Zu Besuch bei Noel Martin

Ein deutscher Verkehrsunfall

Vor fünf Jahren wurde der afrobritische Bauarbeiter Noel Martin Opfer einer rassistischen Gewalttat. Seitdem ist er gelähmt und auf fremde Hilfe angewiesen.

Rund eine Million Mark Schmerzensgeld fordert der afrobritische Bauarbeiter Noel Martin von zwei jungen Männern aus der brandenburgischen Kleinstadt Mahlow. Nach einer rassistischen Gewalttat im Juni 1996 ist der 40jährige vom Nacken ab querschnittgelähmt. In diesen Wochen muss die 10. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam über seine Klage entscheiden. Sollte sie Erfolg haben, wäre die Summe nach Angaben des Nebenklägeranwalts Volker Ratzmann eine der höchsten zivilen Schadensersatzzahlungen in der deutschen Rechtsprechung. Ratzmann und sein Mandant sind optimistisch. Immerhin hat das Gericht Ende Juni den Prozesskostenhilfeantrag von Noel Martin positiv entschieden, da die Klage »Aussicht auf Erfolg« habe.

Mit der jetzt in Potsdam anhängigen Zivilklage fordert Noel Martin von Sandro R. und Mario P. 500 000 Mark Schmerzensgeld und eine monatliche Schmerzensgeldrente sowie 270 000 Mark Verdienstausfall. Hinzu kommen weitere 350 000 Mark jährlich für Pflegekosten, die Nebenkläger Volker Ratzmann auch bei der Haftpflichtversicherungsgesellschaft des von Mario P. gestohlenen Fahrzeugs geltend macht. Die Anwälte von Mario P. und Sandro R. haben die Klage zurückgewiesen. Sie wollen mit neuen Gutachten nachweisen, dass nicht der von Sandro R. geworfene Feldstein, sondern überhöhte Geschwindigkeit für den Unfall verantwortlich gewesen sei.

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»Ich bin in meinem Körper gefangen, seit fünf Jahren«, sagt Noel Martin über das Leben, das er seit dem Anschlag führt. Jeden Tag dieselbe Prozedur: Morgens muss Noel Martin aus dem Bett gehoben, gewaschen, angezogen und in den Rollstuhl gesetzt werden. Beim Rauchen ist er darauf angewiesen, dass eine Pflegerin ihm die Zigarette anzündet, sie ihm an die Lippen hält, sie wieder ausdrückt. Trinken kann er nur, wenn ihm jemand ein Glas Wasser bringt und den Strohhalm dicht genug vor seinen Mund hält. Bis zum Ellenbogen kann Noel Martin seinen rechten Arm spüren. Unterarm und Hand sind auf einer Metallschiene fixiert.

Wenn er in seinem Haus umherfahren will, bewegt er die Schultern und den rechten Oberarm. Dann schiebt die Metallschiene die gefühllose Hand zum Lenkmechanismus des elektrischen Rollstuhls, eine mit Schaumstoff überzogene Kugel. »Ich kann den Rollstuhl fahren, aber wenn mir die Hand von der Schaumstoffkugel herunterfällt, kann ich sie nicht wieder alleine anheben«, sagt Noel, und seine rechte Hand hängt neben der gelben Kugel, als ob sie nicht zu ihm gehöre.

Am 12. Juni 1996 wollten Noel Martin und seine Kollegen zu einem neuen Job auf einer Baustelle bei Halle aufbrechen. Doch die Fahrt von der brandenburgischen Kleinstadt Mahlow bei Berlin nach Halle endete an einem Alleebaum kurz hinter dem Ortsschild Mahlow. Ein sechs Kilogramm schwerer Feldstein flog durch das hintere Fenster seines alten Jaguar. Tatmotive des damals 18jährigen Steinewerfers Sandro R.: Rassismus und Ausländerhass. Die Folge für Noel Martin: Querschnittlähmung.

