Schwierigkeiten mit der Ästhetik

Schwierigkeiten mit der Ästhetik

Anmerkungen zu den ästhetischen Begriffen des 4. Bandes des »Historisch-Kritischen Wörterbuches des Marxismus«.

Der kürzlich im Argument-Verlag als weiterer Teil des Gesamtprojektes erschienene 4. Band des »Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus« (HKWM), »Fabel bis Gegenmacht«, enthält aus alphabetischer Notwendigkeit eine Reihe von Begriffen aus der Ästhetik, deren Erläuterung in einem Wörterbuch zum Marxismus auf den ersten Blick nicht einsichtig erscheint.

Marx hat bekanntlich keine Kunst- und Kulturtheorie geliefert, und selbst die weit verstreuten, bruchstückhaften Äußerungen von ihm (und Engels) zur Ästhetik waren schwerlich als »Ansatz« für eine ästhetische Theorie zu gebrauchen. Marx und Engels hatten auch nie die Absicht, eine solche zu formulieren, was natürlich nicht ausschloss, dass epigonale »Zusammenstellungen« ihrer Aussprüche zur Kunst nicht doch noch als »Theorie« verkauft wurden.

Der Hang der meisten Marxisten, ihre Theorie als allgemeine Gesellschaftstheorie zu betrachten, die mit der Theorie und Methode von Marx und marxistisch inspirierten Weiterentwicklungen alle sozialen Erscheinungen aus Vergangenheit und Gegenwart zu erklären versucht, stößt theorieimmanent dort auf die gravierendsten Probleme, wo von vornherein kein marxistisches »Urmodell« der Theoriebildung vorliegt. Das ist u.a. in der Kunst so.

Wenn dann noch dazukommt, dass die im Wörterbuch behandelten Kategorien sich in erheblichem Maße erst im 20. Jahrhundert voll ausbildeten und ihre eigenen Werkgesetze und Erklärungsmuster besaßen und besitzen, dann wird es sicherlich nicht leicht, eine direkte Herleitung zu Marx zu kreieren, da der ja bekanntlich im 19. Jahrhundert dachte und agierte.

Die Ignoranz der Marxisten, im mechanistischen Kanon der II. und III. Internationale dem kulturellen Faktor der Gesellschaftsentwicklung nur einen sehr geringen Stellenwert beizumessen, rächte sich in den revolutionären Phasen der Weltgeschichte bitterlich, weil man nach der Eroberung der Macht mit der eigentlichen (kulturellen) Arbeit einer Bewusstseinsgewinnung der Massen eben wegen der Geringschätzung der Kultur gar nicht richtig beginnen konnte. Lenin und Antonio Gramsci immerhin ahnten, dass die Defizite der Marxisten in kulturellen Fragen geeignet waren, das Projekt der Revolution grundsätzlich in Frage zu stellen.

Die Versuche, marxistisch fundierte ästhetische Entwürfe und Theorien zu entwickeln, waren und sind natürlich legitim und auch (immer noch) erforderlich. Ein großer Vorzug der marxistischen Theorieansätze, sofern sie sich an den methodischen und moralischen Grundpositionen von Karl Marx orientieren, besteht weiterhin darin, die Widersprüche des Kapitalismus aufzudecken, kleinste Anwandlungen sozialer Ungerechtigkeit anzuprangern und dann Vorschläge zur Abhilfe zu unterbreiten. Ästhetische Prozesse bleiben vom Erkenntnisinteresse des Marxismus dabei nicht unberührt. Aber die Stärken der marxistischen Theorie liegen eher in der Ökonomie und Soziologie, möglicherweise auch in der Philosophie und der Politik.

Ihre Antworten fallen dort stärker aus als in der Kunst. Eine materialistische Kunsttheorie wäre wohl dann als gelungen zu betrachten, wenn sie von den sozialen Wurzeln und Alltagsbedingungen einer Gesellschaft als ihrem Ausgangspunkt zum Eingriff in die vorhandenen Kunstdebatten fortschreitet und in einer Art »Vermittlungstätigkeit« zwischen Marxismus und Kunst eigene Arbeitsergebnisse vorlegen kann. Allerdings so zu tun, als läge im historischen Marxismus selbst bereits der Schlüssel zu einer marxistischen ästhetischen Theorie, der nur freigelegt werden müsse, ist reichlich irreführend. Die nicht gerade beruhigende Vorahnung, dass genau dieser Eindruck im HKWM erweckt werden soll, bestätigt sich bei der Lektüre.

Die Probleme des Wörterbuches mit den ästhetischen Begriffen sind systematischer und inhaltlicher Art, was aber nicht bedeuten soll, dass dort ausschließlich Chaos herrschte. Jedoch werfen bereits die Auswahl der Begriffe und ihre lexikalische Behandlung Fragen auf.

