Der Sound der Freiheit

»Wir gehen nicht ins Kino, um Musik zu hören«, schrieb der französische Komponist Maurice Jaubert. Dennoch leben die Bilder des Poetischen Realismus durch seine Kompositionen. Eine Erinnerung zum 100. Geburtstag des Wegbereiters der modernen Filmmusik.

Auf Fran ç ois Truffaut übte die Musik Maurice Jauberts eine große Faszination aus, seitdem er sie in den französischen Filmen der dreißiger Jahre gehört hatte. Dass sich die Idee, die er mit »L'Histoire d'Adèle H.« (»Die Geschichte der Adele H.«) verband, realisieren ließ - nämlich den Film »nur auf einem einzigen Gesicht aufzubauen« -, verdanke er Isabelle Adjani, »die eine hochinteressante Schauspielerin ist«, »und sicher auch der Musik Maurice Jauberts«.

Truffaut, muss man sagen, gehört zu den wenigen, die sich der Arbeiten des zu seiner Zeit einflussreichen, heute aber weitgehend unbekannten Komponisten erinnern. Maurice Jaubert, kein Protagonist der Avantgarde, eher einer ihrer Wegbegleiter, findet Anfang der Zwanziger Anschluss an die Pariser Künstler-Szene. In der Musik gibt seit 1919 die Groupe de six um ihren Mentor Erik Satie den Ton an. Le Six, wie sie bald überall genannt werden, haben sich vor allem durch die Ablehnung der Musik Richard Wagners zusammengefunden. Arthur Honegger, einer der Komponisten der Sechs, unterrichtet Maurice Jaubert und macht ihn mit den Six-Künstlern bekannt.

In den Diskussionen, die der wissbegierige Kompositionsschüler dabei miterlebt, geht es nicht allein um neue Wege in der Musik, sondern auch um die sozialen Utopien der Zeit. Jaubert wird hier zum ersten Mal mit sozialistischen Ideen konfrontiert, die bald einen wachsenden Einfluss auf ihn ausüben werden.

Obwohl er durch dieses Umfeld intensiv mit neuen Tendenzen in der Musik bekannt gemacht wird, orientiert sich Jaubert, durch seine Kindheit und Jugend in Nizza beeinflusst, vor allem an der Folklore der Haute Provence und entwickelt eine eigene musikalische Sprache, die sich keiner Schule zuordnen lässt.

Jaubert, am 3. Januar 1900 als Sohn einer einflussreichen Juristenfamilie in Nizza geboren, besucht das Musikkonservatorium von Nizza und reiht sich dennoch mit einem Jura-Studium zunächst in die Familientradition ein. Mit 19 Jahren ist er Frankreichs jüngster Jurist. 1921 überzeugt ihn jedoch sein ehemaliger Schulfreund Georges Neveux, sich ganz der Musik zuzuwenden. 1925 kann Jaubert bereits erste Erfolge verbuchen. Das Verlagshaus Jean Jobert veröffentlicht seine Komposition »Quatre Romances« für Gesang und Klavier, und Jaubert übernimmt den Posten eines musikalischen Direktors bei der Schallplattenfirma Pleyela, wo er Studio-Erfahrungen in der Arbeit mit kleinen Orchestern sammeln kann. Bei einer Aufnahme für Pleyela lernt er die Sängerin Marthe Brega kennen und verliebt sich in sie. 1926 heiraten sie und bekommen eine Tochter, Fran ç oise.

Wichtig, vor allem auch für seine politische Sozialisation, wird die Bekanntschaft mit den Surrealisten, deren Mitglied er wird. Wie Jaubert sind die Surrealisten Kinder des Bürgertums, die sich allerdings von ihrer Klasse losgesagt haben, um - auch das eine Kunst - Künstler zu werden. Jaubert hat mit seiner Herkunft noch nicht gebrochen, erst in den leidenschaftlichen Diskussionen kommt er allmählich zu der Überzeugung, dass man als Künstler Sozialist sein müsse.