Eineinhalb Jahre hatte Noel Martin mit zwei afrobritischen Kollegen als selbstständiger Subunternehmer auf einer Baustelle in Mahlow gearbeitet und dort in einer Containersiedlung gelebt. Der Zwischenstopp in Mahlow am 16. Juni 1996 auf dem Weg nach Halle galt ihrem chinesischen Stammlokal. Dass sie am S-Bahnhof von einer Gruppe Jugendlicher aus dem Dorf beschimpft wurden, erschien ihnen zunächst nicht ungewöhnlich. Als sie dann bei der Weiterfahrt bemerkten, dass sie von Sandro R. und Mario P. verfolgt wurden, war es zu spät für ein Ausweichmanöver. Plötzlich flog der Stein, die Wucht des Aufpralls ließ Martin die Kontrolle über den Wagen verlieren, das Fahrzeug fuhr gegen einen Baum. Während die anderen Insassen noch Glück hatten und mit Prellungen davonkamen, erlitt Martin lebensgefährliche Verletzungen, mehrere Tage schwebte er in Lebensgefahr. An die folgenden Wochen, die er auf der Intensivstation eines Berliner Krankenhauses verbrachte, bis er nach England zurückkehren konnte, erinnert er sich nur noch undeutlich. »Damals habe ich mich oft gefragt, warum ich weiterleben sollte.« Irgendwann aber, sagt Martin, siegte der Wille, »so viel wie möglich von meinem Leben zurückzugewinnen.«

Die Prognosen waren allerdings niederschmetternd, zunächst gingen die Ärzte davon aus, dass die Lähmung Martin lediglich eine leichte Drehung des Kopfes erlauben werde. Doch während seines fünfmonatigen Aufenthalts in einer Rehabilitationsklinik bei Birmingham begann Noel Martin, seinem Körper Bewegungen abzutrotzen. Er beobachtete, wie Patienten mit niedrigerem Lähmungsgrad mit Gewichten ihren Oberkörper und die Armmuskulatur trainierten. »Ich lag tagelang weinend im Bett und habe darüber nachgedacht, wie ich die Gewichte bewegen könnte.«

Die Ärzte fanden die Vorstellung, ihn an das Trainingsgerät zu lassen, illusionär. Erst auf sein Drängen erklärte sich eine Physiotherapeutin bereit, ihm bei dem Experiment zu helfen. Sie band seine gefühllosen Hände an einer Stange fest, die mit der Aufhängung der schweren Metallscheiben verbunden war. »Es war, als ob ich in einem Stuhl in der Mitte eines Zimmers säße und versuchte, die Möbelstücke durch bloße Willenskraft zu verrücken.«

Nach wochenlangen qualvollen Sitzungen an dem Gerät konnte Martin seine Schultern anheben. Schritt für Schritt kämpfte er darum, ein wenig »Unabhängigkeit und Freiheit« zurückzugewinnen. Um zumindest einmal für eine halbe Stunde das Gefühl von einem selbstständigen Leben zu haben. Beim Lesen etwa: Wenn jemand vor Noel Martin die Zeitung ausbreitet und ihm einen langen löffelähnlichen Holzstab mit Gumminoppen am Ende an den Mund führt, kann er die Seiten selbst umblättern. »Es gäbe zwar auch ein elektrisches Lesegerät, das die Seiten umblättert. Aber das Geld dafür habe ich nicht. Und inzwischen fällt es mir auch schwer, mich auf das Lesen zu konzentrieren. Fernsehen und Videos gucken ist einfacher.«

Außerdem stellen Fernseher und Telefon oft die einzigen Verbindungen zur Außenwelt her. Deshalb steht die Telefonanlage mit Kopfbedienung, Lautsprecherboxen, Mikrofon und Bildschirm an einem zentralen Platz im Wohnzimmer. Durch einen gezielten Ruck mit dem Hinterkopf drückt Noel Martin auf einen in Kopfhöhe angebrachten Sensor und aktiviert den Bildschirm. Auf der Befehlsleiste kann er zwischen Telefon, Fernsehgerät, Video und Lichtschalter wählen. Durch weitere Kopfbewegungen klickt er sich zum Speicher für die Telefonnummern durch und beginnt dann den Wahlvorgang. Das Freizeichen am anderen Ende der Leitung dröhnt aus den Lautsprecherboxen durch den großen Raum.