Der Band 4 führt in unserem Zusammenhang folgende Stichworte an: Fabel; Faustus-Debatte; Fernsehen; Fiktion; Film; Filmmusik; Form; Formalismus-Kampagnen; Formalismus, russischer, Formgehalt; Forminhalt; Fotomontage; Futurismus und Gegenkultur. Die Zusammenführung von abstrakten Begriffen (z.B. Form), Oberbegriffen für Kunstrichtungen (z.B. Futurismus) und politischen Debatten über Kunst (z.B. Faustus-Debatte) ist zwar vorbildlich, weil in allen drei Bereichen der Einfluss marxistischer Denkhaltungen spürbar wurde, indes sind einige Termini, die hier elementarerweise der Kunstsphäre zugerechnet werden können, wie Fiktion oder Form, fast nur unter einem philosophischen Blickwinkel analysiert worden.

Ohne Zweifel ist der philosophische Gehalt bei beiden genannten Begriffen gegeben, die zentrale Bedeutung des Fiktionalen und der Form für ein ästhetisches Verständnis wird hierbei aber lediglich gestreift. Im Grunde sind damit die dialektischen Beziehungen von fiktional/doku-mentarisch bzw. von Form/Inhalt, die in den verschiedenen Kunstdiskussionen nach wie vor eine Rolle spielen, erneut ausgespart worden, obwohl gerade diese Begriffspaare innerhalb des Marxismus stets kontroverse Auseinandersetzungen ausgelöst haben. Sie werden dann im Rahmen der Stichworte Fernsehen und Film erwähnt, allerdings nicht konzentriert ausgearbeitet. Die von Form abgeleiteten Begriffe Formgehalt und Forminhalt enthalten daran anschließend überhaupt keine Verbindung zur Kunst mehr.

Neben dem Stichwort Film erscheint der Begriff Filmmusik, dessen Auftauchen im HKWM erst einmal unerfindlich ist, denn konsequent weitergedacht hätten danach auch andere mit dem Film verwandte Stichworte wie Filmform, Filmbild u.Ä. ihre Berechtigung zu einer eigenständigen Betrachtung gehabt. Die Extrabesetzung der Filmmusik mit einem eigenen Kapitel speist sich natürlich aus der Existenz des Buches »Komposition für den Film« von Theodor W. Adorno und Hanns Eisler, aber die Bezugnahme auf eine einzige Veröffentlichung, so wichtig diese insgesamt auch wäre, hätte im Zusammenhang mit Filmform und Sergej Eisenstein als Einzelperson ebenfalls angewendet werden können. Zum Bereich Foto gibt es, wegen der historischen Bedeutung John Heartfields, Sergej Tretjakows und Klaus Staecks, das Stichwort Fotomontage, nicht aber die Fotografie, die unter dem lapidaren Verweis auf das Brecht-Zitat von der Fotografie »in den Händen der Bourgeoisie« als »furchtbarer Waffe gegen die Wahrheit« der Fotomontage als »Widerpart« entgegengestellt wird.

Dass die Fotografie die Grundlage aller modernen Bildmedien ist, versteht sich laut HKWM hiernach von selbst, müsste aber dann auch mit der Einbeziehung anderer medialer Grundbegriffe wie Fernsehen und Film kollidieren, bei denen der Objektivitätsanspruch des Wörterbuches dennoch aufrechterhalten bleibt.

Inhaltlich zeigen sich besonders beim Eröffnungsbegriff Fabel die angesprochenen Differenzen zwischen konstruierter marxistischer Einflussnahme auf künstlerische Kriterien und dem eigentlichen Gegenstand des Artikels. Der Text ist lexikalisch solide, muss aber notgedrungen auf Marx und den Marxismus fast ganz verzichten, da sich Marx und die Marxisten über den Begriff Fabel keine bedeutenden Gedanken gemacht hatten. Die Zitaten-Linie umfasst Denker wie Machiavelli, Hobbes und Mandeville, die von Marx mehr oder weniger intensiv rezipiert wurden. Dass sie bis in die marxistische Theoriebildung wegen ihrer Erläuterung der Fabel vordrangen, war bislang neu. Und auch die Erwähnung von Horaz, dessen Ausspruch »De te fabula narratur!« bei Marx Verwendung fand, genügt wohl nicht, um die strukturelle Bedeutung des Begriffes Fabel für den Marxismus zu verdeutlichen.

Fernsehen wird, für den exorbitanten Einfluss, den dieses Medium in der Gesellschaft besitzt, ungewöhnlich knapp (auf elf Spalten) abgehandelt. Die generelle Bedeutung des Fernsehens für politische Entscheidungen, die gerade auch immer wieder von Marxisten zu Recht hervorgehoben wird, schlägt sich in dem Artikel nicht entsprechend nieder.

