»Magnolia«

Wo ist L.A.?

... wo Gott, wo das Zentrum und wohin will die Filmkritik?

Ludger Blanke: Die Frösche. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft hatte, die zu übersehen oder nichts von ihnen zu wissen, sie flogen einem ja schon auf dem Plakat entgegen. Und wahrscheinlich wusste jeder andere im BerlinaleóKino, dass es irgendwann in diesem Film einen Regen von Fröschen geben würde, dass Millionen Kröten vom Himmel fallen und mit hässlichen Geräuschen auf Autodächern zerplatzen und durch Glasdächer fliegen. Und wahrscheinlich wussten auch schon alle, dass es in Wirklichkeit nur sieben Froschmodelle gegeben hat, die dann digitalisiert und computeranimiert worden sind usw.

Niemand war dementsprechend besonders überrascht. Mich aber haben die Frösche kalt erwischt. Ich wollte gerade beginnen, mich zu langweilen und mir feuilletonistische Gedanken darüber machen, ob sich eine Stadt mit einer dezentralen Struktur wie Los Angeles in den Erzählungen und den Filmen über sie abbildet (ja!) und ob jetzt nach dem angeblichen Ende der Geschichte auch das Ende der Geschichten gekommen sei (ja!) Ö Der Film lief schließlich schon über zwei Stunden und zumindest soviel wusste ich: Eine hatte ich noch vor mir. Da passierte dann aus buchstäblich heiterem Himmel dieses Unwetter. Kröten. Frogs all over. Das war so unglaublich und eklig und großartig, ich kann es jetzt noch kaum fassen, und mir läuft immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke.

Wozu also Filmkritik?

Ist es nicht besser, man weiß nichts oder so gut wie nichts über den Film, bevor man ins Kino geht? Oder Filmkritiken würden erst ein paar Wochen nach dem Kinostart veröffentlicht? Damit die Spannung und die Wendungen und Überraschungen des Filmes erhalten bleiben und man nicht schon mit einer vorgestanzten Meinung im Kopf weiter verblödet oder sich Gedanken über Christiane Peitz machen muss? Müssen auf der anderen Seite aber nicht Millionen von Menschen der Filmkritik dankbar sein für die Lebenszeit, die sie gewinnen, weil sie sich einen Film von Joseph Vilsmaier nicht angesehen haben? Filmkritik als virtuelle Umkleidekabine für Kinofilme, als Dienstleistung am Kunden, der so herausbekommen kann, ob er sich die Mühe machen will, einen Film anzuschauen und ob er die entsetzliche Architektur der Cinemaxe aufsuchen und Geld für Kinokarte und Parkplatz ausgeben will. Dafür erlebt er aber im Gegenzug, kein Abenteuer mehr, was das Kino ja immer noch sein kann und im Fall »Magnolia« auch ist.

Hast du eine Vorstellung, in welcher Beziehung dieser launige Prolog über die Zufälle zum eigentlichen Film steht? Zufälle gibts in dem Film doch gar nicht, höchstens Wunder!

Stefan Pethke: Das Intro ist eine Parodie. Vollgestopft mit TVóTabloidóEffekten wie OffóKommentar, eingezeichneten Skizzen, schnellen Schnitten macht es sich lustig über rationale Begründungen merkwürdiger Phänomene aus der Rubrik »Unglaublich, aber wahr!« Danach wird »Magnolia« schlagartig ruhig und ernst. Das Prozessó und Konzepthafte des Zufalls, sein VomóMenschenóGemachtes interessiert den Film nicht. Hier wird eine irgendwie andere Instanz für das Eintreten und Ausbleiben von Ereignissen verantwortlich gemacht.

Blanke: Ein katholischer Gott. Während bei Robert Altman Hubschrauber über der ganzen Stadt ein Gift versprühen gegen diese Fruchtfliegen, eine Plage, die man gar nicht sieht ó was in »Short Cuts« ein tolles Bild ist für protestantische (Selbstó)Reinigungsneurosen ó, gibt es bei Anderson eine biblische Plage mit massenweise Blut und Schleim. Ein Erlösungsdesaster. Nichts ist danach mehr wie vorher, auch nicht für den Zuschauer. Neben diesem barocken millionenfachen Krötentod wirken die Schicksale sämtlicher Beteiligter irgendwie nicht mehr ganz so schwerwiegend. Eine Atempause in der nie aufhörenden Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kindern. Für die steht dann auch diese Quizshow, in der Kinder gegen Erwachsene antreten. Der zentrale Ort dieses Films. »What do kids know?« fragt deren Titel, und das kann und soll auch heißen: Die haben keine Ahnung!

Pethke: Ich habe nicht recht verstanden, warum dieser Machtkampf mit konventionellen dramaturgischen GenreóKniffen erzählt werden muss. Ständig lauern Katastrophen, werden wir als Zuschauer unter Druck gehalten. Am Ende kommen alle Individualschicksale irgendwie davon. Die dafür benötigten Zufälle oder ó wie du sagst ó Wunder sind nicht wirklich von Menschen gemacht, sondern bestenfalls von ihnen exekutiert. Sie geschehen ihnen und verweisen gerade nicht auf Gesellschaftlichkeit. Die Figuren in »Magnolia« werden einer unerklärbaren Gnade teilhaftig, das hat am Ende etwas von einem religiösen Treppenwitz. Für mich ein Fall von etwas zu penetranter Autorenintention.