Wie er das Gefangensein aushält? Noel Martin setzt stockend zum Reden an und sagt dann leise: »Seit Jackies Tod gar nicht mehr.« Fünf Jahre lang hatte seine Lebensgefährtin Jackie Shields seinen Alltag organisiert, den Pflegedienst angerufen, wenn die wechselnden Pflegerinnen mal wieder nicht erschienen, die unzähligen Rechnungen beglichen, das Haus vor dem Verfall bewahrt. Im April dieses Jahres starb sie an Krebs. »Der Steinwurf und der Stress haben sie umgebracht«, sagt Noel.

Seitdem hat er vor allem Angst. Auch wenn Freunde und Verwandte versuchen, ihn täglich zu besuchen und dafür sorgen, dass zumindest der Pflegedienst ihn nicht vergisst. Noel Martin verzweifelt immer öfter an dem Wissen, dass ihn seit Jackies Tod nicht mehr loslässt: »Jetzt bin ich völlig fremden Menschen ausgeliefert.« Fast ein Jahr mussten Noel Martin und Jackie Shields von ihren Ersparnissen, von Spenden und 83 Pfund wöchentlicher Behindertenrente leben, bis das Land Brandenburg mit den Zahlungen begann.

Nach dem Opferentschädigungsgesetz, einst für die Versorgung von kriegsversehrten deutschen Wehrmachtssoldaten gedacht, erhält Noel Martin als »Opfer einer Gewalttat« rund 3 000 Mark Grundrente im Monat vom brandenburgischen Landesamt für Soziales und Versorgung. Hinzu kommen Zahlungen für eine Pflegestelle - doch die ist auf zwölf Stunden täglich begrenzt, und die Pflegekraft kann nicht von Noel Martin direkt angestellt werden. »Das heißt, dass ich, anstatt eine Person meines Vertrauens um mich herum zu haben, mit immer neuen Pflegerinnen konfrontiert bin, die der Pflegedienst schickt«, sagt Noel verbittert. »Das Schlimmste ist das Gefühl, immer auf andere angewiesen zu sein und zum Bettler degradiert zu werden. Dabei haben Jackie und ich hart für unseren Lebensstandard gearbeitet. Warum soll ich jetzt in die Armut zurückkehren!«

Genau das wollte Noel Martin nie. Im Alter von zehn Jahren kam er mit seinen Eltern aus Jamaika nach England. Mit 13 wurde er von der Schule verwiesen und schlug sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs durch. »Manchmal habe ich in Parks geschlafen, wenn das Geld nicht reichte.« Mit einer Ausbildung auf dem Bau und »viel Disziplin« schaffte er schließlich den Sprung in ein etwas besseres Leben.

An diese Zeit erinnern ihn jetzt nur noch Fotos und das Haus, das ihm geblieben ist. Ein Freund bringt ein Fotoalbum: Noel als 20jähriger im Flower-Power-Look mit langen Dreadlocks. Ein anderes Bild zeigt Noel und Jackie zu Pferd bei einem Ausritt. Über viele Jahre gehörte dies für die beiden zum Wochenendritual. Wenn Martin von der Zeit erzählt, als er sich für den Reggae begeisterte, nachts mit Jackie durch die Diskos zog, oder wenn er über seine Liebe zu schnellen Pferden redet, wird seine Stimme lebhaft. Mit der Bemerkung, »jetzt bin ich schwarz und behindert - als wenn Rassismus alleine nicht ausreichen würde, um das Leben zur Hölle zu machen«, beendet Noel den Ausflug in die Vergangenheit.