Zwar wird eine plausible Darstellungsunterteilung des Fernsehens in »technologisch-ökonomisch-politisches Dispositiv«, »Ästhetik« und »ideologische Formierung« vorgenommen, die praktische Zusammenwirkung dieser Aspekte, die das Fernsehen als System eigentlich erst ausmacht, aber wenig reflektiert. In jener Situation, wo es einer konkreteren Thesen-Erläuterung bedurft hätte, nämlich in der Interpretation der Auffassungen von Raymond Williams über das Fernsehen als »flow« und in der Funktion des Fernsehens, disponible Zeit psychisch zu vergesellschaften, unterbleibt leider eine nähere Skizzierung. Obgleich behauptet wurde, dass die politische Bedeu-tung des Fernsehens alles andere als unterschätzt werden dürfe, schwächt der Artikel den Propaganda-Effekt des Mediums wieder ab, indem gesagt wird, dass der Nachweis, »dass Fernsehen jemals eine erfolgreiche Rolle in einer entschlossenen Propagandamaschine gespielt hat«, schwierig zu führen sei, der Ideologie-Effekt aber natürlich unbestritten wäre.

Dagegen ließe sich sofort einwenden, dass eben gerade das Fernsehen sowohl im deutschen Vereinigungsprozess als auch in der medialen Steuerung der Heimatfronten in Europa während des Zweiten Golf-Krieges und im jugoslawischen Bürgerkrieg konstitutiv Herrschaftsbewusstsein propagierte und ausbildete. Wenn man überhaupt einmal von Williams, Horst Holzer und eventuell Georg Seeßlen (der aber nicht genannt wird) absieht, dann hat ein wie auch immer definierter Marxismus gar keine originäre Fernsehtheorie erarbeitet.

Der Rückgriff auf allgemeinere Medientheorien, wie sie Brecht, der sowjetische Filmregisseur Dsiga Wertow, Oskar Negt und Alexander Kluge sowie der frühe Hans Magnus Enzensberger entwickelten, ist bei diesem Stichwort daher verständlich, lässt indes aber wiederum Zwiespältigkeit über das Verhältnis von Marxismus und dem behandelten Begriff aufkommen.

Ähnliche Schwierigkeiten bei der Einordnung hat auch die Begriffsbestimmung zum Film. Sie verfährt höchst selektiv mit den theoretischen Elementen. Der Hinweis auf Siegfried Kracauers Diktum vom Film als »Enthüller physischer Realität« zielt am Anfang des Textes zutreffend auf die Realismus-Dominanz der marxistischen Filmtheorie, nur sollte Kracauer, der erwiesenermaßen kein Marxist gewesen ist, hierzu nicht unbedingt als Kronzeuge herangezogen werden.

Das parallel zu Kracauer entstandene Realismusmodell des Films von André Bazin, in welchem auch viele theoretische Übereinstimmungen mit Kracauer vorhanden sind, wird dagegen als »bürgerliche Film-Ontologie« bezeichnet. Die einzelnen Etappen und Strömungen marxistischer Überlegungen zum Film sind im weiteren kursorisch zusammengefasst worden, wobei herausgestellt wird, dass die (mittlerweile längst überholte) Diskussion zum Verhältnis von Abbild und Wirklichkeit die Entwicklung einer marxistischen Filmtheorie entscheidend hemmte.

So nimmt es nicht wunder, dass die emanzipatorischen Theorie-Entwürfe der sowjetischen Filmklassik (Eisenstein, Pudowkin, Wertow) nur einen kleinen Teil des Textumfanges ausmachen, während die allgegenwärtige Mimesis-Theorie von Georg Lukács und Guido Aristarco ausgiebiger betrachtet wird. Die Erkenntnis, dass Filme symbolischer Ausdruck der sozialen Realität einer bestimmten Epoche sind, wurde zu lange von marxistischer Seite ignoriert. Wie der Autor des Textes außerdem zu der Ansicht gelangt, Pudowkins Film »Die Mutter« von 1926 würde wegen seiner »klassisch-narrativen« Erzählweise »vorbildlich für die Ästhetik des sozialistischen Realismus im Film« sein, wird wohl sein Geheimnis bleiben.

Die Film-Verantwortlichen in der KP mögen das für sich so (auch im Hinblick auf den gleichnamigen Roman von Gorki) interpretiert haben, der Film selbst besitzt starke sozialkritische Züge in der Beobachtung des Milieus der Industriearbeiter, sodass er vielmehr, wie auch andere Filme Pudowkins, für die Vereinnahmung durch die Doktrin des stalinistischen Realismus im Staatssozialismus unbrauchbar war. Interessanterweise stehen die wichtigsten Filmproduktionen, also die fertigen Filme, nirgendwo im Mittelpunkt des Textes.