Im Umkreis der Surrealisten lernt er auch den Filmemacher Jean Renoir kennen. Der verpflichtet Jaubert, für seine Verfilmung von ƒmile Zolas Roman »Nana« eine Auswahl traditioneller Musik zusammenzustellen und neu zu arrangieren. Die Filmpremiere endet mit einer Saalschlacht zwischen Anhängern und Gegnern des Werks. Trotz dieser furiosen Premiere wird »Nana« ein Misserfolg.

Mehr Aufmerksamkeit erhält Jaubert durch seine Bühnenmusik, die er 1928 für die Schauspieltruppe Les Compagnons de Notre Dame komponiert hat. Beflügelt von diesem Erfolg, macht sich Jaubert an die Komposition einer Oper nach einem Gedicht des mit ihm befreundeten Dichters Jules Supervielle. »Contrebande« ist zugleich der Versuch, im traditionellen Musikbetrieb Fuß zu fassen, aber die Oper wird weder aufgeführt, noch kann Jaubert einen Verlag finden, der das Werk druckt. Ihm wird klar, dass er sich im publikumsorientierten Musikgewerbe nicht wird etablieren können.

Die kulturpolitische Macht der Musik-Avantgarde, mit der Jaubert zu Beginn seiner Pariser Zeit in Kontakt stand, exisitiert zehn Jahre später nicht mehr. Die Surrealisten haben sich nach André Bretons Beitritt zur Kommunistischen Partei Frankreichs radikalisiert. Breton will die Gruppe zu einer Solidaritätsaktion mit dem von Stalin ins Exil getriebenen Trotzki zwingen. Prévert und viele andere werden wegen ihrer Weigerung ausgeschlossen. Auch Jaubert mangelt es an politischer Überzeugung, er zieht sich aus dem Kreis zurück.

Im Frühjahr 1930 wechselt Jaubert zu der größeren Schallplattenfirma Pathé Cinéma discs. Das ganze Jahr über arbeitet er an »Le Jour«, einem Ballett mit Gesang nach Gedichten von Supervielle, das vom Pariser Symphonieorchester im Dezember 1931 uraufgeführt wird. Das eigenwillige Werk erhält gute Kritiken, und der Komponist Maurice Jaubert scheint kurz vor seinem Durchbruch zu stehen. Mit einem Anruf seines Freundes Jacques Prévert nimmt Jauberts Karriere eine Wendung: Er beginnt, für den Tonfilm zu komponieren. Prévert hat sich mit seinem jüngeren Bruder Pierre zusammengetan und ein Theaterstück mit dem Titel »L'Affaire est dans le sac« zu einem Filmstoff verarbeitet. »Das Ding ist gedreht« handelt von einem gelangweilten Millionär, der sich hocherfreut entführen lässt, von einem Huthändler mit nur einem einzigen Hut und einem chauvinistischen Kleinbürger.

Nach der Premiere im November 1932 erhält der Film zwar nur zwiespältige Kritiken; René Clair, der mit »Sous les toits de Paris« (»Unter den Dächern von Paris«) Triumphe feierte und gerade in den Vorbereitungen zu seinem neuen Film »Quatorze Juillet« steckt, ist jedoch von der Arbeit Jauberts so begeistert, dass er ihn beauftragt, die Musik zu dieser kostspieligen Produktion zu schreiben. »Der vierzehnte Juli« wird der zweite von insgesamt 37 Filmen, zu denen Jaubert in den dreißiger Jahren die Musik schreibt.

Jaubert lässt die Musik-Klischees der Stummfilm-Zeiten hinter sich und arbeitet an einer musikalischen Sprache, die dem Film angemessen scheint. Dabei lässt er sich auf die Bilder ein, ohne sie einfach zu illustrieren. Eine bis dahin vollkommen unübliche Arbeitweise. Für Jean Lods, der an einem halbstündigen Dokumentarfilm über die vier Jahreszeiten auf der Seine arbeitet, komponiert er zuerst die symphonische »La Suite Fran ç aise«. Erst dann beginnt Lods mit dem Schnitt, sodass der Film anhand der Musik montiert wird.