Blanke: Ich finde den Film da eher präzise. Es gibt zwei Stellen, in denen der Schöpfer unmittelbar in das Geschehen eingreift: Einmal, wenn alle beginnen, dieses Lied zu singen, »It's not going to stop« von Aimee Mann, eine offensichtliche Drehbuchidee. Der Song widerspricht auch dem Vorwurf, das VonóMenschenóGemachte dieser Wunder käme nicht vor. Und das andere Mal hat der Schöpfer seinen Auftritt, wenn es diesen unglaublichen Krötenregen gibt. Da tritt der liebe Gott aus den Kulissen und gibt sämtlichen Handlungen eine neue Wendung. Da weiß man aber auch schon, dass Gott eine Erfindung des Drehbuchautors ist, der hat sich ja schon offenbart. Eine Geschichte spannend zu erzählen, halte ich nicht einfach für einen dramaturgischen Kniff, sondern durchaus für eine filmische Entsprechung zu etwas, was zum Beispiel in der Literatur Erzählkunst heißt. Hinter diesen Kniffen kann sich Reichtum an Perspektive verbergen. Das ergibt einen erzählerischen Raum ó und dem angemessen auch einen fotografischen Raum ó, der Alternativen bietet u.a. zu den relativ linearen und flachen Dramaturgien naturalistischerer Darstellungsformen.

Noch etwas zum Vergleich Altman ó Anderson: So, wie die »Short Stories« von Raymond Carver den Hintergrund für »Short Cuts« bilden, bilden die Balladen der Aimee Mann den Hintergrund für »Magnolia«. Es fallen mir auch noch andere LosóAngelesóFilme ein, die wie diese zwei ihrer Geschichten dezentralisieren: »Grand Canyon«, »Go«, »Pulp Fiction«. Als ob sich das Bild der Stadt in der parzellierten Erzählung über sie abbildet. Kommt dann ein Film wie »Million Dollar Hotel« von Wim Wenders mit einem zentralen Ort daher, dann hat man gleich das Gefühl, das ist nicht Los Angeles.

Pethke: Sieht die Stadt aus wie eine räumliche Anordnung zeitgemäßer Beziehungsformen ó der Sprawl: zerstreut, versprengt, zerrissen? ó Oder stellt die Stadt diese Formen erst her? Hat die Stadt ó alte These rechter Zivilisationskritikó die klar strukturierte Familie zerstört? Ist die Abdankung des Vaters eine Folge zentrumsloser Stadtplanung? Die Frage nach der Gestalt von Los Angeles ist nicht identisch mit der nach der Art und Weise, wie die Stadt im Film, speziell in diesem, ins Bild gesetzt wird. Trotzdem stimmt es, dass es keine Urbanität gibt in »Magnolia« ó und keine einzige so genannte intakte Familie. Als der 50jährige Donnie Smith bei seinem Arbeitgeber einbricht, weil er Geld braucht für eine Zahnspange, gibt es einmal die Andeutung von öffentlicher Stadt: ein Straßenzug mit Geschäften ist zu sehen, ein mittelgroßer Parkplatz. Ansonsten ist die Erzählung weitgehend auf Privaträume beschränkt. Die seltenen Außenaufnahmen des Films finden bevorzugt um stille Wohnanlagen herum statt, wie in der Szene, als der Polizist Jim im Regen seine Knarre verliert. Da huscht dann zwar ein Suspenseóstiftendes Schemen mit Kapuze durch das Bild, aber das ist auch schon das einzige Anzeichen von Leben. Auch später bleiben solche Straßen immer gespenstisch leer. Leer ist auch die öffentliche Bibliothek, in der das Wunderkind Stanley absurde Fakten für das Quiz paukt.

Es gibt Ausnahmen: Das in der MagnoliaóAvenue gelegene TVóStudio, in dem die Show läuft, zeigt Öffentlichkeit im Zeitalter moderner Kommunikation. Das Studio bildet das Zentrum der Filmerzählung. Aber macht es das Forum oder die Agora überflüssig? Dann haben wir einen Veranstaltungssaal, von dessen Bühne Tom Cruise als MännergruppenóGuru in RockstaróPose Slogans zum Wiedererstarken der Männerpsyche herunterrappt. Öffentlichkeit ist das nicht gerade, eher Konspiration, Ausagieren in der Nische.

Was vom Ort im Film zu sehen ist, hat kein Außen im architektonischen Sinne: Bühne, Publikumsraum, BackstageóBereich. Dort wartet die kritische TVóJournalistin auf ihr perönliches Interview. Auch diese Show hört niemals auf. Die kleine Bar, die so unscheinbar wirkt, dass einem ihr Charakter eines Schwulentreffs nicht sofort auffällt, ist ein wenig ein Zwitterwesen: In dem Laden scheint niemand ausgeschlossen, insofern ist er halbóöffentlich.

Andererseits hat er etwas Familiäres, so wie das Stammpublikum miteinander umgeht. Auch hier gibt es soziale Rollen und Hierarchien. Trotzdem oder gerade deshalb bilden sich hier noch am besten großstädtische Verhältnisse ab, so wie wir sie kennen: wenn schon Familie, dann selbst gewählt.

Dass man keine Großstadt oder gar Metropole vorgeführt bekommt, heißt nicht, dass die Figuren verschnarcht, kleingeistig oder unzeitgemäß anmuten. Im Gegenteil, es kommt doch einiges zusammen: Drogen, Inzest, Pornomags, Bestellservices, laute Musik, Polizeieinsätze, schöne Autos, Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, unterschiedlicher Hautfarbe und Sexualorientierung, richtige Gesprächsthemen, bekannte DressóCodes. Auch das eine These, die schon länger around ist: Nicht die Metropole, sondern die zersiedelte Megalopolis steht für zeitgemäße, fragmentierte Existenz.

»Magnolia« von P.T. Anderson, USA 1999. Start: 13. April 2000