde kolonisiert und wegen der sinkenden Geburtenrate sei die kroatische Nation im Begriff auszusterben. Die kroatische Kulturorganisation Matica hrvatska brach die Arbeit am gemeinsamen Wörterbuch ab und annullierte das Sprachabkommen von Novi Sad. 1971 kam eine neue "kroatische Rechtschreibung" heraus, die ein Jahr später verboten wurde. 1991 sollte sie wieder erscheinen. Die kroatische Partei unterstützte die Matica hrvatska. Sie forderte eine eigene Nationalbank, eine eigene Währung, eine eigene Armee und den Anschluss der Teile Bosnien-Herzegowinas, in denen mehrheitlich Kroaten leben.

Im Dezember 1971 wurden Dabcevic-Kuca und Tripalo abgesetzt, die Leitung der Matica hrvatska und eine Reihe von StudentInnen wurden verhaftet und zu langen Haftstrafen verurteilt, unter ihnen befanden sich Franjo Tudjman und Stipe Mesic. Tausende wurden aus der Partei ausgeschlossen. An diese Repression des kroatischen Nationalismus schloss sich die Absetzung der liberalen serbischen Parteiführung an, das Verbot der Zeitung Student 1971 und der Praxis-Gruppe 1975. Nach der Verfassungsänderung von 1974, die auf das von der Partei in jeder Hinsicht leer geräumte politische Feld aufgepfropft wurde, tauchte die nationalistische Rhetorik des Kroatischen Frühlings, dass die eine Republik von der nächsten ausgebeutet werde, wieder auf. Sie sollte bis zur Zerschlagung des Landes nicht mehr verschwinden.

Pop und Theorie kaputt

Mitte der achtziger Jahre beginnt Dragan Ambrozic, für die Zeitung Student zu schreiben, die kurz nach ihrem Verbot 1971 wieder erschienen war. Das 68er-Blatt war inzwischen zu einer Zeitung der neuen sozialen Bewegungen geworden, halb mikropolitisch, halb zivilgesellschaftlich orientiert. Für Dragan fing alles damit an, dass Jukebox 1983 eingestellt wurde. Danach kam die langweilige Phase der Zeitung Rock, voller Artikel über Mainstream-Musik mit Coverstories über Bruce Springsteen. Der einzige Lichtblick in Sachen Pop-Theorie war "Mystery Train", eine TV-Sendung von Zikica Simic auf Studio B, der Violent Femmes, Dream Syndicates und alles, was an neuen Platten der Postpunk-Szene herauskam, spielte.

Nach zwölf Folgen verschwand "Mystery Train" vom Bildschirm: "Ich dachte, wir müssen selber weitermachen. Einer meiner Freunde hatte einen Freund bei Student. Ich schrieb meinen ersten Artikel über 'Mystery Train'. So kam Popkultur bei Student an. Danach fragte ich jüngere Leute, ob sie Artikel schreiben wollten. Ich hatte ja noch mit Pere Ubu- und Neil Young-Platten angefangen. Wir bekamen eine feste Seite im Heft. Dann übernahm ich den 'Theorie'-Teil in Student. In den letzten Jahren war die Zeitung zur Mladina Belgrads geworden. Es ging um die Fusion von Popkultur und Politik. Wir hatten Kontakt zu politischen, ökologischen und feministischen Gruppen, die sich im SKC trafen. Die Feministinnen gründeten später das Notruftelefon für Frauen. Nach ein, zwei Jahren hatte Student viele neue MitarbeiterInnen. Als die Zagreber Zeitung studentski list zeitgleich mit uns einen ganz ähnlichen Artikel über Butthole Surfers veröffentlichte, beschlossen wir, eine eigene Musikzeitung zu gründen. Das war 1988. Wir nannten das Magazin Ritam. Leute aus allen Teilen Jugoslawiens schrieben dort. Aus Belgrad waren einige dabei, die ein Jahr später die erste Musikredaktion von B-92 bildeten. 1989, 1990, 1991 wurde der kulturelle Underground immer stärker. Leute aus verschiedenen Teilrepubliken arbeiteten zusammen. Mit dem Beginn der Kriege brach alles zusammen. Wenn ich in westlichen Medien diese Scheiße von Jahrhunderten des Hasses auf dem Balkan höre, werde ich wahnsinnig. Der Nationalismus kam von oben, von nationalistischen Intellektuellen und nationalistischen Leuten in der Partei."

Der pro-jugoslawische Ansatz von Student und Ritam lief nicht mehr über eine gemeinsame linksmarxistische Diskussion und Radikalisierung der Selbstverwaltungsidee, sondern über radikal-demokratische Forderungen, Subkultur, Feminismus, Reste der neuen Linken und die Gründung privater Initiativen. Mit dieser Theorie-Praxis-Mischung wurde in den achtziger Jahren die soziale Debatte erneut geöffnet und ging dann in der Brandung von Kapitalisierung und Nationalismus unter. Slavoj Zizek hat die neuen sozialen Bewegungen der Achtziger die "verschwindenden Vermittler" Jugoslawiens genannt.

Die Marginalisierung einer radikalen

Kapitalismus-Kritik nach 1974 hat dazu geführt, dass Punk, Alternativszene und civil society-Diskurs zwar Veränderungen anstießen, sich die Nationalisierung des Sozialen jedoch ungehindert fortsetzte. Zizek beschreibt, inwieweit Nationalismus ein hysterischer Trick ist, Kapitalismus ohne seinen Exzess, ohne seine inneren Antagonismen, ohne Unterdrückung denken zu wollen. Der Ausbeutungsmechanismus wird nach außen auf den nationalen Feind projiziert. Es sind die anderen Nationen, die uns unseren Reichtum und unser Glück stehlen. Diese nationalistische Figur wurde aus der Zeit des Kroatischen Frühlings reimportiert. Die Teilrepubliken, insbesondere Slowenien, Kroatien und Serbien, verbreiteten den Mythos, von den jeweils anderen Republiken unterdrückt und ausgebeutet zu werden.

Nach den jugoslawischen Sezessionskriegen ist in Belgrad eine dritte Generation politischer AktivistInnen groß geworden: die protestierenden StudentInnen von 1996/97. Ging bei den Kindern von 1974 der Antikapitalismus verloren, ist es jetzt der Antinationalismus. Studentische Gruppen wie Otpor ("Widerstand") versuchen mit weichen Strategien, einen militanten und populistischen Nationalismus, den die Koalition von antikommunistischen Intellektuellen und autoritären Kräften im Bund der Kommunisten Serbiens Mitte der achtziger Jahre geboren haben, in einen gemäßigten Patriotismus zu transformieren. Ihre Aktionen konzentrieren sich auf eine Totalitarismus-Kritik am neuen Medien- und Hochschulgesetz, auf die Forderungen eine Absetzung von Milosevic, nach Neuwahlen und auf die Hoffnung, in der "Gemeinschaft des Westens" anzukommen.

Mit diesem unmöglichen Traum einer Ankunft wird verdrängt, dass der so genannte Westen eine analoge Geschichte von Scheitern und Integration der 68er Generation, von der Marginalisierung der neuen sozialen Bewegungen und der Geburt eines nationalistischen Mainstreams zu erzählen hat.