Für Jean Vigos Film »Zéro de Conduite« (»Betragen ungenügend«), ein wütender Protest gegen das Ordnungsregiment in einem Kinderheim, besorgt Jaubert im folgenden Jahr die Musik und experimentiert dabei mit vollkommen neuen Methoden der Musikgestaltung, um die außergewöhnliche Atmosphäre des zumeist mit jugendlichen Laiendarstellern abgedrehten Filmes zu treffen. Zum Beispiel verkehrt er für eine nächtliche Szene in Zeitlupe, in der die Kinder an der Kamera vorbeidefilieren, seine Partitur, sodass der letzte Takt der erste wird und in diesem Takt die letzte Note die erste. So eingespielt, verstärkt die Musik den geisterhaften Effekt der Szene. 1933 wird der Film wegen seiner anarchistischen Tendenzen von der Zensur verboten. Trotzdem kann Vigo seinen zweiten Langfilm »L'Atalante«, wieder mit Jauberts Musik, realisieren.

1936 stellt sich Jaubert in den Dienst der Volksfront und leitet als Dirigent zahlreiche Musikveranstaltungen der Gewerkschaften. Für die Sozialistische Internationale komponiert er 1938 das Chorwerk »Ils étaient trois«. Jacques Prévert, der sich auf ähnliche Weise mit den Zielen der Volksfront identifiziert, hat für den jungen Regisseur Marcel Carné 1937 ein Drehbuch mit dem Titel »Dr(tm)le de drame« geschrieben. Jean-Louis Barrault spielt in diesem Film einen Mann, der aus Liebe zu den Schafen die Metzger ermordet. Prévert kann sich für diesen Stoff im Geist von »L' Affaire est dans le sac« nur Jaubert als Komponisten vorstellen. Das bizarre Drama ist die erste gemeinsame Arbeit von Jaubert, Prévert und Carné, die ihre einzigartige Zusammenarbeit bis zum Ausbruch des Krieges fortsetzen: 1938 mit »Quai des brumes« (»Hafen im Nebel«) und »H(tm)tel du Nord« und 1939 mit »Le Jour se lève« (»Der Tag bricht an«).

Im verzweifelten Humor von »L'Affaire est dans le sac« oder »Dr(tm)le de drame«, in der zutiefst ausweglosen Situation des flüchtenden Deserteurs Jean Gabin in »Quai des brumes« oder in der Darstellung des zum Mörder gewordenen Metallarbeiters in »Le Jour se lève« spiegelt sich die beunruhigende Atmosphäre dieser Zeit. Und Jaubert gelingt es mit seinen melancholisch-schwermütigen Kompositionen, den Arbeiter-Helden dieser Filme eine bis heute erhaltene Aura zu verleihen.

Obwohl sich der »Valse grise« und das Chanson »Ë Paris, dans chaque faubourg« zu Gassenhauern entwickeln, findet Jaubert als ernsthafter Komponist nur wenig Anerkennung. Er ist mit der Fertigstellung von »L'Eau vivre« (nach Texten von Jean Giono) beschäftigt, als er am 1. August 1939 von der Generalmobilmachung überrrascht und eingezogen wird.

Maurice Jaubert stirbt im Alter von 41 Jahren, als er im Juni 1940 durch eine deutsche Gewehrkugel tödlich verwundet wird. In der Armee arbeitete er bis zuletzt an seinen beiden Werken, »Saisir« (wieder nach Gedichten von Supervielle) und »Les Psaumes pour le temps de guerre«.

Jaubert sah sich als eine Art Forscher, der damit beschäftigt war, die Entwicklung eines neuen Genres voranzutreiben. Dieses könne, so hoffte er, sich auf Ballett, Oper und Film stützend, vielleicht die dramatische Musikform der Zukunft werden. Seine Filmkompositionen lassen ahnen, welche Vision ihm dabei vorgeschwebt haben mag.