Im Jahr des Aleph

Sturm auf La Tablada

Neunzehnhundertneunundachtzig - Chronik einer Konterrevolution in Argentinien.

»Dieses Jahr ist unser Aleph«, schreiben die Herausgeber der argentinischen Zeitschrift La escena contemporánea in ihrem Vorwort zum Themenheft »1989«. Jorge Luis Borges nennt ein Aleph in seiner gleichnamigen Erzählung den Punkt, an dem alle anderen Punkte zusammenfallen; eine Hypertrophie des Sinns. Der »Fall« der Berliner Mauer, mit dem Eric Hobsbawm das kurze 20. Jahrhundert als »Zeitalter der Extreme« an sein mythisches Ende stoßen lässt, ist in Argentinien nur einen Nebensatz wert. Andere Ereignisse markieren diese Zeit: Das Jahr, in dem die argentinische Präsidentschaft von Raœl Alfons'n auf Carlos Menem überging, begann mit dem phantasmatischen Aufbäumen einer längst zerschlagenen revolutionären Option und endete im Triumph der dollarisierten Freihandelsökonomie.

Am 23. Januar stürmen bewaffnete Aktivisten des linken Movimiento Todos por la Patria (MTP) die Kaserne La Tablada, angeblich um einem bevorstehenden Militärputsch zuvorzukommen. Armee-Einheiten schlagen die Attacke blutig nieder, etliche der Angreifer werden offensichtlich noch nach ihrer Kapitulation exekutiert. Alfons'n, der tags darauf das Regiment besucht, spricht von einer »Putsch-Parodie«, mit der die Bevölkerung gegen die Streitkräfte aufgebracht werden solle; die Vereinigte Linke verurteilt den »barbarischen Anschlag« als Steilvorlage für die Rechte bei ihrem Versuch, ein neues Anti-Terror-Gesetz durchzusetzen. »Wieder einmal«, erklärt der Oberkommandierende der Armee, Francisco Gassino, »schließt das argentinische Heer die Reihen fester, um seine Toten für das Vaterland zu ehren«.

Die Inflation steigt im März auf 36 Prozent, im April überschreitet der Dollar die 100-Australes-Marke und Wirtschaftsminister Sourrouille erklärt seinen Rücktritt. Die pittoreske Wahlkampagne des Provinzgouverneurs Menem zeigt Wirkung, 600 000 Menschen folgen ihm auf der letzten Etappe seines »Föderalen Marsches der Hoffnung« nach Buenos Aires. Am 14. Mai setzt sich Menem mit 47 Prozent der Stimmen klar gegen den bürgerlichen Kandidaten Angeloz durch.

Während Alfons'n erklärt, trotz der Krise verfassungsgemäß bis zum 10. Dezember weiterzuregieren, und erneut den Wirtschaftsminister auswechselt, kommt es in Rosario und C-rdoba zu Plünderungen von Supermärkten. Am 15. Juni einigt man sich auf den 8. Juli als Datum für den vorgezogenen Machtwechsel. Neuer Wirtschaftsminister wird Miguel Roig, Ex-Vizepräsident des größten nationalen Konzerns Bunge & Born. Roberto Dromi, Minister für die Staatsbetriebe, beginnt sofort mit rigorosen Privatisierungen, während Roig ein Notprogramm für den Zinsendienst auf Auslandsschulden und ein 90tägiges Lohn- und Preis-Moratorium ankündigt. Einen Tag vor dessen Inkrafttreten erliegt er einem Herzinfarkt, sein Nachfolger wird Néstor Rapanelli, der Präsident von Bunge & Born. Im La-Tablada-Prozess plädiert der Staatsanwalt auf lebenslänglich für alle 20 Angeklagten.

Der Konflikt der neuen Regierung mit den - ebenfalls peronistischen - Gewerkschaften spitzt sich im August und September zu, als Menem einen Streik der Eisenbahner für illegal erklärt und mit Lohnstreichung droht. Per Dekret wird die Privatisierung des Telefon- und Eisenbahn-Netzes, der staatlichen Öl-Industrie und von zwei Fernsehkanälen angeordnet. Im Gegenzug kommt ein Abkommen mit IWF und Weltbank über neue Kredite zu Stande.

Im Oktober amnestiert Menem per Dekret die 39 verbliebenen Militärs, denen wegen Mordes und Entführung der Prozess gemacht wird, außerdem 64 ehemalige Guerilleros und 172 wegen der Putschversuche zwischen 1983 und 1987 verurteilte Armeeangehörige. Die Menschenrechtsorganisationen protestieren mit einer Massenkundgebung und mit einer Klage vor dem Verfassungsgericht, die von den »Madres de la Plaza de Mayo« nicht mitgetragen wird, da sie ihr grundsätzliches Misstrauen in eine Justiz erklären, »die den Mördern unserer Kinder vergibt«. Die Angreifer von La Tablada werden zu lebenslänglich bzw. zu Freiheitsstrafen von zehn bis zwanzig Jahren verurteilt.

Im November erreicht der Dollar 1 000 Australes. Ein Streik der öffentlichen Verkehrsmittel wird von Menem erneut für illegal erklärt, endet aber schließlich in Tarifkompromissen. Erneute Einschnitte in die Staatsausgaben führen im Dezember zunächst zu Schlangen vor Supermärkten und Tankstellen, darauf zu Preisexplosionen von bis zu 85 Prozent. Der Dollar steigt auf 2 000 Australes, Rapanelli wird durch Antonio Ermán González ersetzt, der sogleich die völlige Freigabe von Dollar-Kurs und Preisen anordnet. »Wir sitzen alle im gleichen Flugzeug«, erklärt Menem, »Fallschirme gibt es nicht.«