Das nachfolgende Stichwort Filmmusik benutzt den Film und das schon angesprochene Buch von Adorno und Eisler sogar eher nur als Folie für Meditationen über die moderne Zwölftonmusik, obwohl hierbei wenigstens aufgezeigt wird, welche Engführungen die Filmmusik in der Geschichte des Films durch bloße musikalische Illustrationen der Filmbilder wie auch durch die Anwendung der Zwölftontechnik erleiden musste. Alles in allem befriedigen die beiden Stichwörter zum Film somit nicht.

Im Gegensatz dazu erfahren die politischen Debatten um das Faustus-Libretto von Eisler und die Formalismus-Kampagnen eine ausgesprochen komplexe und ausgereifte Bearbeitung. Im ersten Fall war 1953 in der DDR eine Auseinandersetzung um das von Hanns Eisler geschriebene Libretto zu seiner Oper »Johann Faustus« entbrannt, die die Polarisierung zwischen der SED-Kulturbürokratie und einzelnen Intellektuellen über die »richtige« Richtung der DDR-Kulturpolitik bloßlegte.

Bereits damals ging es um die Bedeutung des als Nationalkultur apostrophierten Erbes bürgerlicher Kulturkonzeptionen anhand von Goethes »Faust« und die Möglichkeit, oder besser: die Erlaubnis, der Faust-Figur moderne Aspekte zu verleihen. Eisler kam mit seiner musikalischen Faust-Interpretation nicht durch. Umrankt waren diese Diskussionen zweitens von den für den Machtbereich des »Marxismus-Leninismus« fast schon prototypischen Hysterien um den so genannten Formalismus, dessen nie definierter Inhalt ebenfalls ständig darin bestand, den »volkstümlichen Charakter« der »Kultur der Arbeiterklasse« vor Einflüssen einer nicht-stalinistischen Kultur zu schützen. Dass allerdings die Figuren Eisler und Brecht in beiden Artikeln gleichermaßen rundum positiv, ja sozusagen makellos beschrieben werden, wirkt störend. Für die Ambivalenzen innerhalb der Werkstruktur beider hat das HKWM keine Zeile parat, wofür neuere Arbeiten von Gerhard Scheit stehen, die im Wörterbuch an diesen Stellen nicht angeführt werden.

Bei den Oberbegriffen für Kunstströmungen ist am Begriff Futurismus eine nur schwer begründbare Doppelbehandlung der italienischen und der russischen Variante des Futurismus vorgenommen worden. Weil zum einen beide »Futurismen« bis auf den Namen, vor allem in ihren Konzeptionen des Umbaus der jeweiligen Gesellschaften, zu weit voneinander entfernt waren, und da sich zum anderen die Marxisten kaum mit dem italienischen Futurismus beschäftigt hatten, ist diese begriffliche Doppelbehandlung, die für allgemeine Lexika durchaus ihren Sinn hat, hier als zweifelhaft anzusehen.

Entschädigt werden die Leser dafür von dem ausgezeichneten Artikel zum russischen Formalismus, der die Widersprüche der marxistischen Theorie im Hinblick auf ihre vielfältigen Interventionen in ästhetische und spezialwissenschaftliche Kontroversen beleuchtet. Während die russischen Formalisten sich auf die Erschließung der Literatur konzentrierten, »standen die marxistischen Kunst-Soziologen«, wie es heißt, »vor dem alten Dilemma, wieder einmal (auf höherem Niveau) alles zusammenbringen zu müssen.« Offenbar hat sich an dieser Arbeitsweise im Marxismus noch nicht so viel geändert.

Damit soll aber keineswegs gesagt werden, dass das komprimierte Wissen des HKWM unnütz oder unwichtig ist. Die vorgetragene Kritik bezieht sich auf die ästhetischen Begriffe. Es wäre für die Zukunft jedoch allemal wünschenswert, wenn die historischen und kritischen Dimensionen des Wörterbuches gestärkt würden.

Der Schluss-Satz zum Begriff russischer Formalismus müsste Programm werden, damit der Marxismus sich nicht über alles auszulassen braucht: »Je weiter der Grad der Konkretisierung, der Differenzierung vorangetrieben werden konnte, je besser es gelang, am Gegenstand der Forschung den Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten, die Einheit des Mannigfaltigen geschichtlich und theoretisch zu rekonstruieren, desto weniger relevant war und ist die Frage, ob es sich dabei um eine mehr oder weniger konsequente marxistische Studie handelt.«