Dass einer der Täter, Sandro R., inzwischen wieder ein ganz normales Leben führt, Freunde hat, eine Ausbildung macht, hat Martin aus der Zeitung erfahren. Im vergangenen Jahr wurde Sandro R. wegen guter Führung vorzeitig entlasssen, nachdem er zwei Drittel seiner Haftstrafe abgessen hatte. Kontakt zu den Tätern hat Noel nie gehabt. Keine Entschuldigung - auch nicht von offizieller Seite. Erst vor wenigen Wochen verweigerte Mahlows Bürgermeister Werner la Haine einer Gruppe von JungdemokratInnen, die im Mahlower Vereinshaus ein Solidaritätskonzert für Noel Martin veranstalten wollten, jegliche Unterstützung. Die Party fand dann im Nachbarort Blankenfelde statt; in der Nacht danach wurde der Veranstaltungsort von unbekannten Tätern völlig verwüstet.

Und nach wie vor wird im Ort Legendenbildung betrieben. Gern wird ignoriert, dass der heute 28jährige Mario P. noch während des Prozesses Slogans wie »Juden und Nigger an die Wand« an seine Zellenwände gemalt hatte. Sandro R. und Mario P. seien Opfer einer Medienhetze geworden. Oder: Noel Martin sei gegen den Baum gefahren, weil er die beiden verfolgt habe. Eine Version, die der Anwalt von Sandro R. auch heute noch aufrechterhalten will.

Noel Martin denkt nur selten über den Prozess nach. Mit dem Geld könnte er zwar die dringend nötigen Umbau- und Renovierungsarbeiten an seinem Haus bezahlen. Doch im Moment kreisen seine Gedanken um das Buch, das er gemeinsam mit einem Journalisten über sein Leben schreiben möchte, und immer wieder denkt er über das Sterben nach.

Schon vor dem Steinwurf war er immer wieder mit Rassismus konfrontiert: »Mein Großvater wurde in Jamaika von Rassisten enteignet, und rassistische Polizeibrutalität gehört in England genauso zum Alltag wie überall in Europa.« Bei der Frage nach seinen Erfahrungen in Deutschland zögert Noel kurz, bevor er antwortet. Er habe auch gute Erfahrungen mit Deutschen gemacht, sagt er dann, und verweist auf deutsche Freunde und Freundinnen aus seiner Zeit in Mahlow.

Oder auf den Bonner Verein Aktion Cura. Der hat ihm den silbergrauen umgebauten Mercedes-Van vor seine Haustür gestellt, um ihm damit eine Chance zu geben, das Haus zu verlassen. »Leider passt der Rollstuhl nicht in das Fahrzeug, deshalb kann ich ihn nicht nutzen.« Oder auf die Schulkinder einer Schule aus Süddeutschland, die ihm regelmäßig schreiben und selbstgebastelte Geschenke schicken.

Und Sandro R. und Mario P., die im Dezember 1996 vom Landgericht Potsdam zu fünf und acht Jahren Haft verurteilt wurden? »Bevor Jackie gestorben ist, habe ich kaum an die beiden Täter gedacht. Ich habe mich darauf konzentriert, für Jackie zu leben.« Und seit ihrem Tod? »Ich habe keine Gefühle für sie. Aber es gibt auch keine angemessene Strafe. Was sind schon einige Jahre Gefängnis im Vergleich zur lebenslangen Gefangenschaft in einem Rollstuhl?«

Noel glaubt nicht, dass Sandro R. und Mario P. in der Haft etwas gelernt haben. »Wo auch und von wem? Wenn ich im Fernsehen die Bilder von den Aufmärschen der Neonazis in Deutschland sehe und den Polizeischutz, der sie umgibt, dann denke ich immer daran, dass diese kahlgeschorenen Jungen Eltern und Lehrer haben, die offensichtlich nichts unternehmen, um ihre Ideologie und ihr Denken zu verändern.« Die Fernsehberichterstattung und Erzählungen von Bekannten bestärken Noel in der Überzeugung, dass Rassismus in Deutschland gesellschaftlich tief verankert ist. »Da helfen härtere Gesetze überhaupt nichts.«